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Nach Zuerteilung jenes Preises häuften sich sowohl die Übersetzungen als auch die Einladungen ins Ausland. Meine wissenschaftliche Arbeit aber ging ununterbrochen fort; ich habe in diesen Jahren neben kleineren Sachen und neuen Auflagen zunächst die Schrift »Können wir noch Christen sein?« (1911) veröffentlicht. Es war mir eine innere Notwendigkeit, an diesem Punkte meine Überzeugung klar und kräftig auszusprechen. Der Erfolg dieser Schrift hat mich enttäuscht. Gewiß habe ich nicht den rechten Ton getroffen, um die Frage anschaulich und eindringlich zu machen; voraussichtlich werde ich aber später auf das Problem zurückkommen. 1912 brachte die Schrift »Erkennen und Leben«; sie sollte ein größeres Werk über Erkenntnislehre und Lebensgestaltung einleiten. Sie war von vornherein als ein Stück eines größeren Werkes gedacht, das schließlich unter dem Titel »Mensch und Welt« zuerst 1918, dann in zweiter Auflage 1920 erschienen ist; der Krieg hat die Fortführung dieser Probleme arg verzögert, aber an der Hauptsache habe ich auch den ganzen Krieg hindurch gearbeitet.
Von den Einladungen war mir zunächst die wichtigste die, welche 1911 von England an mich kam. Nächst dem skandinavischen Norden, dem ich mich besonders verwandt fühlte, hatte ich besonders viele sachliche und persönliche Beziehungen zu England, und es schien mir wichtig, diese weiter zu entwickeln. Englische und deutsche Art schienen zu gegenseitiger Ergänzung berufen.
In der Schrift »Erkennen und Leben« S. 72 ff. habe ich dies Problem weiter ausgeführt. Als die Stärke des Deutschen erscheint die Entwerfung von Weltgedanken und die Weite des geistigen Horizontes, auch das Vermögen, systematisch und methodisch zu wirken; er kann danach streben, den Menschen über alle Umgebung hinauszuheben und die ganze Unendlichkeit in seiner Seele zu beleben; auch seine wissenschaftliche und technische Arbeit kann es mit der aller Völker aufnehmen. Aber der Deutsche verbleibt leicht bei grübelnder Reflexion, auch neigt er stark zu einer Überschätzung bloßer Fachgelehrsamkeit; so kann ihm das Wissen tatlos über den Wassern schweben und den Weg zur Lebenserhöhung nicht finden; dazu kommt bei jener intellektualistischen Art leicht ein Eigensinn der Individuen, die vor allem darauf bedacht sind, etwas Besonderes zu sein und als etwas Besonderes zu gelten, eine Abneigung, sich gemeinsamen Zwecken zu fügen.
Die Stärke des Engländers dagegen liegt in der Gestaltung des praktischen Lebens, in dem offenen Sinn für die Eindrücke der Erfahrung, in dem Geschick, die jeweilige Lage zu erfassen und zu verwerten, besonders aber in dem Aufbau des gesellschaftlichen Lebens, dessen wissenschaftliches Durchdringen unmittelbar in fruchtbare Tätigkeit übergeht. Auf diesem Boden vermögen die Individuen sich in Freiheit zusammenzufinden und die individuelle Neigung gemeinsamen Zwecken unterzuordnen; solche Vereinigung erzeugt weit mehr Kraft in der sichtbaren Welt und Sicherheit, sie zu beherrschen. Aber auch diese Art hat ihre Gefahren: Jener Zusammenschluß kann leicht der vollen Entwicklung der individuellen Art schaden und Gleichförmigkeit erzeugen; auch wird hier nicht genügend gewürdigt, daß das Weltproblem nicht erst nachträglich zum Leben hinzukommt, sondern daß es von vornherein zu ihm gehört und seinen geistigen Charakter bilden hilft. Die volle Ursprünglichkeit und die Weite des Geisteslebens kann durch jene Sorge um den Stand der Gesellschaft Schaden leiden, und es läge ein Verfallen in den Utilitarismus nahe, wenn nicht eine starke, auch in der sozialen Ordnung fest verankerte religiöse Überzeugung dem widerstände und dem Leben und Streben der Gesellschaft den Hintergrund einer ewigen und selbstwertigen Ordnung gäbe. – Diese Gegensätze sind im Kriege noch stärker hervorgetreten.
Von meiner Studienzeit her bin ich mit einzelnen hervorragenden Persönlichkeiten Englands in Briefwechsel geblieben. Übersetzungen meiner Bücher ins Englische verstärkten diese Beziehungen. Eine eigentliche Einladung erfolgte zunächst von den Unitariern. Schon zweimal und vor dem Nobelpreis hatten diese mich freundlich aufgefordert, die Essex Hall Lecture zu halten. Ich sollte dort aber nach dortiger Sitte englisch sprechen; dazu konnte ich mich nicht entschließen, obwohl ich des Englischen leidlich mächtig war. 1911 aber erhielt ich eine sehr herzliche Bitte, meine Vorträge ruhig in deutscher Sprache zu halten. Der Vortrag und auch eine Rede in einer englischen Kirche wurden sehr gut besucht und freundlich aufgenommen, auch die leitenden Blätter, wie z.B. die »Times«, brachten eingehende Berichte darüber Einen eingehenden Bericht über mein Auftreten in London brachte die Christian World vom 8.Juni 1911; die »Christliche Welt« vom 11.Januar 1912 hat die Grundgedanken ins Deutsche übertragen unter dem Titel »Eucken in England«.. Auch die daran sich schließenden Tage in London und Oxford waren genußreich und anregend. Wir genossen dort durchgängig die liebenswürdigste Gastfreundschaft. Es war charakteristisch, daß der Lordmayor von London im Rückblick auf das vergangene Jahr den Besuch von Harnack und mir als ein gutes Zeichen für das Verhältnis der beiden Nationen begrüßte. Merkwürdig war es, daß ich mich auf religiösem und religionsgeschichtlichem Gebiet oft mit den Engländern besser verständigte, als mit vielen Deutschen; es war und ist der unglückselige Intellektualismus, der manche Deutsche an einer unbefangenen Würdigung der Lebensprobleme und Lebenstiefen hindert.