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Im Bett hochfahrend, während kaum ein erstes Dämmern die Gardinen durchdrang, murmelte Kai: »Was ist geschehen! Irgend etwas vergaß ich! Was ...? Ich kann es nicht finden.«
Aber nun, über die Waschschüssel gebeugt – Wasser rann von seinem Gesicht –, entglitt der Schwamm den Händen. »Wo war ich? Alles vergessen? Und Hans? Hans! Nicht an ihn gedacht, er allein, im dunstigen Dunkel des Kohlenkellers ihnen ausgeliefert.«
Er sah sie, sah die flüsternden Schatten der Eltern, die leise waren. »Ja, sie gingen auf den Zehenspitzen, ob sie schon wußten, daß ich nicht kommen konnte, ihnen zu allem Anfang darum unterlegen, weil mich die Schule hielt, als sie suchen durften.«
Er zerdrückte das Handtuch. »Nein, ich lüge für mich! Nachmittags, nur an meine Befreiung dachte ich. Er – allein.«
Weichheit durchrann ihn. Bebend leugnete er Berechtigung zum Verdachte, schon geschehenen Verlust. »Nein, er ist da! Die Schnauze an das Drahtgitter gepreßt, wartet er auf Kohlblätter aus meiner Hand.«
Wie süß schmeckte im Munde diese umsonst gefühlte Angst! Doch jetzt, die Kellertreppe hinabsteigend, verzögerte sich sein Schritt, an den Türpfosten gelehnt, suchte Kai mit seinem Blick das beschmutzte Dunkel zu durchdringen. Seine Hände tasteten in den Winkel, bestreiften sich staubig an erstarrtem Koks, feuchteten sich neu mit der verschlickten Nässe des Backsteinbodens.
Nichts! Leer der Winkel. Kein wolliger Anprall des endlich sehnsuchterfüllten Tierleibes an die Käfigbretter.
Kai stand. Um ihn das Dunkel, aus mißförmig getürmten Kohlenhaufen erhöht, schien nun lautlos in eine unbegreifliche Tiefe zu stürzen; allein blieb er stehen, grenzenlos erhöht, getrennt von den Menschlichkeiten der andern, auf einem handtuchbreiten Stück Bodens, das schon abbröckeln zu wollen schien, um auch ihn hinabzustürzen in Tiefen einer verwaschenen Zusammengeschlossenheit, aus denen es keine Rückkehr in Alleinsein gab.
»Erst die Puppen. Nun auch du, du Hans, mir fortgenommen! Keine Trennung hilft. Sie reißen die Wände nieder. Im Verstohlenen mich aufspürend, werden sie, zur Rede gestellt, alles für einen Scherz erklären.«
An die Treppe vorgesprungen, die harte Hüfte ins Geländer gepreßt, schrie er zu jenen oberen Räumen hinauf: »Wie ich euch hasse! Soll ich sagen, wie ich euch hasse! Ach, ihr wißt nichts von Reinheit, die ihr alles durch Teilhaben beschmutzt.«
Deckenwölbungen fingen den Klang der Worte, gaben ihn weiter, und jetzt wiederholte einer, im Dunkel hinter ihm stehend, zum Unkenntlichen verzerrt, jene Sätze, die nun ganz von irgendwelchem düsteren und geheimnisvollen Sinne erfüllt schienen – wiederholte sie in sein Ohr.
Herumfahrend suchte Kai im Dämmer des gekalkten Bodens diesen, der das Wort »Reinheit« wie einen unwahren Vorwand aussprach, doch die Wölbungen waren von Tönen entleert, versteckt jener Sprecher; aber nun schien am Boden, einem kläglichen, immer wieder beinahe versickernden Rinnsal gleich, ein kleines Kratzen entlangzuschleichen, das sich an seine Füße wie eine Beruhigung hockte.
Näher dem klaffenden Türspalt mied er den Anblick jenes Griffs, um den er, gestern scheinbarer Sieger, heut schon besiegt, mit seiner Mutter gekämpft.
Später erschaute er am alten Platz den Käfig; niederstürzend zerriß er seine Nägel am Vorstecker, der Öffnung des Gitters verschloß, – doch da hockte wieder Jenes auf seinen Knien, nun spürte er an den Händen die ölige Wolle des Aufgefundenen, und während seine Augen gleichgültig den am Käfig befestigten Zettel durchstreiften: »Du darfst ihn behalten ... Deine Eltern«, murmelte er, ganz von Hingebung durchtränkt: »Ich war schlecht zu dir, nun bist du doch wieder da, mein Hans!«
Doch als jetzt, nach endlosem Absturz jenes erlittenen Verlassenseins, sich endlich wieder die spürende Nase des Tieres in seine Handfläche drängte, sah er auf und begriff. »Geschenkt! Zum Geschenk bekommen von anderen, ihn, dessen Liebe ich mir selbst schenkte! Nun werden sie bei Tisch fragen, wie es dir geht, die Geschwister werden dich sehen wollen, über deinen Pelz streichen fremde Hände.«
Jener Zettel breitete seinen weißlichen Schein über den ganzen Horizont aus. »Jetzt bist du nicht mehr mein: jetzt für den ersten besten gemeint. Aber ich will es sein, was hülfe mir an alle Verschwendetes!«
Die Hände hinter sich gelegt, suchte er mit seinem von Tränen überströmenden Blick das geduckte Tier. Vom aufzuckenden Bein ins Wanken gebracht, von den Knien im Hinabgleiten aufgehalten, füllte es nun Kais Schenkel mit nur ihm geltender Wärme; im festeren Zusammenpressen ging zages Sträuben der Tiermuskeln auf, das seine Nerven mit nie geahnter elektrischer Wärme tränkte, – flimmernd schienen sie in seinem Leibe zu segeln wie Wasserpflanzen, durchkämmt von der Strömung eines Baches, feierlich schleppten sie und bebend in ihm gleich jenen an Quallen hängenden Spürfäden.
Dann aber, ganz verloren an den trunken peinigenden Rausch dieser Minuten, sahen seine verwirrten und schmerzlichen Blicke auf die plötzlich erwachten Hände, wie sie – von selbst – sich um den Hals des Tieres schlössen, daß der schwere Körper in der Luft hing, gekrümmt; und nun, in kehlzupressender Arbeit der Finger, zwang sich der Leib unter wildem Zucken zum Kreise, fiel in der Lockerung des Umklammerns schwer hinab, und schon wiederholte sich dieses totenhafte und starre Spiel: Loslassen, Zupacken, Verkrümmen, letzter Atem und neues Hoffen.
Aber in all dem – überströmt von seinen Tränen, einem verzweifelten Schmerze ausgeliefert – blieb jener allein des Sehens wert: jener bewegliche und ganz fremde Tanz seiner Finger, in deren auf der Innenseite gewölbten Spitzen Sensationen aufzugehen schienen, während elektrische Funken sie nadelspitz durchstachen. Und in diesem Leiden war plötzlich das Leben da, so von je geahnt – plötzlich heroisch aufgetan und entfaltet, dem flammenden, lang verborgenen Futter eines Mantels gleich, über dessen scharlachene Farben dunklere Schatten gespensterhaft huschten; war das Leben da: nicht fremd, unerkämpft, ohne Pläne, Vorbereitungen, Sorgen, lehnte sich an seine Brust und hauchte in seinen Mund eine sengende Glut, die in den Eingeweiden wie Messer wühlte; war das Leben da, das liebe Leben, bis – bis die letzte Krümmung verebbte, bis über den weggefallenen Kadaver fortschreitend nur noch Kai dies eine blieb: in die Schule zu gehen und sich der Täuschung einer allgemeinen Bravheit und Beflissenheit anzuschließen.