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Die Durchbildung meiner Überzeugungen

Für mich galt es nun die Grundgedanken durchzuarbeiten und auszuführen, die ich als für mein Streben entscheidend betrachtete. Mehrere Jahre habe ich in angestrengter Arbeit die Grundlagen meiner philosophischen Denkweise niederzulegen versucht. Im Jahre 1885 erschienen die »Prolegomena« und als Hauptwerk 1888: »Die Einheit des Geisteslebens in Bewußtsein und Tat der Menschheit«. In jenen »Prolegomena« suchte ich ein Gesamtbild zu entwickeln, das aus der Tiefe menschlichen Wesens alle Mannigfaltigkeit des Daseins umfassen sollte. Ich schied dabei deutlich ein Naturgeschehen des Geistes von einem existenten Leben, sowie eine geistige Realität von einer seelischen Existenz.

Es schien mir verfehlt, sei es zu Anfang, sei es im Ergebnis, von vornherein einen besonderen Punkt festzulegen und daran alles andere zu hängen; verfehlt, vor dem tatsächlichen Geschehen Bedingungen, Formen, Maße endgültig festzulegen. So erstrebte ich einen geistigen Positivismus, dem die Tat mit ihrer eigenen Wirklichkeit auch über die Wirklichkeit der Voraussetzungen und Bedingungen entschied.

Einen Ausgangspunkt fand ich in dem, was ich »Arbeitswelt« benannte; es galt dabei, durch ein Verfahren der Reduktion die scheinbar festen und starren Gebilde in lebendiges Tun aufzulösen und alles Besondere als Bezeugung eines Ganzen zu verstehen; es galt, ein Prinzipielles, das in der greifbaren Leistung verschlossen, ja begraben war, zu erwecken und zu befreien. Wichtig war mir dabei der Begriff des »Syntagma« als eines auf geschichtlichem Boden aufsteigenden Gesamtgeschehens eigentümlicher Art; diese Syntagmen sollten von der Arbeitswelt geprüft und es sollte dadurch eine immanente Realkritik des Geschehens gewonnen werden.

Die »Einheit des Geisteslebens« sollte diese Grundüberzeugungen weiter ausführen; auch sie begann mit der Gesamtarbeit der Menschheit, wie sie in der Geschichte verkörpert wird. Das Werk versetzte unmittelbar in die Lebenssysteme der Gegenwart, es prüfte mit seinen Methoden sowohl das System des Naturalismus als das des Intellektualismus; die positiven Leistungen wurden vollauf anerkannt, dann aber eine immanente Kritik unternommen, bei der sich als beiden Systemen gemeinsam die Leugnung der Ursprünglichkeit und Selbstwertigkeit des seelischen Innenlebens ergab. Eine positive Leistung wurde dann durch die Entwerfung eines Lebenssystems einer Personalwelt unternommen, und es wurde die Behauptung durchgeführt, daß alle Lebenssysteme sich auf dem Grunde einer Personalwelt entwickeln müssen und nur in Verbindung mit ihr einen geistigen Gehalt erlangen; es wurde damit ein Kultursystem des universalen Selbstlebens erstrebt. Abschließend wurden als die Grundfehler des Naturalismus und des Intellektualismus folgende angeführt: der Naturalismus irrt darin, daß ihm das, was die Natur im Erlebtwerden vom Geiste wird und leistet, als aus ihren eigenen Kräften hervorgebracht gilt, und daß damit bloße Bedingungen des Geschehens für seine schaffenden Gründe ausgegeben werden. Der Intellektualismus aber irrt darin, daß er den Geistes- und den Gedankengehalt gleichsetzt und die Denkoperationen nicht als die Form, sondern als den Kern der Wirklichkeit behandelt.

Gegen die nähere Gestaltung beider Bücher war manches einzuwenden. Zunächst bin ich in dem Streben, die Darstellung lebendig und anschaulich zu gestalten, nicht selten ins Gekünstelte und Gezierte verfallen; ich wollte etwas unmittelbar erzwingen, was sich nur durch eigene Erfahrung und Weiterarbeit erreichen läßt; vor allem aber war der Inhalt vielfach noch nicht zur nötigen Klarheit und Geschlossenheit durchgearbeitet. Immerhin war das Streben nicht wertlos, und es hat mich selbst weitergeführt. Die Aufnahme meines Werkes war recht kühl. Ich muß mit Dank anerkennen, daß ein hervorragender Forscher wie Professor Natorp es eingehend würdigte, und daß der viel zu früh verstorbene vortreffliche Seydel in Leipzig mit großer Wärme auf die Bedeutung meines Strebens hinwies. Aber das waren einzelne Stimmen.

Ein Gegenstück und eine Ergänzung jenes systematischen Werkes bildeten »Die Lebensanschauungen der großen Denker« (1890). Diesen Gegenstand hatte ich schon in Basel als eine Vorlesung behandelt und dafür sofort viel Teilnahme gefunden. Es wurde dabei versucht, die Gedankenwelten der großen Denker von innen aus zu beleben und die hier gebotene Gestaltung des Menschenlebens anschaulich darzustellen. Das Werk forderte eine gründliche Forschung, aber diese Forschung mußte im Hintergrunde bleiben, um die Hauptsache nicht zu schädigen; der Schneider sollte nach dem Ausdrucke Leibniz' »die Nähte nicht sehen lassen«. Auch dies Buch blieb anfänglich unbeachtet. Ein lebhafteres Interesse hat es zuerst in Wien gefunden. Dann aber ging es rasch vorwärts, dem Erscheinen der 2. Auflage (1896) folgte rasch Auflage über Auflage, und augenblicklich ist die 15. und 16. Auflage im Druck. Natürlich war ich eifrig bemüht, das Werk sowohl in der Form als im Inhalt weiter und weiter zu verbessern und alle Schwächen, welche meiner Darstellung anhingen, möglichst zu heben. Das Buch ist jetzt in eine große Anzahl fremder Sprachen übersetzt.

Eine Gelegenheitsschrift war die Seebeck gewidmete Schrift über »Bilder und Gleichnisse in der Philosophie«(1880). Es schien mir nicht unwichtig, dieses Problem näher zu erörtern und dabei das Wirken der Phantasie auf die Gedankenentwicklung zu verfolgen. Ich habe später eine besondere Abhandlung über die Bilder und Gleichnisse bei Kant geschrieben, und es ist mir eine besondere Freude, daß noch in jüngster Zeit dieses Problem von juristischer Seite durch meinen hochgeschätzten Kollegen Fischer in seiner Bedeutung für das Recht anerkannt und vollauf gewürdigt ist. Sodann verfaßte ich 1886 die Schrift »Beiträge zur Geschichte der neueren Philosophie«; sie sollte sich namentlich darum bemühen, die Bedeutung der älteren deutschen Denker ins Licht zu stellen, da diese oft nicht genügend anerkannt werden. Im besonderen war es mir wertvoll, den großen Naturforscher Kepler auch als einen bedeutenden Philosophen zu zeigen. Auch das möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß ich an der Festschrift zum 50jährigen Doktor-Jubiläum des sehr verehrten Eduard Zeller beteiligt war; ich habe dort über die Würdigung Comte's und des Positivismus geschrieben. Auch bei diesem Gegenstand forderte ich eine Berufung von dem Bilde des Bewußtseins, wie es vorwiegend durch die Endergebnisse, nicht durch die lebendigen Kräfte bestimmt wird, an die schaffende und fortwirkende Tat der Menschheit; ich forderte einen Positivismus, der die ganze Wirklichkeit umspannen, den Geist und die Geschichte aufnehmen, durchgängig die lebendigen Kräfte vor den Ergebnissen würdigen möchte. So war auch über die Hauptschriften hinaus jener Zeitabschnitt für mich nicht unfruchtbar.

Inzwischen waren große Wandlungen im staatlichen und im literarischen Leben eingetreten. Der alte Kaiser war nach ruhmreicher und selbstloser Regierung gestorben; daß sein Sohn, Kaiser Friedrich, nach erschütterndem Krankenlager ihm so bald folgte, war für unser Haus ein besonderer Schmerz. Denn der Vater meiner Frau, Arnold Passow, war zusammen mit dem Kronprinzen wissenschaftlich erzogen worden und es war daraus ein dauerndes Freundschaftsverhältnis entstanden; auch bei unserer Hochzeit erwies jener Prinz seine freundschaftliche Teilnahme. Als ich ihm als Prorektor bei einem Weimarischen Fest begegnete, kam er sofort zu mir und bat mich, nach der Tafel zu ihm zu kommen; wir haben uns dann längere Zeit unterhalten, und die Art, wie er über den verstorbenen Freund sprach, zeigte die innigste Teilnahme und Herzlichkeit; er war so ergriffen von der Erinnerung an seinen Freund, daß mir später wohl der Gedanke aufstieg, er selbst habe schon damals die ihm drohende Gefahr gefühlt. Nun war die Herrschaft an Wilhelm II. gekommen, und es konnte damals niemand voraussehen, daß dieser so bald sich von dem großen Staatsmann trennen und eigenwillig eigne Wege wagen werde.

In jene Zeit fiel auch ein Umschwung im literarischen Leben: der geistlose und oberflächliche Positivismus hatte seine Rolle ausgespielt, eine stärkere Wendung der Zeit zum Subjekt war augenscheinlich. Hatte der Realismus seine Welt von den Gegenständen um uns her aufgebaut, so hielt sich der Subjektivismus ganz an die Zuständlichkeit der Seele, an das freischwebende Gefühl. Das ergab ein völlig entgegengesetztes Leben: dort eine Bewegung von außen nach innen, hier von innen nach außen, dort die greifbare Leistung, hier die unfaßbare Stimmung, dort mehr Festigkeit, hier mehr Flüssigkeit, dort ein Arbeiten für die Gesellschaft, hier ein Sorgen für das Befinden des Einzelnen, dort eine Abschleifung der Unterschiede, hier eine Hervorkehrung des Eigentümlichen, dort eine Anfügung in die Kette der Zeiten, hier eine Ergreifung des unmittelbaren Augenblicks, dort eine wissenschaftliche, technische und soziale, hier eine ästhetische und individuelle Kultur, ein Überwiegen des künstlerischen und literarischen Schaffens. Dieses Schaffen, dessen bedeutendster Ausdruck Nietzsche war, war mir in manchen Stücken sympathisch, aber es widersprach meinem metaphysischen und religionsphilosophischen Streben; die fieberhafte Aufregung des Subjekts schien mir dem Leben keine genügende Tiefe zu geben und es zu wenig auf seine Selbsttätigkeit zu stellen. Nietzsche selbst hat die Schranken jenes Subjektivismus vielfach überschritten, und er ist trotz der Ablehnung aller Metaphysik zum Metaphysiker der freischwebenden Stimmung geworden.

Nach Veröffentlichung jener Schriften durfte ich erwarten, auch in der Gelehrtenwelt mehr Beachtung zu finden, um so mehr, da meine akademischen Vorlesungen fortwährend zahlreiche Hörer und Schüler fanden. Tatsächlich ist damals die deutsche Gelehrtenwelt an meinen Bestrebungen mit voller Gleichgültigkeit vorbeigegangen, und es war unverkennbar, daß die akademischen Kreise meine Tätigkeit als für die Wissenschaft wertlos betrachteten. In jener Zeit waren zahlreiche Verschiebungen in den Universitäten eingetreten, aber ich habe nie eine Berufung an eine große Universität erhalten. Es dauerte lange, bis überhaupt eine weitere Berufung an mich kam. Im Jahre 1896 habe ich einen liebenswürdigen Ruf nach Freiburg durch die badische Regierung erhalten, aber ich konnte trotz der Reize jenes Ortes mich nicht entschließen, Jena zu verlassen, in das ich mich eingelebt hatte, wo meine Kinder prächtig gediehen, wo ich auch bei den Studenten eine schöne Wirksamkeit fand. – Willkommene Unterbrechungen brachten uns zwei Reisen nach Italien, die erste 1890 nach Venedig und Florenz, das wir beide besonders lieben, die zweite nach Rom, das unvergeßliche Eindrücke und bleibende Anregungen gab; es fehlt dem Leben etwas, das keine Fühlung mit Rom gewinnt.

Weiterer Ausbau.

Meine wissenschaftliche Arbeit mußte sich nun darauf richten, die gewonnenen Grundlagen näher auszubauen; dies sollte zunächst in einem Buch »Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt« geschehen. Ich empfand, über die Religion hinaus, stark die Unwahrhaftigkeit des gegenwärtigen Lebens, das den Schein einer Geistigkeit trug, in Wahrheit aber an erster Stelle von materiellen Zielen beherrscht wurde. Die von mir dargebotenen Untersuchungen mußten dem konventionellen und offiziellen Idealismus schroff widersprechen, denn sie behandelten viel zu sehr die Probleme als im Fluß, und sie verlangten viel zu eingreifende Umwandlungen, um denjenigen zu gefallen, denen alles fest und fertig dünkte. Jene Schrift enthielt einen einfachen Aufbau. Sie bot in einem aufsteigenden Teil drei Stufen der Bewegung: den Kampf um eine Selbständigkeit des Geisteslebens, den Kampf um einen Charakter des Geisteslebens, den Kampf um eine Weltmacht des Geisteslebens. Der absteigende Teil gab ein Gesamtbild im Verhältnis zur Zeit, er behandelte dann die einzelnen Hauptgebiete. Durch das Ganze ging die Forderung, das zur Aufrechterhaltung des geistigen Lebensprozesses Notwendige deutlich herauszuarbeiten. Das Buch (1896) hat zunächst einen begrenzten Kreis von Freunden gefunden, aber diesen ist es nach ihren Mitteilungen ein Halt und eine Freude gewesen; dann ist es immer mehr auch zu anderen Kreisen vorgedrungen; ich hoffe, in der bevorstehenden vierten Auflage noch kräftiger auf die Zeit wirken zu können. Es war und es ist mir völlig klar, daß nur die Erringung eines geistigen Lebensinhaltes die Menschheit vor einem inneren Zerfall behüten kann: sie muß entweder steigen oder sinken, ein Beharren beim gegenwärtigen Stande ist unmöglich.

Dann aber war mein Hauptaugenmerk auf das Problem der Religion gerichtet, das mich ja von frühester Jugendzeit an beschäftigte. Es war die starke Empfindung der Unwahrhaftigkeit der gegenwärtigen Lage der Religion, welche mich zu dem Titel »Der Wahrheitsgehalt der Religion« wie zu einer Selbstverständlichkeit zwang. Es galt, den unvergänglichen Kern der Religion von dem zeitlichen Gewande zu befreien und ihn in möglichster Ursprünglichkeit herauszustellen. Diese Umwandlung mußte dabei weit tiefer gehen, als gewöhnlich gefordert wird, auch eine klare Auseinandersetzung mit dem geschichtlichen Christentum war unumgänglich; ich möchte meinen, daß keine meiner Schriften mehr aus meinem eignen Leben hervorgegangen ist; eine eigentliche Religionsphilosophie zu liefern, lag mir dabei fern, mir lag alles an einer Konzentration auf die entscheidenden Hauptpunkte.

Das Erscheinen dieses Buches (1901) hat meine Stellung zur Umgebung wesentlich verändert und gehoben, ich durfte nun zu den Herzen und Gesinnungen vieler ernster Menschen sprechen, und die Teilnahmlosigkeit der gelehrten Kreise konnte mir gleichgültig sein. Das Buch hat von Anfang an manche warme, ja begeisterte Freunde gefunden. Es war unter anderen der Graf Rehna, der zeitweilig zur Regierung des Großherzogtums Baden berufen schien, der sich sehr warm und herzlich über den Eindruck äußerte, den jenes Buch auf ihn machte. Wissenschaftlich war es besonders Professor Norström in Gothenburg, der in der dortigen Handelszeitung mehrere zusammenhängende Artikel über das Buch schrieb und von ihm eine eingreifende Förderung des religiösen Problems erhoffte. Mit Norström bin ich bald in ein sehr herzliches Freundschaftsverhältnis gekommen, das bis zu seinem Tode ununterbrochen fortbestand. Die von der Deutsch-schwedischen Vereinigung seit Juli 1920 herausgegebene Vierteljahrsschrift »Deutsch-Schwedische Blätter« bringt in ihrem zweiten Heft (Oktober 1920) einen gehaltvollen Aufsatz des Hauptmanns Liljedahl über dieses schöne Freundschaftsverhältnis unter der Überschrift »Norström und Eucken«. Auch das erfuhr ich, daß der König Oskar sich eingehend mit dem Werk und überhaupt mit meinen Bestrebungen beschäftigte.

Auch in freieren katholischen Kreisen fand ich viele Sympathie. Es war für mich ein großer Gewinn, in Baron Friedrich von Hügel in London einen dauernden Freund zu finden. Er hat mich wiederholt in Jena besucht, das lebhafteste Interesse für meine Schriften bewiesen und später mir und den Meinigen eine sehr liebenswürdige Aufnahme in London bereitet. Hügel wollte bei aller Weite und Freiheit seines Geistes in keiner Weise mit der katholischen Kirche brechen, aber er hatte den vollsten Sinn für alles Schaffende und Vertiefende, meine überkonfessionelle Behandlung der Religion war ihm durchaus sympathisch. Ähnlich dachten auch andere katholische Kreise in Deutschland, in Frankreich, in Italien.

Diese Bewegungen und Bestrebungen überschritten Deutschland, aber ich muß anerkennen, daß ich auch hier manche Zeichen der Schätzung fand. So habe ich im Jahre 1900 die Jahrhundertfeier für die Jenaische Universität gehalten und in demselben Jahre auch die Goetherede. Es ist charakteristisch für den verstorbenen Großherzog Carl Alexander, daß er den besonderen Wunsch hatte, die Goetherede jenes Jahres möchte von einem Mitglied der Universität Jena gehalten werden; so wurde ich dazu erkoren.

Wichtiger war für mein Leben der Gewinn eines engen Verhältnisses zu dem Volksschullehrerstande, wie es sich von Jena aus entwickelt hat. Die Bedeutung dieses Lehrerstandes für die Bildung unseres Volkes stand mir außer allem Zweifel, es war hier ein eifriges Bildungsstreben unverkennbar, eine Sehnsucht zugleich nach mehr Freiheit und nach mehr Lebensgehalt. Das Erziehungswerk ist in unserem Leben viel zu selbständig geworden, um sich der Kirche, ja auch der Religion unbedingt unterzuordnen; die geistige Erhöhung des ganzen Menschen muß das Hauptziel sein. Die akademischen Kreise aber konnten keine schönere Aufgabe finden, als dieses Streben zu fördern und in die richtigen Bahnen zu leiten. So habe auch ich es getan. Zuerst kamen die Lehrer nach Jena zu besonderen Kursen, sodann aber dehnte die Sache sich über ganz Thüringen aus. Es wurde so eingerichtet, daß der Dozent jedesmal zwei Stunden sprach, und daß diese Stunden einen zusammenhängenden Gegenstand kulturgeschichtlicher, ethischer, religionsgeschichtlicher, überhaupt philosophischer Art behandelten. Diese Vorlesungen wurden durch eine Reihe von Wochen fortgesetzt; auch das machte sie den üblichen vereinzelten Vorlesungen für das sogenannte gebildete Publikum überlegen, daß sie den gemeinsamen Interessen eines tüchtigen und aufstrebenden Standes genau entsprechen konnten. Diese Fahrten, welche ich namentlich mit Beginn des Jahrhunderts antrat, boten mir selbst viel Anregung und Freude. Die Bewegung begann von Gotha aus, sie hat sich dann durch ganz Thüringen verbreitet. Ich habe wohl zwölf verschiedene Orte besucht und an mehreren Orten wie in Gotha, Arnstadt, Erfurt, Schmalkalden, Naumburg wiederholt gesprochen. Dadurch habe ich das Thüringer Land und auch die Thüringer Menschen besonders gut kennen gelernt, und ich habe in diesen Kreisen manche anregenden und frohen Stunden verbracht. Daß die Fahrten bisweilen etwas anstrengend waren, hat diese Freude keineswegs vermindert; auf meine Gesundheit konnte und kann ich mich vollauf verlassen.

Weiter aber habe ich auch außerhalb Thüringens verschiedene Vortragszyklen gehalten, so namentlich in Bremen, wo mich der Lehrerverein dazu einlud, so auch in Hamburg, wo die Oberschulbehörde die Sache leitete. Für mich war es ein großer Gewinn, daß ich dadurch eine engere Beziehung zu aufstrebenden Bevölkerungsklassen gewann und zugleich meine Darstellung vom bloß Schulmäßigen befreien konnte; als höchstes Ziel mußte mir dabei vorschweben, in dieser zerrissenen und unsicheren Zeit unserem Volk ein geistiger Führer und Berater zu werden; mir selbst aber gewann damit das Leben mehr Weite und Freiheit.

Inzwischen gingen aber auch die wissenschaftlichen Arbeiten eifrig weiter; es erschienen 1903 die »Gesammelte Aufsätze zur Philosophie und Lebensanschauung«, 1907 die »Grundlinien einer neuen Lebensanschauung« sowie eine Schrift über die »Hauptprobleme der Religionsphilosophie der Gegenwart«, welche eine 5. Auflage erlebte, 1908 die Schrift über den »Sinn und Wert des Lebens«, die jetzt in 7. Auflage vorliegt, sowie eine »Einführung in eine Philosophie des Geisteslebens«, die jetzt den einfacheren Titel »Einführung in die Philosophie« trägt. So hat mein Wirken für weitere Kreise meine eigene philosophische Tätigkeit nicht gehemmt.

Auch fehlte es jetzt nicht an wissenschaftlichen Anerkennungen: 1903 verlieh die theologische Fakultät Gießen mir in einem sehr gütigen Diplom, das an Melanchthon anknüpfte, den theologischen Ehrendoktor, und 1904, erhielt ich einen ehrenvollen und vorteilhaften Ruf nach Tübingen als Nachfolger des ausgezeichneten Philosophen Sigwart. Zur näheren Orientierung reiste ich mit meiner Frau nach Tübingen; ich erhielt von Stadt und Land, auch von der dortigen Regierung, so viele wohltuende Eindrücke und es eröffnete sich mir dort ein so zusagender Wirkungskreis, daß ich nahe daran war, Jena zu verlassen, ja ich habe in einem Augenblick schon meine Zustimmung erklärt gehabt. Schließlich aber konnte ich mich doch nicht von Jena trennen, obwohl Jena mir weit bescheidenere Lebensbedingungen bot.

 


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