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Ich wurde geboren am 5. Januar 1846 als erstes Kind nach zehnjähriger Ehe. Mein Geburtshaus steht an der Ecke der Osterstraße und der Neustadt. Mein Vater kam aus dem friesischen Jeverland. Er stammte aus einem alten, ursprünglich wohlhabenden Bauerngeschlecht, aber die Familie verlor durch die furchtbare Sturmflut 1825 ihr Besitztum. Das trieb meinen Vater dazu, die Beamtenlaufbahn beim Postwesen einzuschlagen. Er war zuerst Postverwalter in Wittmund, dann aber Vorstand des Hauptpostamtes in Aurich. Er hatte die beste Aussicht eine größere Stellung im Hannoverschen zu erlangen, aber er fühlte sich viel zu sehr als guter Ostfriese, um von der Heimat zu scheiden. Ich war fünfeinhalb Jahr alt, als er starb, aber ich habe einen deutlichen Eindruck von seiner Persönlichkeit. Er hing mit großer Liebe an mir und pflegte mich täglich von der kleinen Spielschule abzuholen, auch trug er gewissenhaft jedes Monatsdatum meines Alters in seine Notizen ein. Merkwürdig ist es, daß ich von ihm eine Begabung für das Kopfrechnen und ein großes Interesse für Statistik und Handelsverhältnisse ererbt habe, während meine Angehörigen mütterlicherseits dafür wenig Interesse hatten. Dieses Interesse für Statistik usw. hing in keiner Weise mit meiner geistigen Hauptrichtung zusammen. Aber es hat mich treu begleitet, und meine Bremer Bekannten haben mich oft damit geneckt, wie genau ich über die Handelsbeziehungen, über die Schiffahrt usw. orientiert war. Wahrscheinlich hätte mein Vater stärker auf mich wirken können, wenn er uns nicht so früh genommen wäre.
Unvergleichlich tiefer hat meine Mutter auf mich gewirkt, ja sie hat die Grundzüge ihres Wesens auf mich übertragen. Sie war die Tochter eines sehr angesehenen und geschätzten Geistlichen, der (1776–1848) zu den Führern des ostfriesischen Rationalismus gehörte Über meinen Großvater Dr. phil. Rudolf Christoph Gittermann und über seine Schriften berichtet der »Neuer Nekrolog der Deutschen«, 26. Jahrgang, 1848, 1. Teil, Seite 362 bis 375.. Er hat im Geiste einer besonnenen Aufklärung unermüdlich eine gemeinnützige Tätigkeit geübt. Jener Rationalismus verstand das Christentum vornehmlich moralisch; Jesus erschien an erster Stelle als Menschen- und Kinderfreund. Dieser Rationalismus hatte unverkennbar eine gewisse Nüchternheit, und er hat den Stand einer Popularphilosophie nicht überschritten, aber er hatte große Verdienste um die Kulturarbeit, an erster Stelle um den Unterricht. Mein Großvater teilte lebhaft die Bestrebungen des Lehrerstandes, und er hat in seinem Hause eine Privatschule eingerichtet, die über Deutschland hinaus von Holländern, Norwegern usw. besucht wurde. Auch an künstlerischen Antrieben fehlte es ihm nicht. Er hat in seinen jüngeren Jahren Romane geschrieben, und einzelne seiner Gedichte haben auch in weiteren Kreisen Anklang gefunden. Auch hat er eifrig für die Hebung des Gartenwesens gewirkt. Noch jetzt hat das Dorf, in dem er die Hauptzeit seines Lebens wirkte, dank seiner Anregung besonders gut gepflegte Baumpflanzungen. Für seine Stellung zur Philosophie ist die Tatsache bemerkenswert, daß er im Jahre 1801 an der Universität Rinteln mit einer Dissertation promovierte, welche den Titel trug: »Der Mensch ist von Natur entweder sittlich gut oder sittlich böse«. Ausdrücklich wird dabei bemerkt »nach Kantischen Prinzipien«. Für Ostfriesland selbst war die Erwerbung dieser Doktorwürde mehr eine Hemmung als eine Förderung seiner sozialen Stellung. Als Doktor der Philosophie erschien er leicht als ein vom Volk abgelöster Gelehrter, und ein »Doktor« außerhalb der Medizin galt als etwas Wunderliches. Es ist bemerkenswert, daß dieser tüchtige, rastlos tätige, um das Gemeinwohl unablässig bekümmerte Mann nie eine Wahlstelle erhalten hat. Er konnte an dem Orte seiner Tätigkeit, dem kleinen Eggelingen, ruhig wirken und hatte dabei den Vorteil, zwischen dem größeren Jever und dem kleineren Wittmund lebhafte gesellschaftliche Beziehungen unterhalten zu können. Jedenfalls war das großelterliche Haus voll geistiger und gesellschaftlicher Anregungen. Meine Mutter empfing ihre Bildung und ihren wissenschaftlichen Unterricht von ihrem Vater. Dieser war keineswegs ein Freund von gelehrten Frauen; meine Mutter meinte oft, daß nach dieser Richtung wohl mehr hätte geschehen können. Während mein Großvater geistig und wissenschaftlich schaltete, war die Großmutter überwiegend praktisch gerichtet und hatte vor allem den Ehrgeiz, alles, was nur möglich war, im eigenen Hause zu erzeugen: es wurde gesponnen, gewebt, Bier gebraut usw. Meine Mutter hatte von Hause aus einen frischen und geweckten Sinn, sie galt als klug und liebenswürdig und wurde von allen Freunden sehr geschätzt. Sie verstand es vortrefflich, die Eindrücke von Menschenleben und Natur wiederzugeben. Sie hat im Verlauf ihres Lebens eine große Elastizität und Kraft erwiesen. Von einem jungen talentvollen Emder Maler Camminga besitze ich ein Bild von ihr, welches sie als junge, liebreizende Frau darstellt; mit einem Zug tiefer Innerlichkeit, beinahe Schwermut, schaut sie uns an. Ich hatte später die Freude, daß der berühmte Kunstkenner Jacob Burckhardt voll Anerkennung dieses Bild als ein »feines Bild« bezeichnete. Meine Mutter war von Jugend an voll literarischer Interessen, sie hatte ein ausgezeichnetes Urteil, und so konnte ihr das übliche gesellschaftliche Leben und Treiben um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht voll genügen. Eine innige Freude hatte sie an der Natur, am Wald und am Meer. Sie hat in ihren Tagebüchern dieser Freude wiederholt Ausdruck gegeben.