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Sehr verehrter Herr Staatsrat Goedeschal!
Ich habe Ihnen auf Beschluß des Lehrerkollegiums der Obersekunda von den folgenden Ereignissen Mitteilung zu machen, die ich Sie, sehr verehrter Herr Staatsrat, in ihrer Tragweite und Schwere keinesfalls zu überschätzen bitte; denn so ungewöhnlich in den Annalen unseres Gymnasiums wie des humanistischen Gymnasiums überhaupt ein derartiger Fall auch erscheinen mag, so ungewöhnlich es des ferneren erscheinen mag, daß ein Lehrerkollegium sich mit derartigem Schreiben an die Eltern eines Schülers wendet, so will doch grade dieser Schritt nicht so sehr die Tragweite und Schwere dieses Falles betonen, als denn vielmehr ihn zu erleichtern sowie ihm die Spitze abzubrechen gesonnen sein.
Bei dem Endesunterzeichneten lief gestern die in Abschrift beigefügte anonyme Anzeige ein, die, da Grundlage zum Verständnis folgender Ausführungen, er sofort einer Einsicht zu unterziehen bittet. So sehr es nun sowohl in meinem Gehaben als bloßer Privatmann als auch als Anstaltsleiter liegen mag, derartige anonyme Machwerke einer Beachtung nicht zu würdigen, erschien es dennoch in vorliegendem Falle ratsam, von sonstigem Gehaben eine Ausnahme zu bewerkstelligen, als unzweifelhaft sowohl nach Ansicht des Schreibers dieses als auch des gesamten in Frage kommenden Lehrerkollegiums, und zwar, indem man sowohl das Inhaltliche als auch die Schrift gewissenhafter Prüfung unterzog, feststeht, daß (vergleiche hierzu auch Absatz 4 dieses Schreibens) – der Denunzierte zugleich der Denunzierende ist!
Die an diese Feststellung geknüpfte Debatte ergab das Ergebnis, daß drei der Herren sich gegen Verfolgung der Angelegenheit und für alsbaldige Vernichtung des Schreibens aussprachen, die übrigen fünf aber für Verhandlung mit dem Schüler Goedeschal auf Grundlage des beigefügten Schriftstücks eintraten. Dem Majoritätsbeschluß wurde also entsprochen und dieses um so mehr, als der die Religion als Lehrfach innehabende Kollege, Herr cand. theol. Richter, darauf aufmerksam machte, daß der Brief sozusagen einen Hilfeschrei des denunzierten Denunziators darstelle, dem zu entsprechen nicht nur völlig zum Beruf des pflichtbewußten Pädagogen gehöre, sondern auch ernsteste Pflicht eines jeden wahren Christen sei. Wurde demgegenüber, besonders vom Ordinarius der Obersekunda, Herrn Professor Scheide, darauf aufmerksam gemacht, daß bei heutiger Stellung von Lehrer und Schüler eine segensreiche Einwirkung bei Behandlung so diffiziler Fragen dem Lehrer schlechterdings nicht möglich sei, daß derartiges vielmehr vollkommen dem Elternhaus überlassen werden müsse, und erachtete es Herr Professor Scheide bei dieser Gelegenheit als geboten, erneut für einen von ihm bereits in pädagogischen Fachblättern erhobenen Vorschlag einzutreten, nämlich, den von einem Hohen Kultusministerium für Oberprima angesetzten Aufklärungsunterricht bereits in Unter-, spätestens aber in Obersekunda stattfinden zu lassen, so wurde dem gegenüber m. E. mit Recht geltend gemacht, daß eben grade die Einzelheit dieses Falles beweist, daß es sich hier um eine besonders stürmische und frühe Sexual-Entwicklung handelt, deren Seltenheit eben nicht zu Folgerungen verleiten darf, die für die Mehrzahl der Schüler verderblich wären; daß ferner sehr wohl das ernste Wort des Pädagogen genügend sei, den jungen Mann von seinen Verirrungen auf den rechten Weg zurückzuleiten.
Es wurde also zur Verhandlung mit Ihrem Sohne Kai Goedeschal, Schüler der Obersekunda, geschritten. Leider war das Ergebnis der Verhandlung nicht das Erwartete. Der Ton des anonymen Briefes, besonders aber der Umstand, daß der Schüler über Namen und Art seines Vergehens nicht im mindesten unterrichtet zu sein schien, berechtigten zu der Erwartung, daß eine gewisse Schwäche und, ich möchte dies selbst angesichts eines derartigen Vergehens, wenn auch mit allem Vorbehalt, sagen, eine nicht geringe Naivität erleichternd wirken würden. Diese Erwartung wurde leider getäuscht. Nach einheitlich gebilligtem Plan sollte der Schüler durch die Fiktion, wir, seine Lehrer, seien überzeugt, daß ein gewisser Mitschüler von ihm aus Feindschaft und Rachsucht diese Verdächtigungen ausgestoßen habe, dazu gebracht werden, sich selbst aus Wahrheitsliebe als Schreiber dieses Briefes zu bekennen. Seine Haltung war zwar zu Beginn der Verhandlungen eine zweifelsfrei verwirrte, die eben erwähnte Fiktion wurde ohne weiteres von ihm angenommen; dann aber traten Bedenken in ihm unsere Gutgläubigkeit eben dieser Fiktion gegenüber betreffend auf und, als wir bereits nach dreiviertelstündigem Verhandeln schon aus seiner tiefen Ermattung und Abgespanntheit ein freimütiges Bekenntnis erhoffen durften, dem auf der Stelle von Herrn cand. theol. Richter die eingehende Ermahnung angefügt worden wäre, geschah zwar dieses Geständnis, jedoch mit einer solchen Eruptivität, mit einer so großen, rätselhaften, anscheinend gegen uns, seine Lehrer, gerichteten Empörung, dabei so reuelos, so über jede Einzelheit dieser schweren Sünde der jungen Männer unterrichtet, daß uns zu irgendwelchen Ermahnungen Gelegenheit nicht gegeben wurde, vielmehr zu allen andern Bedenken nun noch das trat, daß der Schüler mit einer ungemeinen Listigkeit in seinem Schreiben eine Unwissenheit inbetreffs dieser Fragen vorgetäuscht hat, die als weiterhin erschwerend angesehen werden muß.
Der Schüler Kai Goedeschal verteidigte sich in keiner Weise, mit einer beinahe zynischen, nahezu triumphierenden Offenheit bekannte er sich zu seinem Vergehen und verließ dann so plötzlich das Zimmer, verweigerte, dem Rückruf sein Ohr zu leihen, daß das von uns zu Sagende leider ungesagt bleiben mußte.
Eingehender nachfolgender Besprechung Ergebnis war dann, daß man beschloß, diese Angelegenheit nicht wieder aufzunehmen, sondern davon Ihnen, sehr verehrter Herr Staatsrat Goedeschal, mit Angabe aller getanenen Schritte Mitteilung zu machen; was hiermit geschehen ist.
Hatte der Endesunterzeichnete zu Anfang seines Schreibens Gelegenheit zu der Bitte genommen, den Fall nicht zu schwer zu beurteilen, also die Strafe nicht zu hart sein zu lassen, so möchte er, am Schlusse angelangt, doch daraufhinweisen, daß das sündige Vergehen des Schülers selbst, ferner die ungemeine Verschlagenheit, die sich in der naiven Abfassung des Briefes ausspricht, und am Ende die unehrerbietige Haltung seinen Lehrern gegenüber zweifelsohne nachdrückliche Ahndung verdienen, eine Ahndung freilich, die ich in den Händen eines so ausgezeichneten Strafrechtlers, als der Sie, sehr verehrter Herr Staatsrat, bekannt sind, aufs beste aufbewahrt weiß, da Sie dem Sohn gegenüber nicht anders entscheiden werden als in jedem Ihnen vorliegenden anderen Straffall.
Ich muß meine Ausführungen mit der immerhin wohl recht bitteren und schwerwiegenden Mitteilung schließen, daß Ihr Sohn kaum zu Ostern wird versetzt werden können und zwar hauptsächlich wegen seiner mangelhaften griechischen Kenntnisse, eine Nichtversetzung, die um so betrübender sein würde, als die Reife dieses Sechzehnjährigen ihn kaum zum geeigneten Gefährten junger Schüler machen dürfte.
Ich bin mit dem Ausdrucke vorzüglichster Hochachtung Euer Hochwohlgeboren sehr ergebener
von Karstedt
Direktor des Königin-Augusta-Gymnasiums.