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In der Vorhalle – Schnee rann kotig am Boden – hielten sie. Die Gänge brausten. Hinter Rücken der Lehrer geworfene Türen kündeten Unterrichtsanfang.
Kurts Kopf perpendikelte. »Immer mach's gut, Kai. Petzt Klotzsch, fällst du rein.«
Und er stob davon.
»Wird sich hüten.«
Dies erreichte ihn kaum noch. Und jetzt auch ein kleines beunruhigt, ersprang Kai die Stufen. »Wird sich hüten. Aber wenn er sich nicht hütet? Seine verbundene Hand wird stärkste Waffe gegen mich.«
Noch, als er die Mütze zum Haken warf, johlte es drinnen. Über seinem Eingang wurden sie stumm; flüsterten, als er sich setzte. Zum Nachbar wandte Kai das Gesicht. »Morgen.«
Müller schwang fort, das Wort fiel ins Leere.
In einem Buch blätternd: ›Also doch! Sie sind gegen mich, alle. Der helfen könnte, Arne, ist noch nicht da. Was wollen sie? Was geht sie das an? Ich habe nichts getan, nichts gewollt. Sie sind es, die Unwirklichem Leben hauchen. – Aller Augen warten auf mich.‹
Da gellte es: »Hoch der Messerstecher!«
Lineale klappten, Schuhe schurrten den Boden. ›Natürlich Marzetus, mit jedem Stank durch dick und dünn. – Nicht aufsehen!‹
Es prasselte überall: »Rinaldo Rinaldini!« – »Forscher Willem!« »Blut, sag ich, Blut!« – »Die abgeschnittene Hand.«
Er flüsterte: »Gemeinheit. Ich habe Recht.«
Seine Lippen bebten. Vor seinen Augen schwang Weiß. Er sah auf: vor ihm, in weiße Gaze gehüllt, trieb Werners Hand.
»Bist ja mächtig still, Goedeschal.«
›Wie gemein! Wollte ich gestern dies?‹
»Seid still! Das Jungchen hat Angst.«
Sie schwiegen wirklich. Einer hetzte: »Kssst!«
»Hast wohl dein Messer vergessen?«
Noch bebend: »Leider.«
Werner faßte die Bank, nun stand auch Kai. Die Gesichter zuckten näher: Klotzsch, erglimmend, trank alles Rot aus Kais Haut.
›Er will mich prügeln!‹
»Feste druff!«
Ihr Blick glitt ineinander, bohrte, verhakte, verzahnte sich.
»Hast wohl Angst, Goedeschal?«
»Mach dir nur nicht in die Hosen ...«
Ihre Schultern streiften, schlugen zurück, faßten Druck. Noch schien es schwer, die Hände zu heben – »so wird Recht Unrecht« –, da schwang es Kai zu, er sprang zurück, stieß vor, packte, schrie. Krach donnerte auf, Staub schmeckte. Wollig vergriffen fühlte er tiefer Fleisch, riß es, rollte geschlagen, kam hoch, atmete glotzig und tauchte neu hinab in staubige Röte, bis es die Schultern brach, Arme verknäuelte, hoch schwang.
Er taumelte. Seine Zähne rieben Dreck.
»Schämt ihr euch nicht?«
Bebenden Auges ersah er auf Arnes blickweisender Hand, im Türrahmen gedrängt: Pennälergesichter, die Brauen gezirkelt, mit genüssigem Mund. Hände zuckten gelächtergleich.
»Schmeiß sie raus, die Kerls, Krebs! Und ihr –«, Arne wandte sich, seine Stimme dunkelte, »seid ihr des Teufels! Was ist los?«
Alles prappelte.
»Einer! – Du, Klotzsch!«
»Goedeschal ... Messerstich ... mich ...«, er keuchte, die Weste zerrissen, beweisend fuhr der Verband zu Arne.
»Hast ihn gestochen, Kai ...?«
»Aber nein! – Doch ja, natürlich ja!«
»Und warum?«
Leise in sich: »Hier dies entspulen? Vor glotzköpfiger Klasse?« Und mit der Stimme schlenkernd, laut: »Gänzlich privat.«
»Anderer Ansicht scheint Klotzsch. Er hat berichtet, nicht wahr?«
Sie nickten.
»Also ...?«
»Ich denke nicht dran, hier, coram publico ...«
Er hob sich; sie waren hinten. Ihre kleinen, greifgierigen Gebärden verwies er. »Ich bin Ich. Zwang? Nein! Verantwortung? Nichts da.«
»Dir scheint Geprügel vor allen gemäßer? In einer Stunde weiß es der dümmste Sextaner, in zwei die Arschpaukerei. Wartest du drauf?«
Bejahend stieß Wellhöhner Luft. Sein Stoppelkinn klotzte. »Wir müssen eingreifen, klarstellen. Eh erst die Pauker ...«
Die Tür knallte. Bäcker stieg zum Katheder.
Kai sah sich allein. Ihre Blicke straften ihn Luft. Arne, erreicht, schwang zur Seite. Wenig Trost war's, Klotzsch in gleichem zu wissen.
»Sie verdammen mich ungehört. Mein ist das Recht, so und so.«
Er wog es, aus Hand zur Hand. Es hielt stand, war sein Recht. Ihm war es, als müsse er nun, vortretend, erhöht über sie – auf dem Katheder etwa –, Zeugnis ablegen für sich und das dunkle Gewölle in ihm, das, gewägt und erwogen, sein Recht hieß. Es erbitterte so, den Mund versiegelt, Ecke zu stehen, mit der Hellheit in sich.
Die Glocke schrillte Anfang der großen Pause. Man drängte hinaus, er verblieb im Zimmer, und, trotzig, trieb er sich hoch, bis es ihm zuschrie: »Goedeschal! In die Retirade! Zu Schütt!«
»Ich werde reden!«
Zwei Mann, Posten, wiesen den Andrang Bedürftiger ab, zur Ecke am Turnsaal. Es schimpfte, brummte und lachte, trieb fort. Drinnen im Dämmer vier, gar fünf mit Oberprimaner Bischoff. Es stank. Klotzsch, seitlich, zog am Verband.
»Mache«, dachte Kai.
Bischoff läutete urtiefen Baß: »Ihr seid Schweine. Prügelnd, erweckt ihr Gelächter den Kleinen, Gespötte den Knoten. – Ihr erkennt das Schiedsgericht an? Beugt euch dem Urteil, wie es auch heißt?«
Klotzsch stieß eilend ein Ja, länger verzog Goedeschal, dann: »Das Schiedsgericht wohl. Aber nicht die Sache ...«
»Dies wird sich finden. – Beginne, Klotzsch.«
Der stieß es aus sich, verwildert, zerknüllt, warf die Hände, wies die Brücke auf, das Messer, berichtete Schlag und Verweigerung von Hilfe. Hielt, griff zurück. Sein Gesicht zuckte, das Auge glänzend, warf er eine Klage zu Kai, beugte sich, tiefergreifend schien er etwas zu heben, deckte es auf und ...
»Genug, wir wissen Bescheid. Nun du, Goedeschal.«
Er zögerte. Sein Herz blühte auf. Nah und leiser: »Wie ich schon sagte: das Tatsächliche stimmt. Aber die Tat erkenne ich nicht an als mein. Ich war es nicht.«
Lustig, wie ihre Gesichter rauchten! Flackerfeuer glomm auf, ihre Hände flogen ihm zu, griffen nach seiner verstoßenen Tat, für ihn zu verwahren.
Ärgerlich tönte Bischoff: »Red keinen Unsinn.«
»Gar nicht! Es ist so. Er barrierte den Weg. Ich wollte zu Ilse. Nicht mehr als Freiheit des Wegs war, was mir anlag. Alles darüber wollte ich nicht: diesen Schnitt, dies Gericht; tat's also auch nicht.«
Protest knatterte los. Zurückschauend sah Kai alles unklar gesagt, begann: »Anders: ihr wollt Verantwortung. Verantwortung setzt Tat voraus. Tat setzt Wille voraus. Hier Wille zur geschnittenen Hand. Also?«
Er lächelte. »Wie ein Exempel.«
Bischoff hob in den Lärm die Hand. »Silentium!«
Sich drehend: »Habt ihr so was gehört?«
Ungeduld trieb Kai. »Noch nicht klar! – Also: schlecht ist nur das, was ich fühle als schlecht. Sünde nur meine Sünde. Ein Ochs das Kind spießend, sündigt er ...?«
Er schwieg. Eine Lücke tat sich auf. Irgend etwas war nicht so klar, wie es gesollt, stimmte nicht. Er setzte an: »Meine Sünde, mein Gewissen ...«
Sein Blick suchte. »Hier! Mein Wille! Ich hab es nicht gewollt, da ist es!«
»Und hast es getan!« schrie Bischoff. »Hör auf mit diesen Narreteiereien! Red vernünftig!«
›Wieder stimmt es nicht.‹
Er stand versonnen. Seine Laune fiel von ihm ab. ›So dunkel. Es quillt unten. Ich fühle es. Könnt ich's erheben, aufweisen, mir selbst, den andern. So nur fühl ich, ich hab Recht.‹
»Hör zu, Goedeschal.« Arne zwang seine Schulter. »Wenn du jetzt nicht sofort den Blödsinn aufsteckst, vernünftig antwortest, ganz sauber aus der Sache trittst, sind wir geschiedene Leut.«
»Arne! Verstehe mich doch. Das hieße Verantwortung tragen, mein Recht beschmutzen. Ich bitte dich, versuch doch ...«
»Du weißt Bescheid.«
Kai sank in sich. Nun baute sich's auf: Haß der Klasse, Schweigen, und, an den Wänden schwänzelnd, den Kopf lieblich zur Luft gestoßen: Klotzschus triumphans: Nein!
»Wenn ihr's anders nicht kapiert ... Er hatte kein Recht, mir den Weg zu versetzen.«
»Hatte ich! Er wollte nichts als poussieren!«
»Und du, Klotzsch? Bei Ilse abgefallen! Daher deine Wut, nicht?«
»Silentium, Goedeschal! – Halt's Maul, Klotzsch! Ihr habt zu warten ... Bist du ruhig, Goedeschal!« Die Welle ebbte. Natürlich, nun noch das Ehrenwort, nicht zu vergessen.
»Das war Sonnabend mittag, daß ich nichts gehabt hätt. Daß ich nichts haben würd, hab ich nie gesagt.«
»Achtung! Pauker!!!«
An der geteerten Wand, Hosen knöpfend, standen sie: Krebs, platzlos, durchzackte den Raum, die Klosettür klappte.
»Nu, heern Se mal, das scheint mir cha hier eine richtche Versammlung! Der Esenwein aus der Sexta hat mir geklagt, Sie ließen 'n nich rein. – Gommen Se mal her, Schütt.«
»Einen Moment, Herr Professor.«
»Aber ich versichere Sie, Herr Professor ...«
»Das derften Se wohl nur sachen als Achente ...« Sie entschwanden, in Grammatisches vertieft.
Auf dem Gang verklapperte der Absatz des Lehrers. Zwischen das Lange der Hände ruhte Kai seinen Kopf. Klotzsch schien zu beten, süßlich die Lippen geregt.
Arne hob seinen Arm. »Das Schiedsgericht hat erkannt: das Vorgehen Goedeschals war korrekt, wenn auch hitzig. Der Umstand, daß eine Dame im Spiel, rechtfertigt die Waffe. Die Gegner geben sich die Hand.«
Nun, auch das konnte man tun; aber, in das Heimstürmen der andern, fragte es wieder: »Warum begriffen sie mein richtiges Recht nicht? Ich selbst nicht? Warum?«