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Inzwischen klärten sich mir auch die Aussichten für meinen Lebensweg. Die Schule habe ich bald und ohne Mühe durchgemacht. Die Hauptzeit außer den Lehrstunden konnte ich meinen Arbeiten widmen, die sich zunächst mit den klassischen Sprachen, dann aber auch mit philosophischen Werken befaßten. Im Sommer bin ich regelmäßig morgens 5 Uhr aufgestanden, um ungestört meine eigenen Sachen zu treiben. Vor einer Reihe von Jahren fand ein früherer Schulgenosse als besonders bemerkenswert an mir, ich hätte so gut wie nichts für die Schule gearbeitet und wäre doch an der Spitze der Klasse geblieben. In den mittleren Klassen hatte ich geradezu einen Stoffhunger, er trieb mich dazu, ganze Bände des Konversations-Lexikons rasch durchzulesen. In meiner wissenschaftlichen Bildung trat in erster Linie zunächst die Mathematik hervor. Als Kind war ich ein hervorragender Kopfrechner; später entwickelte sich auch eine ausgesprochene Neigung zur Mathematik. Ich wurde dabei weniger von der Geometrie mit ihrer anschaulicheren Art als von der reinen Algebra angezogen. Wie hier so habe ich überhaupt meine eigene Anlage von früh an kritisch geprüft. Beim Neulernen einer Sprache z. B. kam ich nicht sofort auf die Höhe, aber je mehr die Aufgabe mich beschäftigte, desto sicherer fühlte ich mich, und der Schluß des Schuljahres pflegte mich an der Spitze der Klasse zu finden. Die Neigung zur Mathematik führte meine Mutter und mich zu dem Plane, auf einer technischen Hochschule Mathematik und Physik zu studieren. Später hat die Philosophie die Mathematik bei mir zurückgedrängt, doch blieb ich bis zum Schluß meiner Schuljahre ein vortrefflicher Mathematiker. Die Wendung zur Philosophie wurde verstärkt durch das lebhafte religiöse Interesse, welches mich von früher Jugend beseelte. Meiner Familientradition entsprach ein gemäßigter Liberalismus; wir fühlten uns von der Orthodoxie, wie sie in Ostfriesland damals vorherrschte, wenig befriedigt. Es waren nicht so sehr einzelne Sätze, welche die Meinigen zum Widerspruch trieben, als die Überzeugung, daß diese Orthodoxie bei aller persönlichen Tüchtigkeit den großen Problemen nicht gewachsen sei. So gingen wir von Haus aus unseren eigenen Weg. Dazu kamen meine eigenen Erfahrungen, welche mich stark zur Beschäftigung mit religiösen Fragen trieben: der Verlust meiner Lieben, mein zarter Gesundheitszustand, die mir drohende Blindheit. So hatte meine frühe Kinderzeit wenig Sonne, sie war voller Hemmungen. Aber ich setzte allen Hemmungen die Überzeugung entgegen, daß eine höhere Macht wie überhaupt über der Menschheit, so auch für mich selbst walte, und daß ich ihr vertrauen dürfe. Diesen Glauben habe ich keinen Augenblick aufgegeben; wohl aber habe ich eine selbstständige Kritik an dem überkommenen Kirchenglauben geübt. Schon frühzeitig habe ich großen Anstoß an der überlieferten Lehre vom Mittleramt Christi und von der Stellvertretung durch ihn genommen, und schon als kleines Kind habe ich meine Mutter mit der Frage gequält, warum nicht Gott selbst die Menschen zu sich zöge und das Böse von ihnen wende. Diese Abweichung von dem Kirchenglauben machte es mir unmöglich, Theologie zu studieren. Das dort gebotene religiöse Leben schien mir zu eng und zu gebunden; ich habe mich auch weiterhin viel mit theologischen Problemen beschäftigt, aber ich habe keinen Augenblick daran gedacht, Theologe zu werden; die Erfahrungen meines Onkels konnten mich darin nur bestärken.
In der Politik waren wir Ostfriesen vor allem gute Deutsche; ich erinnere mich noch, wie ängstlich wir in unseren Aufsätzen den Ausdruck »Hannoveraner« vermieden und nur von Deutschen redeten. Zugleich war man durchgängig in Ostfriesland freisinnig, nicht im Sinne der Berliner Demokratie, wohl aber im Sinne der alten Tradition von den freien, selbständigen, vor allem auf das Recht bedachten Ostfriesen. Auch zur hannoverschen Kammer pflegten die ostfriesischen Kreise überwiegend gemäßigt liberale Abgeordnete zu wählen. Nun aber kam seit dem Jahre 1858 die Bewegung in Preußen, welche eine Belebung der schlummernden Kräfte und eine Einigung Deutschlands versprach. Größte Hoffnungen für eine freiere Entwicklung und für die nationale Einigung wurden auf den damaligen Prinzregenten, den späteren König Wilhelm, gesetzt; auch die Jugend geriet in Bewegung. Später fehlte es nicht an Enttäuschungen; wir wissen, daß sich dann die Sache zu einem schroffen Konflikt zuspitzte. Es war namentlich die Heeresvorlage, welche die Geister aufregte und erbitterte. Der gute, ja notwendige Sinn der Heeresvorlage entging der öffentlichen Meinung, dazu fehlte es an Versuchen einer Aufklärung und Verständigung; so witterte sie in jener Vorlage nur Reaktion und Junkertum. Wir ereiferten uns leidenschaftlich darüber und fühlten uns radikal gestimmt. Aber so unreif das Leben damals in politischer Hinsicht war, so wohltuend war die Wärme der moralischen Gesinnung, namentlich die Überzeugung, daß die gebildete Jugend dazu berufen sei, ein einiges und freies Deutschland hervorzubringen. Damals schlummerte noch die soziale Gefahr mit ihren ungeheuren Problemen. Auch das Auftreten Lassalles wurde meist mit der bequemen Wendung zurückgeschoben, man dürfe keine Staatshilfe erbitten, sondern allein der Selbsthilfe vertrauen. So schien der Kern der ganzen Nation in dem gebildeten Bürgerstande zu liegen. Die Studierenden aber schienen besonders berufen, in dieser Richtung zu wirken. Der einzelne empfing daraus das Bewußtsein, daß sein eigenes Bestreben etwas bedeute, ja unentbehrlich sei. Es war nach meiner Überzeugung später ein großer Mangel, daß die akademische Jugend viel zu wenig eigene Ideale für das ganze Leben besaß, und daß sie nur die vorhandene Ordnung anerkennen sollte.