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Von vielen Füßen fasrig gekehlt führten Stufen zu einer weißen Tür, zwischen deren Barockzierden ein Messingschild steil stand. Die Klingel schrillte, und einen Augenblick schien es Kai, als stürze auf ihren Ton aus jeder Fensternische, jedem Winkel der Treppe die Schar geschäftig geröteter Antlitze auf ihn zu – nicht auszumachen, ob abwehrend oder ermahnend –; doch schon schlürfte Schritt, und der Öffnende war der Beste: Hans Schirmer.
»Du, Kai ...!« Und durch die schiefhängende Nickelbrille schoß stumpf und hilflos der schwärzliche Blick, kaum mit Licht besteckt durch Erstaunen.
»Ja, ich, alter Freund. Nach dir zu schaun, zwang mich mein Herz. Wie? Lange nicht gesehen? – Und so also ...?« Da nun Kais Blick das Sekretariat überflog: gedehnte Holztische, papierüberhäuft; eine Schreibmaschine, über deren nickelnen Rand starr ein Foliobogen drohte; Aktenmappen, grüne und rote; Schnellhefter, hastig in Fächer geschoben oder zu Stößen auf einen Stuhlsitz gehäuft; kalter Zigarrenrauch; – und nun, weil in diese Umschau nur das Knarren von Schirmers Schuh lauthaft griff: »Allein?«
»Mittagspause. Ich habe allein Dienst.«
»Und ... es gefällt dir? – Nicht wahr, du rauchst? Hier! Wir dürfen doch rauchen?« Und auf die zusagende Gebärde: »Man weiß nicht, solche Bureaus, nicht? Es ist so verschieden?«
»Freilich ...«
Aber trotzdem nun Rauch friedlich sich drehend emporstieg, blieb jener dort gar zu erwacht, wartend, Ungläubiger sonderzwecklosen Besuchs. Doch Kai trieb langsam sein Spiel, legte Schlingen, paffte so friedlich. »Und wenn ich nun denke: du schon in Brot und Beruf, ich auf der Penne ... Weißt du noch, unser Garten ...? ... Wir schossen nach der Scheibe ... Beinahe wurdest du König, schossest gut, trotz deiner Augen.«
»Wie lange ...«
»Endlos lange her. Dann das Radeln. Nach Taubenheim der Ausflug, als ich über die Lenkstange schoß. Um die kiesig zerkrallten Hände schlangst du mir Lappen, aus den Hemden gefetzt; sticheltest die Hosenknie zusammen ...«
Kai sah schräg durch das Fenster, wo droben zwischen dem Gezackten eines Daches wenig Winterhimmel grau stand. Ein kleines, ermüdetes Widerstreben, Zweifel am Wert von Schlingen, dann doch neuer Versuch: »Wir sind gute Freunde gewesen, nicht? Und geblieben! Das vergißt sich nicht ...?«
»Nein ...«
»Natürlich nein! Daß ich frage! Versteht sich! Wir ließen uns nie im Stich, stets war Freundespflicht erstes Gebot. Beispielsweise, als du ... wie war es doch? Im Augenblick ist's mir entfallen. Nun, ganz egal ... Du weißt schon ...«
»Ja ...«
»Und das bleibt so, nicht wahr? – Ich sehe dir ja an, Hans, du wartest. Denkst, wieviel Vorreden! Nun ja, unter Freunden ist Offenheit Bedingung ...«
Kai verhielt, prüfte den Blick, zögernd dann: »Also eine kleine Bitte ... eine Kleinigkeit ... Aber nun rede doch! Willst du nicht? Du sitzt da, Ölgötze, als wolltest du nicht!«
»Ich weiß ja noch gar nicht ...«
»Es ist nur wegen der Handschrift, mußt du wissen ... eine Kleinigkeit, Scherz allein, so ein Spaß ...«
»... Handschrift ...?«
»Nun ja natürlich, wegen der Handschrift! Verstehe doch! Nein, Mensch, wie umständlich bist du geworden? Macht das der Beruf?«
»Handschrift ...?«
Er sah Kai an, sank wieder zusammen.
»Nun was denn? Handschrift! Rede doch nicht so, bloßer Scherz sage ich dir, nichts, so gewichtig zu starren; jeder Freund tät's dem andern zugut – oder nicht?!«
»Doch, natürlich, Kai! Ich sage ja gar nicht, daß ich nicht will. Nur weiß ich nicht ...«
»Ach, nichts weiter, nur einen Brief sollst du schreiben für mich ... So, setze dich da an das Pult ... Ihr habt Umschläge und Bogen ohne Aufdruck? – Also gut! Du brauchst nicht so schön zu schreiben: eine Gebrauchshand, wie sie jeder haben könnte, je unauffälliger, je besser. – – – Erst die Adresse: ›Frau Lorenz, hier, Marktstraße 67, 2 Treppen.‹ Keinen Absender ... Zum Donner! Wer hat dir gesagt, daß du einen Absender auf den Umschlag schreiben sollst! Das fängt ja reizend an. Also noch einmal ... Nun der Brief selbst ... Halt! Schreib noch auf den Umschlag: ›Hochwohlgeboren!‹«
Er sah vor sich hin, ein kleiner Triumph wollte in ihm aufgehen, da er dieses letzte Wort als eine Demütigung mehr hinzuwarf, doch schnell kam Trübheit, taubes Gefühl erfüllte die Brust, und jenes Wort hinten, ruckweis sich nähernd, unvermeidlich, schuf aus Scham Begierde zu trotzigen Gesten. Dennoch zu sich: ›Schmerz? Nein. Aber so fremd ... als wenn ich mich verlaufen hätte, rettungslos von mir fort ...‹
»Doch nun den Brief. Kein Ort. Kein Datum. Oder halt! Wie sagt man auf Drucksachen ...? Na?«
Und hob stärker atmend die Brust, zwang sich hoch, sah um sich, sann, lächelte dann: »Datum des Poststempels. Schreib: ›Datum des Poststempels.‹ Guter Witz! – – – Und nun der Text:« Aber er redete nicht. Es war, als überschlüge sich eine Welle, dunkel. Dann klang Klavier irgendwoher, sechs, acht Töne, immer die gleichen. Stolprig. Hart. Ungeschickt.
›Ein kleines Mädchen übt ... Muß ich es denn tun ...? Wie sie eifrig ist und fleißig! Wieder stolpert sie. Umsonst ... Dein Eifer umsonst ..., alles ist umsonst gewesen, kleines Mädchen, am Ende dann ...‹
War es nicht wieder sehr dunkel? Endlos kühles Geschiebe um Kai?
›Ja, im Dunkeln aufgehängt, so ist es. Wenn ich schon schreie, niemand da, der hört. Auch Ilse – gleich sagte ich ihr: alles kommt, wie es kommen muß. Jettchen ist tot und Onkel Jason – aufgehängt im Dunkel ...‹
»Nun also: ›Sehr geehrte Frau Rat, Komma, lassen Sie ...‹«
Die Feder ging übers Papier, er hörte ihr schmiegendes Gleiten, beim Komma gab sie spitz Laut. Sie schrieb, jetzt langsamer, beim »Schüler Goedeschal« setzte sie einmal aus, fing wieder an, träge nun, stockend. Und rascher und drohender wuchs das Wort auf, klemmte schon jetzt die Brust, machte den Atem holpern, verdrehte die Finger.
»Hast du, ›Goedeschal‹«, fragte Kai, »ja? Nun denn weiter: ›mit Ihrer Tochter ...‹, hast du ›Tochter‹? – – – ›Unzucht treiben sehen‹ ...«
(›Ich höre es wohl, er schreibt nicht. Er ist ganz starr. Nichts sagen, abwarten. Er wird von selbst wieder ansetzen. Nun zähle ich bis zehn, dann frage ich ihn ...‹
Und trieb fort, da sich das Wort Unzucht zu einem ungeheuren Bilde wandelte, riechend irgendwie, unbekannt Bekanntes, verzerrte Linien, seltsam gewundene, ineinander gerissen wie Geschwisterkuß.
›Was denke ich! Woher kommen meine Gedanken!‹)
Schon hörte er sich, laut: »›Unzucht treiben sehen‹, Hans?«
Und fühlte sich plötzlich in der Mitte gebogen, wie zerfetzt, splitterig, hängend.
Stille. Dann leise, mit viel Speichelgeschluck: »Ich kann nicht, Kai ... laß mich ...!«
Und nun Kai, laut, sehr hastig, klar, jedes Wort sorgsam im Munde geformt, daß kein Klang sich verzerre: »Was heißt: ich kann nicht! Ich sage dir doch: Witz! Bloßer Scherz! Was ist? Natürlich, so ist es! Ich sage dir, ich habe mit Arne eine Wette gemacht, daß wir ... eben darum. Und außerdem ... du hast mir versprochen, als mein Freund ... Du weißt!«
Schirmer zagte, weimerte leis: »Wir? Freunde? Du kommst nur, wenn du mich brauchst ...«
Kai schwieg, ein wenig Wärme fiel auf seine Haut, aber: »Na, sag mal, was erlaubst du dir denn eigentlich! Ich sage dir doch, es ist Scherz! Spaß!! Witz!!! Verstehst du denn das nicht?!«
Gellte aus: »Scherz! Spaß!! Witz!!! Das Mädchen bekommt nie den Brief, mein heiliges Ehrenwort! Was willst du denn eigentlich! Begreifst du denn nicht? Ich muß doch! Ich kann nicht zurück. Also schreib! Dein Ehrenwort hab ich!«
Hans ließ flatternde Gebärden los, seine Arme schwangen, in der Hose bebte das Knie. »Ich will gern alles tun, alles schreiben, was du willst, aber bitte, Kai, lieber, lieber Kai, sag nicht Unzucht, bitte, bitte, nur das nicht! Sag ... nun was denn? Irgend etwas anderes ... ja, was denn nun? Sag: Zuchtlosigkeiten, bitte, Kai, sag Zuchtlosigkeiten!«
»Aber ausgeschlossen! Was denkst du denn eigentlich! Diktierst du den Brief oder ich? Wenn du noch lange rumredest, sage ich überhaupt nicht Unzucht, sondern Schweinerei!«
»Aber Schweinerei ist ja viel besser«, murmelte schwach Schirmer, »Schweinerei ist ja gradezu vorzüglich. Bitte sage Zuchtlosigkeiten oder Schweinerei ...«
»Nun höre gefälligst auf. Ich diktiere weiter. Hast du ›Unzucht treiben sehen‹? Nun den Punkt. ›Ein Freund‹ ... Du hast doch auch Unzucht geschrieben ...!«
Sprang empor, sah auf das Blatt. Dort das Wort, groß, in lateinischen Buchstaben, seltsam gedreht, wie vorhin das Bild, und verrucht, irgendwie so furchtbar verrucht. Er senkte die Lider ..., diktierte fertig. »Und nun, hast du Zeit dann, Hans? Bitte, in genau einer Stunde steckst du den Brief auf dem Hauptpostamt ein, du versprichst es mir? – Dein Ehrenwort?«
»Ja.«
»Ich danke dir, mein lieber Freund.«