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Wenn ich am Schluß des Weges einen Rückblick auf meine Lebensarbeit werfe, so muß ich es dankbar anerkennen, daß ich nicht von zufälligen und wechselnden Anregungen getrieben wurde, sondern daß mein Streben einen inneren Zusammenhang hatte. Die Hauptrichtung wurde meinem Streben gegeben. Auch ich erfuhr die Wahrheit des Wortes: »Was haben wir, das wir nicht empfangen hätten?« Meine Arbeit teilte sich in drei Hauptabschnitte. Zunächst galt es, die in mir angelegten Kräfte zu entwickeln, dann: die Hauptrichtung meines Strebens wissenschaftlich durchzubilden, endlich: auf meine engere und weitere Umgebung zu wirken. Daß diese verschiedenen Abschnitte sich ungehemmt entfalten konnten, das muß ich als eine große Gunst des Geschickes anerkennen. Die Eigentümlichkeit meines Strebens, mein unablässiger Kampf für eine Verstärkung des Innenlebens und für eine selbständige Geisteswelt, brachte es mit sich, daß ich mit den vorgefundenen Verhältnissen fortwährend zusammenstieß; es ist nicht zufällig, daß meine Bücher oft den Charakter einer Kampfschrift tragen. Aber an dem Kampf hatte ich Freude, und ich glaube, dadurch selbst gefördert zu sein. Es war für mich ein Stück des Geschickes, daß mein Streben eine warme Teilnahme und verständnisvolle Anerkennung zuerst außerhalb Deutschlands fand; ohne Schweden, England, Amerika, Ostasien wäre ich schwerlich durchgedrungen. Um so schöner war es, daß schließlich der Krieg und die in ihm folgenden Erlebnisse mich zu einer vollen Verbindung mit meinem eigenen Volke führten.
Bis zum Kriege durfte ich einen ruhigen Abschluß meiner Lebenstätigkeit erwarten. Aber wir wissen, wie sehr sich inzwischen das gemeinsame Leben, und zwar nicht nur das unseres Volkes, sondern das der ganzen Menschheit, verändert hat. Eine ungeheure Umwälzung ist erfolgt, und es sind dadurch alle Probleme des ganzen Menschen in einen akuten Stand getreten; aus dem vermeintlichen Besitz sind wir durchgängig in ein mühsames und aufgeregtes Suchen gekommen. Punkt um Punkt umfangen uns neue Aufgaben. Wir glaubten einen reichen Kulturbesitz zu besitzen, und nun wird uns alle Tradition erschüttert und es wanken die überlieferten Grundlagen unserer Lebensführung. Wir erhofften ein inneres Zusammenhalten der Menschheit, wie Kultur und Religion es gebieten, nun aber ist die ganze Menschheit in schroffe Gegensätze auseinandergerissen. Wir erstrebten einen Fortschritt der Menschheit, im besonderen auch ein moralisches Weiterkommen, und wir müssen uns jetzt davon überzeugen, daß Unwahrhaftigkeit und Ungerechtigkeit die heutige Menschheit beherrschen, und daß für echte Güter wenig Platz ist. Zugleich sind wir in gänzlicher Unsicherheit über die Stellung der Menschheit in der Wirklichkeit und über den Sinn ihres Daseins. Wir wissen nicht, was wir sind, wir wissen nicht, wohin wir treiben.
Eine derartige Krise muß entweder zu einer Zerstörung oder zu einer Erhöhung des menschlichen Standes führen. Wer trotz aller Wirren und Nöte der Zeit zuversichtlich die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit einer Erhöhung verficht, der muß seine höchste Kraft an die 5ache setzen, der muß auf einer durchgreifenden Umwandlung bestehen, der muß das Aufsteigen einer Tatwelt, der muß eine Wesensbildung, der muß eine geistige Deformation verlangen; dafür aber muß er alle Gleichgültigkeit und Lauheit ablegen, allen bequemen Mittelweg als ein Unrecht verwerfen, Alt oder jung, das macht in einer so erschütternden Krise keinen Unterschied; auch mir Älteren dürfen keiner Ruhe pflegen, auch wir müssen des Wortes gedenken: »Wirket so lange es Tag ist«.
So muß und will auch ich trotz des vorrückenden Alters eifrig für jene Aufgabe einer Umgestaltung des menschlichen Lebensstandes weiter wirken. Daß ich aber die dazu nötige Kraft und Frische besitze, das verdanke ich an erster Stelle der glücklichen Gestaltung meiner persönlichen Geschicke. Ich muß es als eine große Gunst betrachten, daß ich zunächst durch das Verhältnis zu meiner Mutter eine seelische Vertiefung erhielt, der auch die Weihe des Schmerzes nicht fehlte, und daß ich dann durch meine eigne Familie und im eignen Hause ein schönes, reiches, geistig bewegtes Leben führen durfte. Besonders erfreulich ist dabei die gegenseitige geistige Ergänzung auf einer gemeinsamen Grundlage der Überzeugung. Meine Frau ist besonders in künstlerischer Richtung tätig und sie wirkt darüber hinaus unermüdlich und umsichtig für hohe Ziele. Auch insofern umschließt unser kleiner Kreis die Hauptzweige geistigen Wirkens, als von unseren Söhnen der eine Physiker, der andere Nationalökonom, unsere Tochter aber Konzertsängerin in der Richtung Bachs ist; so bildet unser Haus einen Mikrokosmos des geistigen Lebens, wie er sich selten so zusammenfindet. Aus solchem Zusammenleben kann Kraft und Freude hervorgehen, und für mich selbst kann ich die Goethesche Frage nach dem, was dem Alternden bleibt, getrost damit beantworten: »Mir bleibt genug, es bleibt Idee und Liebe«.