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Mit hastiger Geste entgleitende Häuser, prangende Nummern an ihren Torbögen, Aufwurf von Fensterflügeln, in denen Sonne blitzte – alles verstörte Kai, entriß ihn mit seiner Bewegung, seinem Glanz einem Denken, das so rasch doch entschließen mußte. In der Tasche der ruhende Brief war fremdes Ding, Hüftfleisch kältend, und versuchte er's schon, im Auszählen der Straßensteine endlich Entschluß zu erzwingen, drückte fremder Blick das gesenkte Kinn hoch, oder linkerhand flatterte klatschend ein Täuberich auf.
Wußte wohl tief, daß es Wahnsinn, sich jenen zu liefern, den Fremden, zwecklos zum geringsten, doch drehte sich süß in ihm Lockung belebteren Lebens –: sah sich schon, den Grauen, sonst verblaßtes Gesicht zwischen andern verblaßten, vorgezerrt, Schläfe ergrünt von Schmach; sah sich im Ring der Erwägung, gesenkte Stirnen prüfend auf ihn gestoßen; hörte Worte, bedächtige, schlingenweis ausgelegt, seine Einsamkeit zu fangen, und fühlte aufbrechend, tiefster Wonne voll, Erweichung des Kerns, sah um Nacken geworfene Arme, Fortströmen von Leid geschah und sonnengleicher Aufgang gewährter Vermenschlichung in den Augen der Strengen.
Bruder!
Doch da, im Lidzwinkern, schlich wieder schlurfig, wandreibend dahin die bittre Groteske der Pauker, stäubend, mit stets bekreideter Schulter, im Knie gehöhlter Hose, drehte voll Salbung oder empörten Sinns die Hände; ihre Gesichter grau; triefig, auch stier das Auge; und indem sie nun lautlosen Schrittes Kreise zogen, reigenweis, bedrohten sie ihn, den Kai, in der Mitte, sponnen sich ein, hängten Saugrüssel in sein Herz und sein Hirn, fraßen es leer, Wissende seiner Geheimnisserei. Und je mehr über sparriger Platanenkahlheit das Schuldach mit Läufen von Gedehntheit, Trillern von Türmchen und Giebeln aufstieg, schien's grade der wahnsinnige Stumpfsinn der Lehrer, der lockte; aufzurütteln auch ihn, auch im verstaubtesten Partikelisten Wärme zu wecken und das graue Gedehne fünfstündigen Gähnens zu färben –: grad das wurde Wunsch.
Und da Kai noch einmal die Gedankenwirre aufstäuben ließ und verblies, hierhin und dorthin, sah er schon briefgefüllte Hand zum Kastenloch tasten, begriff später erst, über Horaz gelehnt, doch den kienigen Türriß neben der Klinke im Blick, begriff: nicht mehr unteilhaft hockte er hier, sondern ihnen gegeben; Möglichkeit war, daß die nächste Regung des Türgriffs Auftakt einer Vernehmung.
Bruder? Richter – Verklagter!
Aber die Stimme des Lehrers schläferte süß, auch schwankte sein Haupt leicht wie Pechnelkenblüte im unspürbaren Wind glutflimmernden Sommertags; und vor Kai stieg sie auf, neu, jene ferienhaft erschaute, kaum mehr glaubhafte, fraglich schon, ob nicht geträumte Vision: Kiefernkuscheln, durchwärmter Sand, und nun auch, da kaum dem Auge der Türgriff entglitten, sah er über sich endloses Blau des Himmels, das seinen Sehnerv, saugenden Schacht, weitete, seinem Ohr klang fernes Sausen der Dreschmaschine, darauf getrillert von Lerchen überleichtes Jauchzen. Ja, liegend nun, in den Sand die Beine verloren, Sonnenfleck um Fleck auf der Haut, fühlte er steigen in sich kleine, süße Regung, Luftperlengequicke in Silberwasser gleich; ein Schulterschwung Ilses; ihre Hand langt zum Knoten im Haar; Stimmklang Ilses selbst, mit dem Laut von Schritten verschmolzen, glitt hautgleich an seiner Haut; und – seine Finger rissen, faserten, bohrten Stoff – nun fühlte Kai sich fester gefügt zur baumbestandenen Ferne, Verse singend, Menschenleid leugnend.
»Goedeschal! Weiter! Wo sind wir? Nun? Levius fit patientia ... Noch immer nicht? Lernen Sie's auswendig für morgen. Setzen. Weiter, Krebs!«
Hockte schon wieder. Erwacht. Sturzguß im Nacken, fühlte Glut, stets sich erneuend, in Wange und Schläfe, das Auge hinter brennender Lidhaut gedeckt. Und der Nachbar? Tadelnder Blick Schneiders? Flüstern in sich: »Was tat ich?! Ich hier in der Stunde?!«
Glaubte noch nicht, hob den Kopf aus der Schulter, spähte zum Nachbar, des Lächeln Verzerrung gekniffenen Mundes schien. »Er hat nichts gesehen, nein. Nicht wahr?«
Da Grausen Kai schütterte, glitt doch Hand zur Tasche, und indem er mit dem Blick fließendes und stürzendes Buchstabengewimmel umfaßte, fühlte er zwischen den Fingern das in die Tasche der Hose gerissene Loch, Eingang zum ...
Fühlte Schreckschauer auf Schauer rieselnd, Hand näßte Schweiß, in den Knien saß Schwäche und prallend stürzte Blut in den Puls. Da doch alldem eine kleine, zittrige Freude seiner Verderbtheit entstieg; sein über die Klasse gleitender Blick rühmte nicht so den noch einmal errungenen Sieg wie die heimlichen Wege, die jene nicht wußten.
Noch stand reglos die Klinke über dem harzigen Spalt der Füllung. Und als sich Kai nun im Schrillen der Glocke steifend reckte, entwuchs der überstandenen Gefahr und dem kommenden Fortruf so Kräftigung seines Selbst, daß er den verworren schleichenden Klotzsch locken konnte und hänseln, bis der, neu in die Bank gehockt, durch ins Ohr gesteckten Finger weiteren Anruf verwies.
Doch schon gellte es neu, zur nächsten Stunde, der letzten; das kaum verkühlte Holz der Bank rieb wieder schmerzendes Gesäß; durch die schrammende Tür sprang, Heftstoß unterm Arm, Zubeil, Professor, Anton genannt, und Kai murmelte hastig, den Kopf geneigt, die Finger federnd am Deckel: »Hex! Hex! Hex!«, trotzdem das Bewußtsein, die Arbeit stamme von Korn, die »Zwei bis« garantierte.
(»Doch die letzte Stunde. Wahrscheinlichkeit des Vorrufs ist größer, von acht bis zwölf konnte der Brief ihn erreichen ...!«)
(»Anton ist wütend. Wie er glotzt! Meint er mich? Unmöglich. Vielleicht gar die ›Zwei‹. Endlich werde ich wieder Papa Früchte des Fleißes weisen ...«)
(»Auf dem Gang schleicht's. Naht es sich schon ...? Schmeiß nicht die Hefte! – Horch! Mein Herz klopft!«)
»Schitt! Geedeschall! Stehnse auf! Beede! – Nu, was habense mir zu sagen?«
Hinter der euligen Brille kugelt der Blick.
Sie suchen sich, fragend, zweifelnd ...
»Hierher sehnse! Nu? ... Nu? ... Nichts? ... Nu, wer hat abgeschrieben? ... Wer hat abgeschrieben?«
»Herr Professor ...!«
»Herr Professor ...!«
(›Auf dem Gang steht jemand, lauscht, sicher für mich!‹)
»Geedeschall, habense von Schitt abgeschrieben? Oder Schitt, habense von Geedeschall abgeschrieben?«
»Ich ...«
»Herr Professor ...!«
»Denkense, ich bin so dumm! Denkense, ich merk das nich! Gloobense denn, so dumm bin ich?!«
Schütts Wohllaut dringt durch: »Keinesfalls, Herr Professor, habe ich auch nur daran gedacht ...«
(›Draußen tastet's noch immer. Wenn es doch käme! Nur nicht dies Warten! Verfluchter Schwätzer Anton!‹)
»Das is es ja eben, Schitt! Nich gedacht habense! Se haben de Funf und Geedeschall hat de Funf! Nu ...?«
Aber sie schwiegen: Schütt machte eine Handbewegung, weit und abweisend, Kai sah vor sich und rief zu sich, heißer und dringender, jenen im Gang, der kommen sollte, endlich, Erlösung zu bringen.
»Setzense sich! Se werden zu Ostern de Folgen sehen!«
Die Stunde drehte sich kreischend. Kleine Gedanken, kaum gesproßt, verkümmerten schon. Ein Staub nistete in der Nase, knirschte zwischen Zahn und Zahn. Scharren eines Fußes, lauteres Anheben der Stimmen in Scheltwort und Anruf waren die Hügel, zwischen denen sich ewiges Einerlei dehnte. Unmöglich noch zu denken, daß jemand kam. Kaum noch zu glauben, daß Brief Tatsächliches war. Alles wehte vorbei. Und da es ihm schien, als werde sein Gesicht schlaff und hängend, ließ auch Kai sich ganz versinken, faltig und riechend den andern gleich, bis endlich, nach Gegell der Glocke, Erwachen war wie widerstrebendes Dehnen der Glieder und erst Arnes Tadel über die fehlergefüllte Arbeit stärkere Kräuselung in Abwehr brachte.
»Aber sie stammte von Krebs; fehlerlos sollte sie sein!«
Und der Blick Kais flehte Verzeihung.
»Krebs! Krebs! Komm mal her!«
Aber Krebs schien nicht zu hören, entschlüpfte, und Kais suchender Blick fand Klotzsch, gerötet, gesenkten Kopfes; begriff das Komplott des Feindes, noch immer Feindes.
»Oder nein! Jetzt nicht mehr. Damals war er's. Wieder versöhnt, hülfe er wahrhaft.«
Und bestärkte in sich den unsicher noch schwankenden Glauben, da ihm soviel Aufwand, andern zu schaden, nicht denklich erschien; schien doch der Weg nur des Gehens wert, der Gängers Vorteil verhieß.
»Also kommst du mit?« Arne drehte ungeduldig die Mütze.
»Natürlich. Noch ein Buch zu besorgen, Klatsche für Homer.«
»Nun also!«
Sie gingen schweigend. Leicht stäubte Schnee. Die Kleinen lärmten um sie, und der Schneeball eines Proleten streifte Kais Arm. »Äx«, machte Arne.
»Also denn!«
»Mach's gut!«
Im Laden schob die voll Bebuste ihr lächelndes Gesicht zum flüsternden Kai. »Natürlich, Herr Goedeschal. Einen Augenblick, bis die andern fort. Daß sie nichts merken. Dort liegen Bücher, neue. Bitte.«
Kai blätterte. Immerzu klinkte die Glocke. Wie lange hier noch zu stehen, bis das Weib die Klatsche zu bringen wagte! Wieder sank sein Blick zum neuen Buch, gleichgültig, faßte ein Wort, griff zu, starrte, zog sich zusammen, saugte, Hände krampften den Buchrand, in den Ohren brauste es wie gefangener Luft Wogen in einer Muschel.
Er sah auf – niemand beachtete ihn. Und indem er die Blätter schneller warf und schneller, fing er Worte auf, da und dort, drohende, geheimer Deutung voll, nie gehörte und doch so sehr geahnte, nächtens erwachsen in Traum und Schlaf, fing sie, fiebriger stets, alle: »Geschlechtstrieb, ehelich, fruchtbar, Zucht, masturbieren, Sexualität, Samenverlust, Prostitution, Onanie, Pollution ...« Wie verrückte Blumen schwankten sie vor ihm, verzerrten bekannte Linien, plötzlich geheimnisvoll gebläht schwemmten sie auf, und indem sie wie feurige Kreise hinter geschlossenen Lidern vor seinen Augen sich drehten, fühlte er Quellen von Wasser im Munde, die Zunge drückte den Gaumen und ein leichter Schwindel zwang ihn zurück. Kaum fing er ein Stöhnen.
»Kaufen ... Nein, Kaufen unmöglich ... dieser Blick der Dicken ... damit einschlafen würde sie, daß ich's kaufte, süßlich feixend ... oder Meldung den Eltern ...«
»Aber wie? Ich muß es haben ... da ist alles darin ... alles Wissen, was ich je geahnt ... Kampf wird nicht mehr nötig sein!«
Er sah auf. Eine Starre steifte ihn zur Gradheit. Zwischen Tasche und Mantel das Buch unterm Arm, sagte er rasch: »Ich kann nicht warten, komme wieder. Ein andermal.«
Und ging, trotz schwatzenden Protestes.
»Aber sie merkt es! – Was dann? Kann ich es leugnen? Sie weiß, neue Bücher, also ...«
»Doch werde ich wissen ...«
»Dieses Buch ...«
Sah darauf, lange. Es war ihm, als hielte er sein bebendes Leben, endlich erkannt und entdeckt, in der Hand.