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Frankfurt (1869–1871)

Nun aber erfolgte schon wiederum eine Wendung unserer Verhältnisse. Schon vor der letzten Reise empfing ich den Besuch des Frankfurter Gymnasialdirektors Mommsen, eines Bruders von Theodor Mommsen. Er erzählte mir, er wolle sich für eine Frankfurter Stellung nach geeigneten Persönlichkeiten umsehen und neben anderen auch mich kennen lernen. Es wurde aber nicht das mindeste verabredet, und ich betrachtete die Sache schon als erledigt. Plötzlich aber empfing ich einen Eilbrief, der mir einen ehrenvollen und vorteilhaften Ruf nach Frankfurt brachte. Ich sollte als Nachfolger des sehr geschätzten Professors Dr. Baumann, der nach Göttingen berufen war, die Leitung der Sekunda übernehmen. Natürlich waren wir schnell entschlossen. Die alte Kaiserstadt zog uns in hohem Grade an, sowohl durch die herrliche Natur, als durch ihre alte und reiche Kultur. Frankfurt selbst war damals nicht in besonderer Stimmung. Im Kriege 1866 hatte man die Stadt sehr unfreundlich behandelt, sie beinahe als Feindesland zurückgesetzt. Später gab sich das bald, aber immerhin wurde es den Frankfurtern nicht leicht, die alte Unabhängigkeit zu vergessen. Im Herbst 1869 war es leicht, eine passende Wohnung zu finden; so haben auch wir uns dort angenehm eingerichtet. Damals hatte die Stadt so gut wie keine Fabriken, der Gesamteindruck war der eines vornehmen, hochgebildeten, anmutigen Gemeinwesens. Die Zahl der Einwohner war etwa 80 000. Große Genüsse gewährten neben den mannigfachen wissenschaftlichen und künstlerischen Darbietungen kleine und größere Ausflüge nach Homburg, Wiesbaden, Mainz, an den Rhein, auch nach Heidelberg usw. Man konnte in der schönen Natur gewissermaßen schwelgen. Alltäglich ergingen wir uns gern in dem großen Stadtwald, der bequeme Ruhepunkte bot und der damals nicht überlaufen war.

Die Stätte meines Wirkens war das alte Gymnasium, das in einem engen Gäßchen lag; seitdem sind aus ihm zwei prächtige neue Gymnasien entstanden. Die Zahl der Schüler war verhältnismäßig klein, wir hatten etwa 250 Gymnasiasten; das Realgymnasium, die Musterschule, stand an Schülerzahl weit voran. Von den einheimischen Frankfurtern pflegten das Gymnasium nur die Söhne zu besuchen, welche sich auf die Universität vorbereiteten; es waren das aber besonders tüchtige, geweckte und liebenswürdige Leute. Aus ihnen sind manche hervorragende Persönlichkeiten hervorgegangen, welche eine Zierde des gesamten deutschen Lebens bilden. Es herrschte dort ein großer wissenschaftlicher Eifer und zugleich eine frische und fröhliche Stimmung. Für meine Stellung und Tätigkeit war namentlich Mommsen als Direktor wichtig. Er war ein Mann von universaler Bildung, von einer großen pädagogischen Leistungsfähigkeit und einer bewunderungswürdigen Arbeitskraft. Er war nach 1848 von den Dänen aus seiner amtlichen Stellung in Husum vertrieben, hatte dann an zwei verschiedenen Orten an Realschulen gewirkt, durfte aber Frankfurt als den Höhepunkt seines Wirkens betrachten. Er fand hier manches zu tun. Es hatte vorher eine bequeme, ja etwas laxe Art um sich gegriffen, den Schülern waren manche Freiheiten erlaubt, welche sich nicht mit einer strengeren Ordnung vertrugen; so war es unbedingt notwendig, hier eine bessere Disziplin einzuführen. Aber es war begreiflich, daß manche Schüler und Eltern das als unangenehm empfanden, und daß es anfänglich an Zusammenstößen nicht fehlte. Aber mehr und mehr haben sich die Frankfurter überzeugt, wie Tüchtiges sie an ihrem Gymnasialdirektor hatten. So wurde vor kurzem das Gedächtnis des hervorragenden Forschers und Pädagogen einmütig und dankbar begangen. Es war für das Gymnasium ein großer Gewinn, daß ein streng-wissenschaftlicher Geist alle Einrichtungen durchdrang. Dabei war Mommsen eifrig darauf bedacht, die überlieferten freieren Frankfurter Verhältnisse möglichst zu erhalten und sie gegen die preußische Bureaukratie zu verteidigen. Es gab z. B. besondere Studientage, die dem Einzelnen eine volle Entwicklung seiner Eigentümlichkeit erlaubten. Es bestand nicht das übliche Abiturientenexamen, sondern die jungen Leute konnten sich für das ganze Jahr selbst ein Hauptthema auswählen, über das dann vom Lehrerkollegium geprüft wurde. Alles zusammen hat dahin gewirkt, die jungen Seelen in vollen Fluß und in eine selbständige Denkweise zu bringen. Es wurde dort manches geleistet, was auch heute noch beachtenswert ist. Die Aufstrebenden bedürfen dringend größerer Freiheit und individueller Entwicklung.

Auch unter den Kollegen gab es bedeutende Persönlichkeiten. An Geist und Rednergabe übertraf Creizenach seine Umgebung. Es gab keine Veranstaltung gehaltvoller und nationaler Art, für die man ihn nicht zum leitenden Redner auserkor. Er hat namentlich das literarische Leben des Gymnasiums erheblich gefördert. Dann wirkte eine später viel besprochene Persönlichkeit bei uns: der katholische Geschichtslehrer Janssen. Er hatte im besonderen Religion und Geschichte für die katholischen Schüler zu lehren; Schwierigkeiten dieser Stellung haben wir damals nicht empfunden. Sowohl seine wissenschaftliche Tüchtigkeit als sein liebenswürdiger Humor wurden allgemein geschätzt. Ich war ihm schon als Niederdeutscher rasch nähergetreten, und ich habe öfter mit ihm die Probleme der Zeit durchgesprochen. Er war zunächst ein Gegner der Unfehlbarkeit und sprach mit großer Hochschätzung von Döllinger. Später aber hat er sich dem Unfehlbarkeitsdogma unterworfen und dies auch mir gegenüber für eine Pflicht des Katholiken erklärt; er verstehe nicht die Wege der Vorsehung, aber es sei eine heilige Pflicht, sich dem anzuschließen, was die Kirche als Wahrheit erkläre. Ich stand überhaupt mit den katholischen Forschern und Lehrern in dem besten Verhältnis, und es war mir ein persönlicher Schmerz, daß der vortreffliche Professor Wedewer, der Leiter der höheren katholischen Schule, so früh scheiden mußte. Auch später habe ich gerade bei gemäßigten Katholiken eine besonders freundliche Gesinnung nicht bloß für mich selbst, sondern auch für mein geistiges Streben gefunden. Meine eigene Stellung zu den Problemen war frei von aller konfessionellen Enge. Ich habe das Große, ja das Unentbehrliche am Katholizismus stets vollauf anerkannt, ohne je meiner freieren philosophischen und protestantischen Grundüberzeugung etwas zu vergeben. Einstweilen müssen wir uns gegenseitig vertragen.

Auch außerhalb des Lehrerkollegiums hatten wir manche freundschaftliche Beziehungen und geistige Förderungen. Ich gedenke z. B. des geistvollen Lucae, der mich in die Anfänge der Anatomie einweihte und in liebenswürdiger Weise auch auf meine philosophischen Fragen einging. Ferner haben wir freundschaftlich mit der Familie des berühmten Naturforschers Schleiden verkehrt und manchen gemeinsamen Ausflug gemacht. Schleiden war ein bedeutender und anregender Mann, der vorzüglich schildern konnte und uns nicht nur von Dorpat, sondern auch von Jena vieles erzählt hat; er hatte vollen Sinn für die Jugend und für die lebendige Gegenwart. Seine führende Stellung in der modernen Botanik ist ein Stück des wissenschaftlichen Ruhmes Jenas.

Im Jahre 1870 beschäftigten wir uns sehr mit einer größeren Reise nach der ostfriesischen Heimat zu den dortigen Verwandten und Freunden. Wir konnten mit rechter Befriedigung die vergangenen Jahre überdenken, und es war uns eine Freude, von all diesen Erlebnissen den Freundeskreisen zu berichten; unsere gemeinsame Lebensfahrt war ein Wagstück, aber dies Wagstück durften wir als gelungen betrachten, alle Sorgen waren überwunden, in freiem Ausblick lag das Leben vor unseren Augen. Wir begannen diese Reise ohne den nahe bevorstehenden Krieg ernstlich zu fürchten. Man erwartete zuversichtlich, daß es dem Geschick unserer Staatsmänner, namentlich Bismarcks, gelingen werde, den Krieg zu verhüten. So fuhren wir Anfang Juli zunächst nach Kassel, um die dortige Industrie-Ausstellung zu sehen. In Hannover wurden Jugendfreunde meiner Mutter besucht. Die Reise ging über Oldenburg nach Ostfriesland, das inzwischen dem Eisenbahnnetz angeschlossen war; Jugenderinnerungen meiner Mutter wurden aufgefrischt. Inzwischen aber hatte sich die Lage Tag für Tag immer drohender gestaltet. Schon in Esens schien der Krieg unvermeidlich, in Aurich vernahmen wir die Kriegserklärung. Aber man empfand bei allem Ernst der Lage wohltuend die Festigkeit und Sicherheit der preußischen Art. Im besonderen wurden alle Seezeichen schleunigst entfernt, so daß feindliche Kriegsschiffe unfehlbar stranden mußten. Für uns galt es, die Reise eilig abzubrechen und auf irgendwelchen noch offenen Wegen Frankfurt zu erreichen. Unter nicht geringen Mühen gelang es, über Emden und Hamm nach Köln durchzukommen. Am Morgen des folgenden Tages empfingen wir unvergeßliche Eindrücke im Kölner Dom, wo eine unzählige Menschenmenge sich zusammenfand und am Gottesdienst teilnahm. Man empfand deutlich das Verschwinden alles Unterschiedes der Konfessionen gegenüber der gemeinsamen Aufgabe des Vaterlandes. In Frankfurt angekommen, konnten wir aus den Fenstern unserer Wohnung die endlosen Militärzüge sehen, deren Insassen in den Krieg gingen; die jüngeren Gymnasiasten waren eifrig bemüht, Tag und Nacht bei der Verpflegung der Truppen zu helfen. Man betrachtete damals jenen Krieg als eine sehr ernste Sache, und wenige dachten, daß er so rasch beendet werden würde. Bekanntlich meldeten zunächst die Franzosen übertriebene Siegesnachrichten, dann kamen die Berichte von Wörth usw., die erste Nachricht darüber wurde im Gottesdienst von der Kanzel verkündet. Dann kamen ein paar bange Tage um Metz herum, bis es deutlich wurde, daß die Sache sich zum Vorteil der Deutschen neigte. Freilich hörte man zugleich von sehr schweren Verlusten, durch die der Sieg erkämpft sei. Aber man war nun schon auf weitere gute Nachrichten gefaßt, bis schließlich die Nachrichten von Sedan alle Erwartungen übertrafen; namentlich bei der Jugend bewirkte die Nachricht von der Gefangennahme Napoleons einen stürmischen Jubel. Allgemein wurde damals ein rasches Ende des Krieges erwartet. Wir wissen, daß er sich länger ausdehnte, und daß es an einzelnen Wechselfällen nicht fehlte. Das Volk wurde recht ungeduldig, man verstand nicht, weshalb die Belagerung von Paris so langsam verlief; dann kamen die Heldentaten Werders, endlich mußte sich Paris ergeben. Was die Friedensbedingungen betraf, so wurde vor dem Kriege wenig an das Elsaß gedacht; man hatte sich in diesen Verlust gefunden. Als nun aber der Kampf entbrannt war, da erhob sich die allgemeine Forderung, die im Grunde deutsch gebliebenen Länder für Deutschland wiederzugewinnen.

Inzwischen war meine eigene wissenschaftliche Arbeit ruhig fortgeschritten, und ich durfte die baldige Vollendung meiner Schrift über die aristotelische Methode zuversichtlich erwarten. Dann aber kam ein Ereignis, das meinem Lebensweg eine neue Richtung gab: die Berufung nach Basel. Die Nachricht traf mich ganz unerwartet. Allerdings war mir aufgefallen, daß das Basler Universitätsverzeichnis nicht den Namen Teichmüllers enthielt, aber ich hatte nichts von einer Berufung gehört und erklärte mir jenen Umstand daraus, daß er einen Urlaub antreten wolle. Eines Morgens aber überbrachte mir ein Dienstmann einen von Frankfurt aus geschriebenen Brief von Teichmüller, der mich bat, ihn sofort zu besuchen. Nun erfuhr ich, daß er nach Dorpat übersiedeln wolle, wohin ihn Familienbeziehungen riefen und wo ihn eine weit größere Lehrtätigkeit erwartete, zugleich aber, daß man in Basel ernstlich daran denke, mich als seinen Nachfolger zu berufen. Ich hatte nur meine damals noch kleinen Schriften den Behörden zu übersenden und meine prinzipielle Geneigtheit zu erklären; bald aber kam der damalige Leiter der Basler Universität, Ratsherr und Professor Vischer, zu mir, und die Sache war rasch in angenehmster Weise erledigt. So war ich im Alter von 25 Jahren ein wohlbestallter ordentlicher Professor der Philosophie und der Pädagogik. In Frankfurt bedauerte man meinen Fortgang aufrichtig, Lehrer und Schüler zeigten mir in mannigfacher Weise ihre Schätzung, auch die städtischen Behörden taten alles, mich in Frankfurt zu halten, aber im Grunde verstand jeder vollauf, daß ich die Berufung an eine Universität nicht ablehnen konnte. So bin ich in aufrichtiger Gesinnung und mit herzlicher Dankbarkeit von Frankfurt geschieden. Ich stehe noch immer mit den damaligen Schülern in einer gewissen Verbindung und habe das 400jährige Jubiläum des alten Gymnasiums in treuer Gesinnung miterlebt. Es war mir eine große Freude, daß man damals an mich als Festredner dachte; leider verhinderten gehäufte wissenschaftliche Arbeiten mein Kommen.

 


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