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Jede Regierung macht Mißvergnügte. Die Republik oder das öffentliche Ding erweckte solche zuerst unter den Adligen, die ihrer alten Privilegien beraubt waren und mit Kummer und Hoffnung auf den letzten Drakoniden blickten, den Prinzen Crucho, den die Anmut der Jugend zierte und die Traurigkeit des Exils. Mißvergnügte weckte die Republik auch unter den Kleinkrämern, die aus sehr tiefen ökonomischen Gründen ihren Lebensbedarf nicht mehr verdienten und wähnten, dies sei die Schuld der Republik. Anfangs hatten sie sie verehrt, nun wurden sie ihr von Tag zu Tag fremder.
Die Geldleute wurden, ob Christen oder Juden, durch ihre Unverschämtheit und Habgier die Geißel eines Landes, das sie plünderten und erniedrigten, und der Skandal einer Regierungsform, die sie weder zu zerstören noch zu erhalten trachteten, da sie überzeugt waren, unter allen Regierungen ungehemmt schalten zu können. Indessen waren ihre Sympathien der absolutesten Gewalt zugekehrt, die am besten gegen die Sozialisten bewaffnet war, ihre ärmlichen, jedoch glühenden Widersacher. Und ebenso wie sie die Sitten der Aristokraten nachahmten, ahmten sie ihre politischen und religiösen Gesinnungen nach. Ihre Frauen besonders, die eitel und frivol waren, liebten den Prinzen und träumten davon, zu Hofe zu gehen.
Doch behielt die Republik noch Parteigänger und Schützer. Wenn sie an die Treue ihrer Beamten nicht glauben durfte, konnte sie auf die Ergebenheit der Handarbeiter zählen, deren Elend sie nicht gelindert hatte, und die, um sie in den Tagen der Gefahr zu verteidigen, in Massen aus Steinbrüchen und Arbeitshäusern kamen und in langer Reihe, abgezehrt, schwarz, finster, vorüberzogen. Sie alle wären für die Republik gestorben; sie hatte sie hoffen lassen.
Nun lebte unter dem Prinzipat Theodors, des schönen Mannes, in einer friedlichen Vorstadt von Alka ein Mönch namens Agaric, der Kinder unterrichtete und Heiraten schloß. In seiner Schule lehrte er die jungen Söhne der alten Familien von glanzvoller Geburt, die ihrer Güter wie ihrer Privilegien verlustig waren, Frömmigkeit, Fechten und Reiten. Und wenn sie das Alter dazu hatten, vermählte er sie mit den jungen Mädchen aus der reichen, mißachteten Kaste der Geldleute.
Groß, mager, schwarz wandelte Agaric, sein Brevier in Händen, unablässig in den Korridoren der Schule und den Gängen des Küchengartens, nachdenklich, mit sorgenbeladener Stirn. Er beschränkte seine Tätigkeit nicht darauf, daß er seinen Schülern dunkle Doktrinen und mechanische Vorschriften eingeprägt und ihnen später legitime, reiche Frauen gab. Er hegte politische Pläne und suchte die Verwirklichung eines riesenhaften Traumes. Der Gedanke unter seinen Gedanken, das Werk unter seinen Werken war, die Republik zu stürzen. Nicht ein persönliches Interesse bewog ihn. Nach seinem Urteil war der demokratische Staat der heiligen Gesellschaft zuwider, der er mit Leib und Seele angehörte. Und alle seine Ordensbrüder waren ebenso gesinnt. Die Republik lag in beständigem Kampf mit der Kongregation der Mönche und der Versammlung der Gläubigen. Zweifellos war die Verschwörung zum Tod der neuen Regierungsform ein schwieriges, gefährliches Unternehmen. Wenigstens war Agaric imstande, eine furchtbare Verschwörung zu entwerfen. In jener Epoche hatte dieser Mönch, da die Orden die höheren Klassen Pinguiniens lenkten, auf die Aristokratie von Alka einen tiefen Einfluß.
Die Jugend, die er gebildet hatte, erwartete nur den Zeitpunkt, wo man gegen die Volksmacht vorrücken sollte. Die Söhne der alten Familien pflegten die Kunst nicht und gaben sich mit Geschäften nicht ab. Sie waren fast sämtlich Militärs und dienten der Republik. Sie dienten ihr, doch sie liebten sie nicht. Sie sehnten sich nach dem Drachenkamm. Und die schönen Jüdinnen teilten ihr Sehnen, damit man sie für adlige Christinnen hielt.
Eines Julitags ging Agaric durch eine Vorstadtstraße, die in staubigem Feld endete, und hörte Klagen, die aus einem von Moos bewucherten, durch die Gärtner verlassenen Schacht emporstiegen. Und alsbald erfuhr er von einem Schuhflicker aus der Nachbarschaft, daß ein schlechtgekleideter Mann gerufen hatte: »Es lebe das Öffentliche Ding!«, und daß ihn dann vorbeireitende Kavallerieoffiziere in den Schacht warfen, worinnen ihm der Schlamm bis über die Ohren quoll. Gern verlieh Agaric einem vereinzelten Geschehnis allgemeine Bedeutung. Daraus, daß der Dingerich hinabgestoßen worden war, schloß er auf eine mächtige Gärung in der ganzen aristokratischen und militärischen Kaste, und nun war er überzeugt, daß der Moment zu handeln gekommen sei.
Am nächsten Tage schon besuchte er, tief im Kaninchenwald, den guten Pater Cornemuse. Er fand den Mönch, wie er in einem Winkel seines Laboratoriums einen goldenen Likör abzog.
Es war ein dickes, kurzes Männchen, mit zinnoberroter Haut und wundervoll blankem Schädel. Er hatte rubinrote Augäpfel wie die Meerschweinchen. Freundlich grüßte er seinen Gast und bot ihm ein Gläschen »Likör der heiligen Orberose,« den er fabrizierte, und dessen Verkauf ihm ungeheuren Reichtum verschaffte.
Agaric lehnte mit einer Handbewegung ab. Dann stellte er sich breit hin auf seine langen Füße, preßte seinen schwermutsvollen Hut gegen den Bauch und schwieg hartnäckig still.
»Seien Sie doch so gütig, sich zu setzen,« sprach Cornemuse zu ihm. Agaric setzte sich auf einen lahmen Schemel und blieb stumm.
Dann meinte der Mönch aus dem Kaninchenwald:
»Sagen Sie mir bitte, was es von Ihren jungen Zöglingen Neues gibt. Sind die lieben Kinder fromm?«
»Ich bin mit ihnen sehr zufrieden,« antwortete der Lehrer. »Alles kommt darauf an, daß man in guten Prinzipien aufwächst. Denn nachher ist es zu spät ... Um mich her finde ich reiche Trostgründe. Aber wir leben in einer traurigen Epoche ...«
»Ach ja!« seufzte Cornemuse.
»Wir machen schlimme Tage durch ...«
»Stunden der Prüfung.«
»Indessen, Cornemuse, ist der öffentliche Geist nicht ganz so verdorben wie es scheint.«
»Möglich.«
»Das Volk ist einer Regierung müde, die es ruiniert und nichts zu seinem Wohl tut. Alltäglich brechen neue Skandale aus. Die Republik ertrinkt in der Schande. Sie ist verloren.«
»Gebe es Gott!«
»Cornemuse, was halten Sie von dem Prinzen Crucho?«
»Er ist ein liebenswerter junger Mann und, wenn ich so sprechen darf, der würdige Sproß eines erhabenen Stammes. Ich beklage ihn, daß er in so zartem Alter den Schmerz des Exils erfährt. Für den Verbannten hat der Lenz keine Blume, der Herbst keine Frucht. Prinz Crucho ist fromm gesinnt. Er achtet die Priester, er übt die Bräuche unsrer Religion. Er hat eine große Menge meiner kleinen Erzeugnisse konsumiert.«
»Cornemuse, an vielen Herden, der Reichen wie der Armen, wünscht man seine Rückkehr. Glauben Sie mir, er kehrt zurück!«
»O möchte ich nicht sterben, bevor ich meinen Mantel unter seine Schritte gelegt habe,« ächzte Cornemuse.
Da er diese Gesinnungen bei ihm gewahrte, beschrieb Agaric ihm den Zustand der Geister, wie er ihm selbst vorschwebte. Er zeigte ihm den Adel und die Reichen gegen die Volksherrschaft erbittert. Die Armee weigere sich, neuen Schimpf zu schlucken, die Beamten seien zum Verrat bereit, das Volk mißvergnügt. Schon grolle der Aufruhr, und die Feinde der Mönche, die Helfershelfer der Macht, würden in die Brunnen von Alka geworfen. Er schloß, der Moment zu einem großen Handstreich sei da.
»Wir können,« rief er, »das Pinguinenvolk retten, es von seinen Tyrannen, es von ihm selbst befreien, den Drachenkamm wiedereinsetzen, den alten Staat, den guten Staat erneuern, zur Ehre des Glaubens und zur Erhöhung der Kirche. Wir können, wenn wir wollen. Wir besitzen große Schätze und üben manchen Einfluß aus. Durch unsere Zeitungen, die das Kreuz tragen und den Bannstrahl schleudern, stehen wir mit allen Geistlichen in Stadt und Land in Verbindung und blasen ihnen den Enthusiasmus ein, der uns erhebt, den Glauben, der uns verzehrt. Sie werden ihre Büßer und Gläubigen damit entflammen. Ich verfüge über die höchsten Chefs der Armee. Ich habe im niederen Volke Anhang. Ohne, daß sie es wissen, leite ich Schirmhändler, Weinwirte, Kommis in Modemagazinen, Zeitungskolporteure, galante Dämchen und Polizisten. Wir haben mehr Leute, als wir brauchen. Worauf warten wir? Wir wollen handeln!«
»Was haben Sie im Sinn?« fragte Cornemuse.
»Eine große Verschwörung, den Sturz der Republik und Cruchos Wiedereinsetzung auf den Drakonidenthron.«
Cornemuse fuhr sich mehrmals mit der Zunge über die Lippen. Dann sprach er salbungsvoll:
»Gewiß, die Wiedereinsetzung der Drakoniden ist zu wünschen. Sie ist in ganz hervorragendem Maße zu wünschen. Und mir für mein Teil wäre sie innig willkommen. Was ich von der Republik halte, das wissen Sie ja ... Aber wäre es nicht besser, man überließe sie ihrem Schicksal, auf daß sie an ihren konstitutionellen Lastern sterbe? Ihr Vorschlag, Agaric, ist zweifellos edel und hochherzig. Schön wäre es, dieses große, unglückliche Land zu retten, seinen Glanz von einst wiederherzustellen. Doch bedenken Sie: wir sind noch mehr Christen als Pinguine. Und wir müssen uns hüten, die Religion durch politische Unternehmungen zu kompromittieren.«
Lebhaft entgegnete Agaric:
»Fürchten Sie nichts. Wir werden alle Fäden des Komplotts halten, aber im Schatten bleiben. Man wird uns nicht sehen.«
»Wie Fliegen in der Milch,« brummte der Mönch aus dem Kaninchenwald.
Und seine schlauen, rubinroten Augen glitten über seinen Genossen hin:
»Seien Sie auf der Hut, Freund. Die Republik ist vielleicht stärker, als es scheint. Auch festigen wir möglicherweise ihre Kraft, wenn wir sie aus dem weichen Schlummer holen, in dem sie zur Stunde ruht. Ihre List ist groß; wenn wir sie angreifen, wird sie sich verteidigen. Sie macht schlechte Gesetze, die uns nicht treffen; hat sie Angst, so wird sie furchtbare Gesetze schmieden – gegen uns. Wir wollen uns nicht leichthin in ein Abenteuer begeben, in dem wir unsere Federn lassen können. Die Gelegenheit ist günstig, denken Sie; ich glaube es nicht, und ich will Ihnen sagen, warum. Die gegenwärtige Regierung ist noch nicht jedem und fast niemandem bekannt. Sie proklamiert, daß sie das Öffentliche Ding ist, die gemeinsame Sache. Das Volk glaubt es und bleibt demokratisch und republikanisch. Doch Geduld! Dieses selbe Volk wird eines Tags fordern, daß das Öffentliche Ding wirklich die Sache des Volkes sei. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sehr solche Ansprüche mir dreist, zügellos und der der Heiligen Schrift entnommenen Politik zuwider scheinen. Doch das Volk wird die Ansprüche stellen, wird sie zur Geltung bringen, und dies wird das Ende der gegenwärtigen Regierung sein. Lange kann es nicht mehr dauern. Dann werden wir im Interesse unsrer erhabenen Körperschaft handeln müssen. Wir wollen warten! Wer drängt uns denn? Unsere Existenz ist nicht in Gefahr. Sie wird uns nicht absolut unerträglich gemacht. Die Republik läßt es an Achtung und Demut gegen uns fehlen; sie erweist den Priestern die gebührenden Ehren nicht. Aber sie läßt uns leben. Und so ausgezeichnet sind die Verhältnisse unseres Standes, daß für uns Leben Wohlfahrt heißt. Das Öffentliche Ding ist uns feind, aber die Frauen verehren uns. Der schöne Theodor, der Präsident, wohnt der Feier unsrer Mysterien nicht bei; aber ich habe seine Frau und seine Töchter mir zu Füßen gesehen. Sie kaufen meine Fläschchen im großen. Ich habe keine besseren Kundinnen, nicht einmal in der Aristokratie. Wir wollen uns darüber klar sein: es gibt kein Land in der Welt, das für Priester und Mönche so gut ist wie Pinguinien. In welcher anderen Gegend könnten wir unser Jungfernwachs, unseren Männerweihrauch, unsere Rosenkränze, unsere Skapuliere, unser Weihwasser und unseren Likör der heiligen Orberose so reichlich und so gut verkaufen? Welches andere Volk würde wie die Pinguine hundert Goldtaler für einen Wink unserer Hand, einen Klang aus unserem Mund, eine Bewegung unserer Lippen zahlen? Ich für mein Teil verdiene hundertmal mehr in diesem sanften, treuen, gelehrigen Pinguinien, wenn ich die Essenz eines Fasses Quendel abziehe, als wenn ich mir die Lungen ausschreie und vierzig Jahre lang in den bevölkertsten Staaten Europas und Amerikas den Sündenablaß predige. Ehrlich gesprochen, wird Pinguinien glücklicher sein, wenn ein Polizeikommissar mich hier wegholt und in ein Dampfboot bringt, das eben zu den Inseln der Nacht fährt?«
Nach diesen Worten stand der Mönch aus dem Kaninchenwald auf und führte seinen Gast unter einen riesigen Schuppen, wo Hunderte von blau gekleideten Waisenknaben Flaschen verpackten, Kisten zunagelten, Etiketten aufklebten. Das Ohr wurde vom Lärm der Hämmer betäubt, in den sich das dumpfe Dröhnen der Ballen über die Schienen mischte.
»Hier wird expediert,« sagte Cornemuse. »Die Regierung hat mir eine Eisenbahn durch den Wald und eine Station vor meiner Tür bewilligt. Täglich fülle ich drei Wagen mit meinem Erzeugnis. Sie sehen, daß die Republik nicht allen Glauben getötet hat.«
Agaric machte eine letzte Anstrengung, um den weisen Schnapsbrenner in das Unternehmen hineinzuziehen. Er redete ihm von einem glücklichen, schnellen, gewissen, schlagenden Erfolg.
»Wollen Sie nicht mitwirken?« fügte er hinzu. »Wollen Sie nicht Ihren König aus der Verbannung befreien?«
»Die Verbannung ist süß für den, der guten Willens ist,« entgegnete der Mönch aus dem Kaninchenwald. »Wenn Sie mir folgen wollen, sehr teurer Bruder Agaric, so verzichten Sie für jetzt auf Ihren Plan. Ich mache mir keine Illusion. Ich weiß, was meiner harrt. Ob ich nun bei der Partie bin oder nicht, wenn Sie sie verlieren, so werde ich wie Sie bezahlen.«
Der Bruder Agaric verabschiedete sich von seinem Freund und ging befriedigt nach seiner Schule zurück. »Cornemuse«, dachte er, »wird, da er das Komplott nicht hindern kann, ihm Erfolg wünschen und Geld geben.« Agaric irrte sich nicht. So stark war der Zusammenhang von Priestern und Mönchen, daß die Taten eines einzigen von ihnen sie alle verpflichteten. Das war zugleich der beste und der schlimmste Punkt in ihrem Handel.