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Zweiter Teil

Die Weiterentwicklung meines Lebens und Strebens

Jena

Die allgemeine Lage von Jena bedarf keiner näheren Schilderung. Noch war die Stadt klein und ohne Fabriken, sie zählte nicht mehr als 9000 Einwohner. Erst das Jahr 1874 brachte eine kleine Bahn, die aber noch nicht bis auf den Thüringer Wald führte. Die Natur hatte ihren alten Zauber, und es war mir eine besondere Freude, daß ich die Hauptpunkte der Umgebung noch mit meiner Mutter in gehobener Stimmung besucht hatte. In Jena umfing mich ein frisch aufstrebendes Leben. Eine Anzahl neu berufener Gelehrter wirkte mit voller Kraft. Es wurde die Jenaische Literaturzeitung begründet, mit deren Hilfe man ein neues geistiges Zentrum bilden zu können hoffte. Das äußere Leben war einfach, aber ausreichend und angenehm. Man empfand noch immer die Nachwirkung der klassischen Zeit, noch bestand das Haus Frommann, das so eng mit jener Zeit verknüpft war. Mich selbst berührte es merkwürdig, als ich dort mit einem Enkel von Goethe zu einem kleinen Mittagessen zusammentraf; natürlich war Goethe der Mittelpunkt des Gespräches. Manche kannten ihn persönlich und erzählten einzelne ansprechende Züge von ihm. Am weitesten erstreckte sich die Erinnerung des Orientalisten Stickel, der 1813 nach den Oktobertagen als Kind die Flucht Napoleons in tiefer Nacht erlebte; er konnte 1892 bei dem bekannten Aufenthalte Bismarcks in Jena diesem berichten, er habe den größten Feldherrn, den größten Dichter und nun auch den größten Staatsmann des Jahrhunderts gesehen. Bekanntlich hat Goethe an Jena und an seiner Natur besondere Freude gehabt und versichert, daß er hier nie einen unproduktiven Augenblick gehabt habe.

Der Mittelpunkt des gesellschaftlichen und geistigen Lebens war damals das Haus Seebeck; die geistige Kraft des Mannes und das gesellschaftliche Talent der Frau, die eine Tochter des früheren Generalstabschefs von Krauseneck war, verbanden sich hier aufs beste. Seebeck lebte ganz in der klassischen Zeit, mit der ihn, den Sohn des bekannten Physikers, manche persönliche Erinnerungen verbanden. Das Leben hatte ihn vor recht verschiedenartige Aufgaben gestellt, denen er sich vollauf gewachsen zeigte; schließlich fand er in der Stellung des Universitätskurators, der das Zusammenwirken verschiedener Staaten eine besondere Bedeutung gab, eine Tätigkeit, welche allen seinen Kräften und Wünschen entsprach. Er war im Grunde Hegelianer, aber ein solcher freier und weiter Art, ihn leitete vornehmlich der Gedanke an die Sache und an ihre Forderung; alles Parteiwesen war ihm zuwider, subjektive Sympathien und Antipathien traten bei ihm gänzlich zurück. In diesem Sinne hat er sehr erfolgreich für die Universität Jena gewirkt, die der Mittelpunkt aller seiner Wünsche war, und eine nicht geringe Zahl hervorragender Persönlichkeiten für die Universität gewonnen. Zu vielen davon stand er in einem herzlichen Freundschaftsverhältnis. Auch wußten er und seine weltgewandte Frau einen feinen und geistig bewegten Kreis um sich zu versammeln; es ruhte auf diesem Kreise noch ein Abglanz goethischer Denkweise, alles Niedrige war verbannt. In diesem Kreise habe ich später meine zukünftige Lebensgefährtin gefunden. Ich selbst habe in meinen »Gesammelten Aufsätzen« ein Lebensbild von Seebeck entworfen. Auch Kuno Fischer hat über diesen eingehend geschrieben: »Erinnerungen an Moritz Seebeck« 1886.

Unter den damaligen Kollegen gab es eine Fülle bedeutender und sympathischer Persönlichkeiten, die teilweise weit über Jena, ja über Deutschland hinaus bekannt waren. Haeckel war in der vollen Kraft und Frische seines Schaffens. Er erregte schon damals viel Streit, aber auch diejenigen, welche seine Weltanschauung nicht teilten, mußten sein großes wissenschaftliches und künstlerisches Vermögen unbedingt anerkennen. Dabei war er voller Verdienste um Jena und von großer Selbstlosigkeit; verschiedene glänzende Rufe lehnte er unbedenklich ab, um in Jena frei schaffen zu können. Seebeck hatte den Humor, gegen Haeckel selbst zu äußern: »Sie müssen in Jena bleiben, hier schaden Sie noch am wenigsten!« Unter den weiteren Spitzen der Universität stand die Theologie voran, jeder Einzelne verkörperte dabei auf dem Grunde einer gemeinsamen freieren Denkweise eine eigentümliche Art. Hase war damals schon etwa 74 Jahre alt, aber er hat noch eine ganze Reihe von Jahren seine Vorlesungen mit voller Frische gehalten und auch literarisch unermüdlich weiter geschafft. Er hatte eine sehr liebenswürdige Art, sich zu den Menschen zu stellen und jeden in seiner Eigentümlichkeit anzuerkennen. Der Jugend brachte er warme und freudige Teilnahme entgegen. Seine Art wurde von Fremden insofern bisweilen wohl unterschätzt, als man die innere Wärme seines Wesens nicht voll genügend erkannte. Seinen Schülern war er ein gütiger und hilfsbereiter Berater, und wie wohlwollend er für seine Freunde sorgte, das habe ich selbst erfahren, als ich in Rom von einem sehr ernstlichen Typhusanfall befallen war. Niemand hat sich damals meiner so herzlich angenommen wie Hase. In der theologischen Fakultät gewann damals vornehmlich Pfleiderer durch die Wärme seiner Gesinnung und durch die Frische seines Strebens die jungen Seelen. Lipsius war bewunderungswert durch die kritische Schärfe seines Denkens und sein staunenswertes historisches Wissen, so daß er in dieser Richtung Pfleiderer weit übertraf. In unserer Fakultät war eine Zierde Hildebrand, zu dem die hervorragendsten jüngeren Nationalökonomen pilgerten, und der von der Ethik aus der Philosophie ein warmes Interesse entgegenbrachte. Einen sehr geistvollen und anregenden Denker hatten wir an dem Historiker Adolf Schmidt, der sowohl dem Frankfurter Parlament 1848 als dem Reichstag 1874–76 angehörte. Meine näheren kollegialen Verhältnisse gestalteten sich sehr angenehm. In Fortlage hatte ich einen treuen und feinsinnigen Kollegen, der auf kleinere Kreise aufs förderlichste wirkte. Unermüdlich und mit jugendlicher Begeisterung wirkte Stoy, der schon durch sein seelenvolles Auge fesselte. Auch mit dem späteren geistvollen Gymnasialdirektor Gustav Richter verband mich bald ein freundschaftliches Verhältnis.

Die stille Lage Jenas brachte es mit sich, daß manche der älteren Kollegen eine gewisse Weltfremdheit hatten, und daß sie sich auch in die modernen Verkehrsverhältnisse nur mühsam hineinlebten; es fehlte nicht an kleinen Anekdoten darüber. Wie man damals über Entfernungen dachte, dafür ist charakteristisch folgender Zug. Fortlage war früher Privatdozent in Heidelberg, er hatte sich seine Braut aus Schleswig geholt, wo dann die Hochzeit gefeiert wurde; der amtierende Geistliche hielt es für notwendig darauf hinzuweisen, die junge Frau möchte zuversichtlich in die Zukunft blicken, denn derselbe Gott walte in Schleswig und in Heidelberg.

Die Zahl der Studenten war damals nicht groß. Es wurde als etwas Besonderes begrüßt, als im Sommersemester 1874 die Zahl der Hörer gegen 500 erreichte. Es kam dann längere Zeit ein Stagnieren, bis später die Universität ein fortwährendes Aufsteigen erreichte. Während dieser ganzen Zeit habe ich das Zusammensein und Zusammenwirken mit den Studenten als einen großen Vorzug empfunden. Schon bevor ich nach Jena kam, hat Schleiden sich mir gegenüber sehr anerkennend über die Jenaischen Studenten ausgesprochen. Sie haben von alters her viel Sinn für Humor, und es kann gelegentlich die fröhliche Stimmung die Grenzen überschreiten, aber im Kern war und ist diese Studentenschaft tüchtig, arbeitsam und anhänglich gegen die Lehrer. Ich habe in der langen Zeit meines Wirkens nie irgendwelche Schwierigkeiten oder Unannehmlichkeiten in dieser Richtung gehabt. Wohl aber haben die Studenten bei mannigfachen Gelegenheiten durch Fackelzüge, Wagenauffahrten usw. mich geehrt. Ein Vorteil für die Universität war es, daß Jena trotz seines bescheidenen äußeren Umfanges durchaus nicht eine Provinzial-Universität war; von den verschiedenen Gegenden Deutschlands kamen die Studenten hierher, auch an Ausländern verschiedener Zungen fehlte es nicht; das war auch für die Dozenten ein Vorteil, daß ihre Ideen sich nach allen Richtungen hin verbreiten konnten. Dem inneren Bau des deutschen Lebens aber war es günstig, daß Norddeutsche und Thüringer sich eng verbanden und sich gegenseitig ergänzten.

Jena ist nicht zu erwähnen ohne auch Weimars zu gedenken. Freilich ist die Zeit schon lange vorüber, wo unter der Herrschaft der Literatur »Weimar und Jena eine große Stadt« bildeten; im Fortgang des 19. Jahrhunderts bestand wenig geistiger Verkehr zwischen jenen beiden Städten; Wissenschaft und Kunst gingen ihre eigenen Wege. Es war im Grunde nur der Hof mit seinen Einladungen, der die Professoren nach Weimar führte. Diese Einladungen waren liebenswürdig gehalten, aber sie ergaben kein inneres Verhältnis der Lebenskreise. Nur der Großherzog Carl Alexander pflegte bei seinem Aufenthalt in Jena einen kleinen Kreis von Gelehrten einzuladen; dann wurden die schwersten und heikelsten Fragen mit voller Offenheit behandelt; der Fürst hatte offenbar eine aufrichtige Freude daran, in dieser Weise über die laufenden Fragen orientiert zu werden. In Weimar war der Ton steifer, aber die Unterhaltung war nicht unbedeutend. Die Beziehungen zu den anderen Höfen, die an der Universität teilnahmen, beschränkten sich auf größere Familienfeste, aber auch hier war ersichtlich, daß man auf die Teilnahme der Gelehrten Wert legte. Die Universität wurde stets nicht als ein Stück des Verwaltungsorganismus, sondern als eine selbständige Korporation behandelt.

Übrigens war das Verhältnis des weimarischen Hofes zu Jena früher intimer als später, wo die Goethebestrebungen voranstanden; man konnte nun die jenaischen Gelehrten leichter entbehren; diese aber hatten mehr Interesse an dem großen deutschen Leben als an den Verhältnissen des weimarischen Kleinstaates.


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