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Indes ein Wind des Zornes und des Hasses durch Alka schnob, saß Eugen Bidault-Coquille, der ärmste und glücklichste aller Sterngucker, in einer alten Baracke aus der Drakonidenzeit. Er betrachtete den Himmel durch ein schlechtes Fernrohr und verzeichnete auf mißratenen photographischen Platten die Sternschnuppendurchgänge. Sein Genie verbesserte die Fehler der Instrumente, und seine Liebe zur Wissenschaft triumphierte über die Erbärmlichkeit seiner Apparate. Mit unauslöschlichem Eifer beobachtete er Aerolithen, Meteoriten, Boliden, all die glühenden Splitter, all den lodernden Staub, die mit wunderbarer Schnelligkeit den irdischen Luftkreis durchqueren, und erntete zum Lohn seiner wachsamen Studien die Gleichgültigkeit des Publikums, die Undankbarkeit des Staates, die Abneigung der gelehrten Körperschaften. In den Himmelsraum versunken, wußte er von den zufälligen Geschehnissen der Erdoberfläche nichts. Nie las er Zeitungen, und wenn er durch die Stadt ging, im Geist mit den November-Asteroiden beschäftigt, so geriet er mehr als einmal in das Blumenbecken eines öffentlichen Gartens oder unter die Räder eines Omnibus.
Von hohem Wuchs und hohem Gedankenflug, hatte er vor sich selbst und seinen Mitmenschen eine Achtung, die sich durch kalte Höflichkeit kundgab, sowie durch einen sehr dünnen schwarzen Rock und einen Zylinder, unter dem seine Person das Gepräge erhabener Abgezehrtheit empfing. Er speiste in einer kleinen Wirtschaft, die von allen Kunden, die weniger spiritualistisch waren als er, gemieden wurde. Dort ruhte seine Serviette mit dem Schiebering aus Buchsbaumholz hinfort vereinsamt im öden Fache. In dieser Garküche kam ihm eines Abends die Denkschrift Colombans zu Pyrots Gunsten vor die Augen. Er las sie, als er hohle Haselnüsse knackte, und plötzlich vergaß er, von Staunen, Bewunderung, Schreck und Mitleid berauscht, Meteorfälle und Sternenregen und sah nur den Unglücklichen, den der Sturm in seinem Käfig schaukelte, worauf die Raben hockten.
Das Bild wich nicht mehr von ihm. Acht Tage schon war er von dem Gedanken an den unschuldig Verurteilten besessen. Da sah er eines Abende, als er aus seiner Garküche wegging, einen Haufen von Bürgern in eine Kneipe strömen, worin eine Volksversammlung stattfand. Er trat ein. In der Versammlung war die Diskussion freigegeben. Im rauchigen Saal heulte man, man beschimpfte einander und schlug einander tot. Pyrotiner und Antipyrotiner redeten, je nachdem unter Beifallsklatschen oder Wutgezisch. Ein dunkler, verworrener Enthusiasmus bemächtigte sich der Teilnehmer. Mit der Kühnheit der scheuen, einsamen Menschen sprang Bidault-Coquille auf die Tribüne und redete dreiviertel Stunden lang. Er sprach sehr rasch, ohne Ordnung, doch mit Wucht und mit der vollen Überzeugung eines mystischen Mathematikers. Man klatschte Beifall. Als er die Tribüne verließ, warf sich ein großes Weib unbestimmten Alters ganz in Rot gekleidet, mit heroischen Federn auf dem Hut, glühend und feierlich auf ihn, umschlang ihn und sagte:
»Sie sind schön!«
In seiner Einfalt dachte er, daran müsse schon etwas Wahres sein.
Sie erklärte ihm, sie lebe nur noch der Verteidigung Pyrots und dem Kult des Colomban. Er fand sie erhaben und glaubte, sie sei schön. Sie hieß Maniflore und war eine alte, arme, vergessene Kokotte, die außer Gebrauch gekommen, plötzlich eine große Bürgerin geworden war.
Sie hing sich an ihn, und sie schenkte ihm unvergeßliche Stunden in Kneipen und möblierten Zimmern, die ganz verwandelt schienen, in Redaktionsstuben, in Versammlungs- und Beratungssälen. Als Idealist wähnte er hartnäckig, sie sei der Anbetung wert, obwohl sie ihm reichliche Gelegenheit gab, zu bemerken, daß sie an keiner Stelle, in keiner Hinsicht mehr Reize besaß. Von ihrer entschwundenen Schönheit waren ihr nur die Sicherheit, zu gefallen, und der unerschütterliche Anspruch auf Huldigungen verblieben. Indes muß man einräumen, daß dieser wunderträchtige Fall Pyrot Maniflore mit einer gewissen Bürgerinnen-Hoheit umgürtete und sie in den Volksversammlungen zu einem hehren Bild der Gerechtigkeit und der Wahrheit erhob.
In keinem Anti-Pyrotiner, in keinem Verteidiger Greatauks, in keinem Anhänger des Säbels rief Bidault-Coquille auch nur den leisesten Spott wach, auch nur ein bißchen Heiterkeit. Die Götter hatten in ihrem Zorn diesen Menschen die köstliche Gabe, zu lächeln, verwehrt. Ernst klagten sie die Buhle und den Sterngucker der Spionage, des Verrats, des Komplotts gegen das Vaterland an. Bidault-Coquille und Maniflore wuchsen zusehends unter der Unbill, dem Schimpf, der Verleumdung.
Seit langen Monaten war Pinguinien in zwei Lager geteilt, und was auf den ersten Blick sonderbar anmuten kann, die Sozialisten hatten noch nicht Partei ergriffen. Ihre Gruppen umfaßten beinah alle Handarbeiter des Landes, eine zerstreute, wirre, gebrochene, zerrissene, doch furchtbare Macht. Der Fall Pyrot bereitete den Hauptführern der Gruppen . eine seltsame Wahl der Qual; sie hatten ebensowenig Lust, sich mit den Gelehrten zu verbünden, wie mit den Soldaten. Die großen und kleinen Juden galten ihnen als unauflösliche Feinde. Bei diesem Fall standen ihre Grundsätze nicht auf dem Spiel, ihre Interessen waren nicht in Mitleidenschaft gezogen. Doch empfanden sie größtenteils, wie schwer es wurde, Kämpfen fern zu bleiben, in die ganz Pinguinien sich stürzte.
Die Obergenossen versammelten sich in der Genossenschaftszentrale, in der Straße Teufelsschwanz – Sankt Maël, um ihr Verhalten in den gegenwärtigen Umständen und bei den künftigen Möglichkeiten zu beraten.
Zuerst nahm der Genosse Phönix das Wort:
»Ein Verbrechen,« sprach er, »ist begangen worden, das hassenswerteste und feigste aller Verbrechen. Militärrichter haben, durch ihre Chefs in der Hierarchie gezwungen oder betrogen, einen Unschuldigen zu entehrender, grausamer Strafe verurteilt. Sagen Sie nicht, das Opfer gehöre nicht zu uns, es gehöre zu einer Kaste, die uns feindlich war und immer feindlich sein wird. Unsre Partei ist die Partei der sozialen Gerechtigkeit; keine Unbill darf ihr gleichgültig sein.
Welche Schande für uns, wenn wir einen Radikalen, den Kerdanic, einen Bürger, Colomban, und etliche gemäßigte Republikaner allein die Verbrechen des Säbels ahnden ließen. Wenn das Opfer auch keiner von den Unsrigen ist, so sind seine Henker doch die Henker unsrer Brüder, und bevor Greatauk einen Soldaten sich aussuchte, hat er unsre streikenden Kameraden niederknallen lassen.
Genossen, durch eine große, geistige, moralische und materielle Anstrengung werdet ihr Pyrot der Folter entreißen. Und wenn ihr diese edle Tat vollbringt, werdet ihr euch von dem befreienden, revolutionären Ziel, das ihr euch gestellt habt, nicht abwenden, denn Pyrot ist der Begriff des Unterdrückten geworden, und alle soziale Unbill hängt zusammen. Wenn man eine zerstört, erschüttert man jede andere.«
Als Phoenix geendet hatte, sprach der Genosse Sapor folgendermaßen:
»Man rät euch, euer Ziel preiszugeben, um einer Angelegenheit willen, mit der ihr nichts zu schaffen habt. Warum wollt ihr euch in ein Handgemenge verrennen, in dem ihr, zu welchem Heer ihr euch auch schlägt, nur natürliche, unauflösliche, notwendige Widersacher findet? Sind die Geldleute für euch weniger hassenswert als die Soldaten? Welche Kaste wollt ihr retten, die der Stehaufmännchen von der Bank oder die der Hanswürste von der Revanche? Welche törichte, verbrecherische Großmut soll euch den siebenhundert Pyrots zu Hilfe eilen lassen, die ihr im sozialen Krieg stets euch gegenüber findet?
Man mutet euch zu, unter euren Feinden die Polizei zu spielen und die Ordnung wiederherzustellen, die ihre Verbrechen gestört haben. Wenn man die Großmut in dem Grade übertreibt, dann bekommt sie einen anderen Namen.
Genossen, es gibt einen Grad, an dem die Ruchlosigkeit für eine Gesellschaft tödlich wird. Die pinguinische Bourgeoisie erstickt in ihrer Ruchlosigkeit, und man verlangt von euch, ihr solltet sie retten, die Luft um sie atembar machen. Das heißt euch verhöhnen.
Wir wollen sie krepieren lassen und mit freudigem Ekel ihre letzten Zuckungen betrachten, mit Bedauern nur darüber, daß sie den Boden, auf dem sie errichtet war, so tief verdorben hat, daß wir für die Grundlage unserer neuen Gesellschaft nur verseuchten Schlamm finden werden.«
Als Sapor mit seiner Rede fertig war, sprach der Genosse Lapersonne die wenigen Worte:
»Phönix will, wir sollten dem Pyrot helfen, weil Pyrot unschuldig ist. Dies scheint mir ein sehr schlechter Grund. Wenn Pyrot unschuldig ist, so hat er sich als guter Soldat benommen und stets gewissenhaft sein Handwerk ausgeübt, das vor allem im Schießen aufs Volk besteht. Darum braucht das Volk noch nicht ihn allen Gefahren zum Trotz zu verteidigen. Wenn man mir beweist, daß Pyrot schuldig ist und das Heu der Armee gestohlen hat, dann will ich für ihn losgehn.«
Nun nahm der Genosse Larrivée das Wort:
»Ich bin nicht der Ansicht meines Freundes Phönix, ebensowenig der meines Freundes Sapor. Ich glaube nicht, daß die Partei sich für eine Sache festzulegen hat, sobald man uns sagt, daß eine Sache gerecht ist. Ich fürchte, da liegt ein ärgerlicher Wortmißbrauch und eine gefährliche Zweideutigkeit vor. Denn die soziale Gerechtigkeit ist nie die revolutionäre Gerechtigkeit. Sie beide stehen in unablässigem Gegensatz; der einen dienen heißt die andere bekämpfen. Meine Wahl ist getroffen; ich bin für die revolutionäre Gerechtigkeit gegen die soziale. Und doch tadle ich in der jetzigen Frage die Enthaltung. Wenn das günstige Schicksal uns einen Fall wie diesen beschert, so müßten wir Esel sein, wollten wir ihn nicht ausnutzen.
Wie? Es bietet sich uns die Gelegenheit, dem Militarismus furchtbare, vielleicht tödliche Stöße zu versetzen. Und Sie meinen, ich sollte die Arme kreuzen? Ich erkläre euch, Genossen, ich bin kein Fakir. Ich werde niemals bei der Partei der Fakire sein; wenn es hier Fakire gibt, sollen sie auf meine Gesellschaft nicht zählen. Die Politik, sich den Nabel zu beschauen, ist eine unfruchtbare Politik, die ich nie mitmachen werde.
Eine Partei wie die unsrige muß sich immer bejahen; durch ununterbrochene Aktien muß sie von ihrem Dasein zeugen. Wir werden in den Fall Pyrot eingreifen; aber das wird auf revolutionärem Wege geschehen; wir werden eine Aktion der Gewalt beginnen .... Glaubt ihr, die Gewalt sei ein altes Verfahren, eine überlebte Erfindung, die man mit den Postkutschen, der Handpresse und dem Lufttelegraphen in die Ecke schmeißen müsse? Da irrt ihr euch. Heute wie gestern bekommt man nur durch Gewalt etwas. Sie ist das wirksamste Mittel; man muß nur verstehen, sie anzuwenden. Welcher Art wird unsere Aktion sein? Ich will's euch sagen: Wir werden die leitenden Klassen wider einander Hetzen, die Armee wider die Finanz, die Regierung wider die Beamtenschaft, Adel und Geistlichkeit wider die Juden, wir müssen sie womöglich zu gegenseitiger Zerstörung reizen. Wir müssen die Erregung nähren, die die Regierungen schwächt, wie das Fieber die Kranken erschöpft.
Der Fall Pyrot wird, wenn wir ihn nur ein bißchen auszuschlachten wissen, das Wachstum der sozialistischen Partei, die Emanzipation des Proletariats durch Abrüstung, Generalstreik und Revolution um zehn Jahre beschleunigen.«
Nachdem von den Parteiführern dergestalt jeder eine andere Meinung geäußert hatte, ging die Diskussion nicht ohne Ungestüm fort. Wie es in solchen Fällen immer ist, wiederholten die Redner die Gründe, die sie schon vorgebracht hatten, und legten sie mit weniger Ordnung und Maß dar, als das erstemal. Lange stritten sie, und niemand ließ von seiner Ansicht. Doch bei letzter Untersuchung waren diese Meinungen auf zwei zu beschränken, auf die des Sapor und des Lapersonne, die zur Enthaltung rieten, und die des Phönix und des Larrivée, die intervenieren wollten. Dabei vereinten sich die beiden entgegengesetzten Ansichten im Haß gegen die militärischen Chefs und ihre Gerechtigkeit und im Glauben an Pyrots Unschuld. Die Öffentlichkeit täuschte sich also nicht, wenn die sozialistischen Führer ihr als sehr schlimme Pyrotiner galten.
Die tiefen Schichten, in deren Namen sie sprachen, und die sie soweit vertraten, als das Wort Unfaßliches vertreten kann, die Proletarier, deren Gedanke schwer zu erkennen ist, weil sie ihn selbst nicht kennen, schienen sich um den Fall Pyrot nicht zu bekümmern. Er war für sie zu literarisch, zu sehr im klassischen Geschmack, mit einer großbourgeoisen und börsianischen Färbung, die ihnen nicht gefiel.