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Erster Teil.

Land und Leute.

Ostfriesland, meine Heimat, ist von kleinem Umfange, aber es hat eigentümliche Züge, und es hat dem deutschen Leben manches geleistet. Zwischen der Nordsee, Holland, dem Herzogtum Arenberg mit seinen streng katholischen Einwohnern, und Oldenburg gelegen, ist es vorwiegend auf sich selbst angewiesen. Die ganzen Jahrhunderte hatten einen harten Kampf gegen das wilde Meer zu führen, und zerstörende Sturmfluten leben dauernd in der Erinnerung der Bevölkerung fort. Der Boden ist verschiedener Art, und er stellt den Einwohnern manche Aufgaben. Der Rand, die Marschen, ist am fruchtbarsten, er besonders hat den Reichtum des Landes begründet, dann kommt die Geest mit ihren auslangenden wirtschaftlichen Verhältnissen, endlich das Moor, auf dem man ein hartes Leben zu führen hat. So bilden Landwirtschaft, auch die hier sehr blühende Pferdezucht, sodann die Seefahrt und der Handel die Quellen des wirtschaftlichen Wohlstandes. – Eigentümlich ist auch die nationale Lage. Ostfriesland steht zwischen Holland und Deutschland; mannigfache Kulturbeziehungen weisen nach beiden Seiten; es hängt eng mit jener Stellung zusammen, daß die Reformation hier schon 1520 Eingang fand und sich eigentümlich entwickelte. Ein Teil des Landes wurde lutherisch, der andere reformiert; das Luthertum kam vom Osten, während im Westen die holländischen Beziehungen voranstanden. Noch zu meiner Jugendzeit überwog bei den Reformierten die holländische Kirchensprache. – Die ältere Geschichte des Landes ist mannigfach mit Sagen verwoben und hat noch jetzt manche ungeklärte Fragen. Die politischen Verhältnisse haben sich eigenartig gestaltet, so daß Ostfriesland eine besondere Stellung in Deutschland besaß. Im späteren Mittelalter herrschten einzelne Häupter der Familien, durchgängig aber bestand eine volle Gemeindefreiheit, so daß hier das Lehnswesen keinen Eingang fand. Nach ungeheuren Zerrüttungen und wilden Kämpfen hob sich schließlich das Haus Zirksena zur Würde eines Reichsgrafen 1454 empor. Aber der Graf und spätere Fürst war mehr der erste unter anderen als ein souveräner Herr. Die fürstliche Macht wurde durch die Landstände sehr beschränkt, welche sich nach alter Art in Adel, Städte und Bauernschaft teilten, so daß auch die Bauernschaft am politischen Leben selbständig teilnahm. Einzelne Fürsten, vor allem Edzard der Große (1491-1528), haben Bedeutendes geleistet. Aber durchgängig war das Leben ein unablässiger Kampf zwischen den Fürsten und den Ständen, welche gelegentlich eigene Heere aufstellten und auch eigene Gerichtshöfe besaßen. Das fürstliche Haus hat aber dazu gewirkt, die Selbständigkeit Ostfrieslands gegen Holland zur wahren. Zu Anfang des 16. Jahrhunderts lag es sehr nahe, daß das Land mit Burgund vereinigt wurde und damit die Schicksale Hollands geteilt hätte. Immerhin blieb dauernd bis zum Aussterben des Fürstenhauses ein nicht geringer Einfluß von Holland. Bis dahin hatte Emden, die weitaus größte und reichste Stadt des Landes, eine holländische Garnison. 1744 kam Ostfriesland an Preußen. Friedrich der Große hat das Land besucht und viel Interesse für den Aufschwung des Handels erwiesen, einzelne Anekdoten von ihm leben noch jetzt im Volksmunde. 1807 fiel Ostfriesland an Holland, dann an Frankreich (Napoleon), 1815 wurde es Hannover einverleibt. Den Ostfriesen war dies wenig genehm. Sie erwarteten von der größeren Macht Preußens mehr Förderung für Handel und Schiffahrt, sie hatten sich dort überhaupt wohl gefühlt. Ganze Jahrzehnte hindurch wurde der Geburtstag Friedrich Wilhelms III. in kleineren Kreisen gefeiert; es ist charakteristisch, daß auch mein Vater in seinem bis 1851 reichenden Notizbuch gewissenhaft den jemaligen Geburtstag Friedrich Wilhelms III. noch lange nach dessen Tode eingetragen hat. – Kaum ein einzelnes deutsches Land hat eine so entwickelte geschichtliche Forschung, wie Ostfriesland. Schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts sind bedeutende Werke darüber erschienen und haben Liebe zur friesischen Heimat wie das Bewußtsein einer Eigenartigkeit gestärkt. Merkwürdig ist es, daß die friesische Sprache, die in der Mitte des Mittelalters vollauf herrschte, schon im 16. Jahrhundert mehr und mehr zurückgedrängt wurde und nur in den Dörfern eine feste Wurzel hatte. Das 17. Jahrhundert brachte dem Niederdeutschen die volle Herrschaft. Manche Bezeichnungen aber haben sich in friesischer Form treu gehalten, und eine Fülle von eigentümlichen friesischen Eigennamen sind jetzt noch im Gange und Schwange.

Wenden wir uns näher zu den Einwohnern des Landes, unter denen ich aufwuchs. Eigentümlich ist ihnen Ernst und Festigkeit, Tüchtigkeit der Arbeit, eine große Widerstandskraft gegenüber Gefahren, aber auch eine gewisse Ruhe und Zurückhaltung, ja Schwerfälligkeit des Ausdrucks. Das Volk ist mehr gediegen und leistungsfähig als nach außen hin glänzend.

Von Anfang hatten die Friesen harte Kämpfe zu führen, einen Kampf gegen das wilde Meer, das ihre Fluren verheerte, einen Kampf gegen anliegende Fürsten, welche ihre Unabhängigkeit bedrohten, einen Kampf auch zur Erhaltung ihrer besonderen Art, welche sie auch zähe gegen kirchliche Satzungen wahrten. So haben sie eine große Selbständigkeit in Verfassung, Sitte und Denkweise erwiesen und sich einen eigentümlichen Lebensstil ausgebildet. Schon von altersher trugen sie die Bezeichnung »freie Friesen«. Sie haben ein ausgesprochenes Rechtsbewußtsein, und nichts ist ihnen so unerträglich als eine Schmälerung ihres guten Rechts; es ist kein Zufall, daß eine besonders verbreitete Schrift des großen ostfriesischen Juristen Ihering den Titel trägt »Der Kampf ums Recht«. Das alte friesische Recht ist reich an anschaulichen Wendungen, es zeigt deutlich, daß diesem Volksstamm keineswegs die Gabe dichterischer Gestaltung fehlt. Bemerkenswert ist dabei, daß die Friesen die Freiheit über alles liebten, daß sie aber keineswegs Anhänger einer völligen Gleichheit waren. Borchling (Die älteren Rechtsquellen Ostfrieslands, 1906, S. 12) sagt: »Kein anderes Recht hat solche fein differenzierte und ausführliche Bußregister aufzuweisen wie das friesische, und darin stimmen die Lex Frisionum und die jüngeren ostfriesischen Gesetze aufs engste überein«. Übrigens zeigt das friesische Recht auch dieses, daß es auf diesem Boden nicht an höherer Kultur fehlte; es zeigen z. B. Moorfunde, daß um die Mitte des ersten Jahrtausends n. Chr. die kunstvolle Bortenweberei auch in Ostfriesland vorhanden war; charakteristisch für die Wertung der Berufe ist eine Stelle aus der Lex Frisionum, die der feminae fresum facienti die gleiche höhere Buße zuspricht wie dem Goldschmied und dem Harfner.–

Eine besondere Höhe des friesischen Bauernstandes wird auch in amtlichen Verfügungen anerkannt. Bemerkenswert ist eine Verfügung der Hannoverschen Regierung vom 21. Februar 1818 über »das Verhalten der Beamten in Ostfriesland den Eingeborenen gegenüber«, welche das Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden (Bd. XV, 1905) mitteilt. Die Beamten werden dabei angewiesen »bei allen Verhandlungen mit Personen des dritten Standes niemals die besonderen Verhältnisse desselben in Ostfriesland aus den Augen zu setzen und in Erwägung zu ziehen, daß der ostfriesische zu den Ständen gehörige Landmann freier Grundeigentümer ist, und sich darunter zum Teil Personen befinden, welche an Bildung und Wohlhabenheit weit über den Bauern in anderen Provinzen stehen, ohne jedoch mehr Rechte zu haben als die übrigen.«

Die Beamten werden zugleich angewiesen, nicht mehr den Ausdruck »Amtsuntertanen«, sondern »Amts-Eingesessenen« zu verwenden.

Der Friese hängt sehr an der Religion, aber er ist von großer Duldsamkeit für Andersgläubige. Bemerkenswert ist auch, daß schon seit der Reformation im größten Teil von Ostfriesland das volle Recht der Gemeinde bestand, den Geistlichen zu wählen, und daß auch die Frauen, sofern sie Hausbesitzer waren, das volle Wahlrecht hatten. Was die geistige Bewegung betrifft, so hatte Ostfriesland schon vor der Reformation manche Schulen, auch Dorfschulen, ja es ist wohl an keiner Stelle ein Schulzwang früher erstrebt als in Ostfriesland. Freilich ist dieser Schulzwang nicht energisch ausgeführt. Das literarische Leben bewegt sich entsprechend der abgeschlossenen Lage des Landes namentlich um ostfriesische Fragen und Aufgaben. Die Ostfriesen haben ihre geistige Kraft vor allem der eigenen Heimat gewidmet, aber es sei nicht vergessen, daß das kleine Land dem deutschen Leben manche hervorragende Forscher auf verschiedenen Gebieten gegeben hat. Vor allem sind zwei ausgezeichnete Juristen aus Ostfriesland hervorgegangen. Hermann Conring (1606 bis 1681), ein universaler Gelehrter, der von ganz Europa gefeiert wurde; er hat das besondere Verdienst, die deutsche Rechtsgeschichte begründet zu haben. Der andere Jurist von erstem Rang ist allen bekannt: Rudolf Ihering. Dann hat Ostfriesland in den beiden Fabricius bedeutende Astronomen gehabt. David Fabricius David Fabricius (1564-1617). Aus seinem Briefwechsel mit Kepler ist namentlich eine Stelle bemerkenswert, welche den Unterschied der Weltanschauungen beider Männer klar beleuchtet. Kepler (Werke I, 332) schreibt: Tibi deus in naturam venit, mihi natura ad divinitatem aspirat. korrespondierte eifrig mit Kepler, seine Beobachtungen haben dazu beigetragen, das gewaltige Werk Keplers über den Planeten Mars zu fördern; der Sohn, Johannes Fabricius, aber ist der Entdecker der Sonnenflecke. In der Medizin hat Ostfriesland ebenfalls zwei berühmte Männer hervorgebracht. Reil Reils Andenken wird nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch durch die ehrenvolle Erwähnung in den Goetheschen Werken dauernd festgehalten. Im Juli 1814 verfaßten Goethe und Riemer ein Vorspiel zu Theatervorstellungen in Halle. Dies Vorspiel scheint in Reils früherem Garten stattgefunden zu haben. Mag Goethe selbst nicht viel für jenes Vorspiel getan und Riemer die Hauptsache geleistet haben: Goethe hat die hier dem Andenken Reils erwiesene Ehrung in seine Werke aufgenommen. Es heißt dort im dritten Auftritt:

Und dieses Leben sollt ihr billig kennen,
Das Land wohl kennen, dem es angehört,
Das immerdar in seiner Fluren Mitte
Den deutschen Biedersinn, die eigne Sitte,
Der edlen Freiheit längsten Sproß gewährt:
Das meerentrungene Land von Gärten, Wiesen,
Den reichen Wohnsitz jener tapfern Friesen.


(Siehe Goethe, Vollständige Ausgabe letzter Hand, II. Bd., S. 331.)
Merkwürdigerweise ist diese Huldigung des friesischen Lebens und Landes wenig bekannt.
(† 1813) hat als ein hervorragender Mediziner in den Freiheitskriegen die Lazarette geleitet und vorher mehrere bedeutende wissenschaftliche Werke geschaffen. Sodann ragt unter den Medizinern Frerichs hervor, den wir nicht näher zu schildern brauchen. So dürfen wir nicht denken, es sei Ostfriesland im geistigen Leben zurückgeblieben.


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