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Erste Kinderjahre

Meine ersten Schicksale waren wenig glücklich. Beinahe wäre ich rasch durch einen Unfall aus dem Leben geschieden. Ich saß, kaum einjährig, auf dem Schoß meiner Mutter, ergriff aus einem Schlüsselkorb blitzartig ein offenes Vorhängeschloß und steckte es in den Mund, um es herunterzuschlucken. Es hing nun alles daran, daß ich nicht erstickte. Meine Mutter bemühte sich mit größter Kraft jenes Schloß zu erfassen und zurückzuziehen. Inzwischen wurde aber der ganze Hals zerrissen. Endlich gelang es ihr das Schloß herauszuziehen, sie wurde dann ohnmächtig. Das ganze Haus lief zusammen. Vier oder fünf Ärzte wurden gerufen, sie alle glaubten, daß ich in einigen Augenblicken sterben müsse. Der Hausarzt meinte: »Lassen Sie das Kind in Ruhe sterben«. Trotzdem versuchte die Großmutter mir etwas Haferschleim einzuträufeln, und indem sie die Wirkung dessen sorgfältig beobachtete, gewahrte sie, daß ich einige Tropfen herunterschluckte. Dies gab dem Hausarzt wieder Mut, und ich wurde gerettet. Aber natürlich war ich auf lange Zeit arg geschwächt.

Dieses Unglück war nicht das einzige. Ein Scharlachfieber hatte in seinen Folgen größere Wucherungen auf der Hornhaut meiner Augen hervorgerufen. Ich wurde dabei ärztlich zunächst falsch behandelt, völlig vom Licht abgesperrt und ganze Wochen in ein völliges Dunkel gebracht; alle Mittel, die ziemlich barbarisch waren, halfen nicht das mindeste. Endlich eröffnete der Arzt meinen Eltern, daß ich das Augenlicht verlieren werde. Natürlich wurden nun andere Ärzte zugezogen, der berühmte Augenarzt, Dr. Lange in Emden, hat mich gerettet, der uns befreundete berühmte Professor Frerichs aber sein Urteil bestätigt. Anfänglich waren die Augen noch sehr zart, ich wurde später ihretwegen als dauernd untauglich zum Militärdienst erklärt, sie haben sich aber im Laufe der Zeit immer mehr gekräftigt. Meine durch diese Leiden geschwächte Gesundheit wurde durch den wiederholten Besuch von Seebädern sehr gefördert.

Alle diese Erlebnisse gaben mir einen großen Ernst und haben mich bald in manches Grübeln gebracht, um so mehr, weil die schweren Verluste meiner Angehörigen hinzu kamen. Zunächst wurde mir mein einziger lieber kleiner Bruder genommen. Noch am Weihnachtstage 1850 hatten wir miteinander vergnügt gespielt und uns über einen gemeinsamen Schlitten gefreut. Am Sylvesterabend wurden wir nach der Kirche gebracht, um die Posaunen zu hören, mit denen nach dortiger Sitte damals der Schluß des Jahres gefeiert wurde. Am 2. Januar aber wurde mein Bruder schwer krank, und schon am 7. erfolgte der Tod. Ich selbst habe die Erlebnisse mit vollem Bewußtsein erlebt, sie sind mir heute noch genau so gegenwärtig wie damals. Tief traf dieser Verlust des blühenden und schönen Kindes meine Eltern. Er hat den unsicheren Gesundheitszustand meines Vaters schwer erschüttert. Zur Erholung sollten wir drei das Seebad Norderney besuchen. Von einem Kinderfest wurde ich dort heimgeholt, und es wurde mir mitgeteilt, daß mein Vater gestorben sei. Die Leiche wurde im Wagen durch das Watt nach Aurich überführt und dort bestattet. So kam es über meine arme Mutter wie eine Sturmflut von Leiden. Aber so tief sie das alles empfand, und so schmerzlich sie ihre Lieben ihr ganzes Leben vermißt hat, so hat sie doch den Mut und die Kraft zum Weiterleben nicht verloren. Auf dringenden Wunsch der hannoverschen Verwandten wurde eine längere Reise dorthin unternommen, die erste Reise, die ich machen durfte. Die Fahrt ging damals zunächst nach Oldenburg, dann zu Schiff nach Brake, von da aus nach Bremen, wo ich die erste Eisenbahn erblickte, die auf mich einen sehr unheimlichen Eindruck machte. Jene Reise hat meine Mutter sehr erquickt, und die herzliche Gesinnung von Freunden und Verwandten hat ihr wohlgetan. Dabei hatte sie ein sie aufrichtendes Erlebnis, das freilich mehr sie als mich berührte. Wir trafen in der Post von Gifhorn nach Celle mit einem würdigen Rabbiner zusammen, der sich mit meiner Mutter unterhielt; dann ergriff er mich, legte seine Hand auf meinen Kopf und segnete mich. Er sagte: »Er wird durch ferne Länder gehen, und er wird Großes im Dienste Gottes leisten«. Auf meine tiefgebeugte Mutter hat dieses Ereignis einen dauernden Eindruck gemacht. – In Aurich zogen wir in ein bescheidenes, aber mit einem hübschen Garten versehenes Haus. Meine Großmutter hatte sich dieses als ihren Witwensitz gekauft. Es lag außerhalb der eigentlichen Stadt auf dem sogenannten Zingel; der Stadtgraben trennte diesen Zingel von der eigentlichen Stadt, unmittelbar in der Nähe war eine stattliche Mühle, die uns Wind und Wetter gewissenhaft verkündete. Eine Hauptfreude war für mich der Garten, der unmittelbar an eine große Wiese grenzte. Der Garten war an erster Stelle ein Nutzgarten, er versorgte uns mit Kartoffeln, Bohnen usw., aber er enthielt auch eine Anzahl von Beerensträuchern und Obstbäumen. Ich selbst hatte mir bald gewisse Lieblingsplätze erkoren, sei es in einer Laube, sei es auf einem schräg liegenden Obstbaum. Vor dem Hause war ein kleiner Vorgarten mit Pappeln, und nach der Außenseite war Wein gepflanzt, der meist eine schöne Ernte brachte.

Die Natur von Aurich ist sehr günstig für die aufwachsende Jugend. Die Stadt liegt auf einem breiten Sandstreifen, der sich durch das Moor erstreckt. Verschiedene größere und kleinere Gehölze bieten angenehme Aufenthaltsorte. Die Gärten zwischen den einzelnen Fluren sind in der Sommerzeit von zahlreichen Schmetterlingen belebt. Auch fehlte es nicht an mannigfachen Blumen, die oft von den Schülern in Herbarien gesammelt wurden. Im Frühling wurde damals am Himmelfahrtstage ein Fest gefeiert, welches die Jugend sehr bewegte. Es wurden die Eingänge der Häuser, namentlich die Vorgärten, mit Veilchen und Butterblumen in vorgeschriebenen Formen geschmückt. Es war eine Ehre für alle Bewohner, den sogenannten Brautpfad möglichst geschmackvoll einzurichten. Die Kinder suchten am vorangehenden Sonntag den ganzen Tag hindurch jene Veilchen und Butterblumen. Wahrscheinlich erklärt sich jene Sitte aus irgendeinem Ereignis, welches früher das ostfriesische fürstliche Haus betroffen hatte. Die Sitte war lediglich auf Aurich beschränkt. In der frühesten Morgendämmerung betrachtete man die verschiedenen Ausschmückungen und verglich sie mit den andern. Wer sich jener Sitte entzog, der mußte manchen Schabernack erdulden; die Primaner aber vergnügten sich in der Frühe mit Kegelschieben.

Da die damaligen Wege wenig erfreulich waren, so wurde die Beförderung durch die sogenannten Schüten (Flachboote) auf dem Kanal von Aurich nach Emden stark benutzt. Sie waren bezeichnend für das damalige ruhige und bequeme Leben. Diese Flachboote, welche ein Verdeck hatten, wurden von zwei Pferden gezogen. Sie mußten durch die einzelnen Schleusen herunter oder hinauf gebracht werden. Während dieses Schleusens konnte man sich einige Zeit erlaben oder aussteigen. Von diesem Flachboot war die Hälfte, die sogenannte Kajüte, für das gebildete Publikum bestimmt, das behaglich dort seinen Tee kochen konnte, während der sogenannte Raum für die Gemüsefrauen bestimmt war. Je näher dieser Kanal nach Emden kam, um so reicher wurden die Landsitze, und schließlich tauchte die alte Stadt mit ihren stattlichen Wällen und Windmühlen auf.


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