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1881–1890

Die Grundlegung einer selbständigen Gedankenwelt und die Begründung eines eignen Hauses

Eine Reihe von Jahren der Arbeit war verstrichen, ohne mir den ersehnten Abschluß zu bringen, endlich aber schlossen sich mir die Gedanken genügend zusammen, um mich einer festen Hauptrichtung gewiß zu machen; es geschah das in entscheidender Weise in den Jahren 1881 und 1882. Über das Nähere meiner philosophischen Überzeugung berichten meine Bücher, aber in aller Kürze muß ich darlegen, was ich in jener Richtung suchte. Der Ausgangspunkt meines Strebens war der Begriff des Lebens; in diesem Begriff aber unterschied ich deutlich eine niedere und eine höhere Stufe, eine biologische und eine noologische; dort war das Leben naturgebunden, hier erreichte es eine Selbständigkeit und ein Beisichselbstsein, dort entstand ein Lebensgefüge, das in die Wechselbeziehungen der einzelnen Elemente aufging, hier führte eine Gesamtmacht und war fähig, ein Reich der Inhalte hervorzubringen; so traten das Dasein mit seiner Erfahrung und eine Tatwelt scharf auseinander, um schließlich allerdings irgendwelche Ausgleichung zu finden. Der Mensch aber gewann einen grundverschiedenen Anblick, je nachdem er ein Stück jener Beziehungswelt blieb oder aber jene Tatwelt als seine eigne erlebte und sich damit über den Stand eines bloßen Atomes zu einem Weltwesen erhob. Eine nähere Entwicklung dessen forderte eine eigentümliche Stellung zwischen der alten und der neuen Denkart. Die alte Art, wie sie das Altertum und auch das alte Christentum geistig umfaßt, setzte eine geschlossene und den Menschen beherrschende Welt voraus, sei es einen künstlerisch verstandenen Kosmos, sei es das Reich Gottes und der Kirche mit seinen ethischen Werten. Dabei hatte den unbedingten Vorrang der Gedanke des Ganzen, er hatte dem Menschen sowohl das Ziel als die Kraft des Lebens zuzuführen. Nun kam die große Verschiebung des Lebensstandes durch die Neuzeit, vornehmlich durch die Aufklärung. Der Ausgangspunkt und zugleich die Hauptbewegung verlegte sich damit in den Menschen und sein Denken; nun galt es alle Wirklichkeit vom Menschen aufzubauen und von hier aus dem Leben einen Inhalt zu geben. Alle Lebensgebiete mußten sich damit neu gestalten, der Philosophie aber wurde es zu einer unabweisbaren Aufgabe, eine innere Verbindung zwischen dem Menschen und dem All herzustellen und ihm dieses zum geistigen Besitz zu geben. In dieser Richtung haben Männer ersten Ranges wie Spinoza und Leibniz gewirkt, und es sind kühne Gedankengebäude daraus hervorgegangen. Der Weg und das Mittel zur Verbindung mit dem All war dabei die Intelligenz, nur sie schien imstande, den Menschen vollauf mit der Welt zu verbinden. Kant aber zeigte die Voraussetzung dieser Lösung und erwies mit unerbittlicher Schärfe, daß vom bloßen Menschen aus nicht über den Menschen hinauszukommen ist, und daß wir von der Erscheinung aus nie ein Reich der Dinge erreichen; zugleich aber glaubte er, von der Moral aus eine Welt der Freiheit aufbauen zu können. Aber einmal war das Reich der Moral zu eng, um den ganzen geistigen Besitz in sich aufzunehmen, sodann drohte die Scheidung von theoretischer und praktischer Vernunft die Einheit der Wirklichkeit aufzuheben. Diese unerträgliche Kluft suchten die leitenden deutschen spekulativen Denker, vor allem Fichte, Schelling, Hegel, zu überwinden, sie wollten damit unmittelbar ein Weltschaffen des Menschen erreichen; sie konnten das aber nicht, ohne das Vermögen des Menschen zu überschätzen, absolutes und menschliches Geistesleben als gleichwertig zu behandeln; zugleich faßten sie den Lebensinhalt zu eng, und würdigten sie nicht genügend die ungeheuren Verwicklungen des menschlichen Lebensstandes; in einem einzigen Zuge sollte sich ihnen die ganze Fülle der Wirklichkeit eröffnen und der Mensch sich zu schaffender Größe aus eignem Vermögen erheben. Die Folge dieser Überspannung des Menschen war der Positivismus mit seiner inneren Ablösung des Menschen von der Welt; das aber ergab eine Beschränkung auf die Wohlfahrt des Menschen und auf das intellektuelle Vermögen des bloßen Menschen, eine klägliche Verengung und Erniedrigung war nicht zu vermeiden; der Mensch wird sich selbst viel zu klein, wenn er nicht ein Verhältnis zur Welt und eine Weltaufgabe in sich trägt. Wird der Mensch ausschließlich auf sich selbst angewiesen, ob als Einzelner oder als Masse, das macht keinen wesentlichen Unterschied, so bleibt ihm als Ziel des Strebens lediglich sein eignes Befinden und Behagen, das Glück als subjektives Ergehen; so wird er bei allen äußeren Erweiterungen geistig an einen Kerker gebannt; das aber kann einem denkenden und zur vollen Selbstbesinnung geweckten Wesen nun und nimmer genügen.

So sind wir heute in einer sehr unklaren, ja unerträglichen Lage: der Mensch erscheint uns bald zu groß, bald zu klein; wir bedürfen notwendig neuer Möglichkeiten, wir bedürfen einer durchgreifenden Umwälzung, wir bedürfen eines neuen Grundverhältnisses des Menschen zur Welt. Begann die ältere Zeit vom Ganzen der Welt als einer vorhandenen Größe, so entbehrte das Leben einer vollen Freiheit und Ursprünglichkeit; begann aber die Neuzeit von den einzelnen Elementen, und waren Freiheit und Ursprünglichkeit die Hauptanliegen, so gewann das Leben keinen festen Halt und keine volle Wahrheit, so drohte es immer wieder ins Bloßsubjektive und Individuelle zu fallen. So wird es jetzt zu einer unabweisbaren Aufgabe, Freiheit und Wahrheit enger zu verknüpfen und aus Form und Inhalt ein Ganzes zu schaffen. Das aber kann nicht geschehen, wenn nicht der Grundbegriff des Menschen verändert und die Kluft zwischen Mensch und Welt überbrückt wird; das Weltleben aber hat seine festen Bedingungen, und der Mensch muß erst in dieses gehoben werden, er muß verschiedene Stufen durchlaufen, um die Höhe des eigenen Wesens zu erreichen, er wird nicht absoluter Schöpfer, wohl aber ein Mitträger eines schaffenden Lebens; die einzelnen Hauptrichtungen und Lebensgebiete aber, wie Wissenschaft und Kunst, Religion und Staat, sind nicht ein Werk der abgelösten Punkte, sondern sie sind Erweisungen einer überlegenen Gesamtmacht, die unmittelbar zum eignen Leben des Menschen werden kann. Solche Überzeugung mußte auch den Kulturbegriff eigentümlich gestalten, sie ergab auch eine neue Art der Metaphysik, sie war imstande, das Dunkel der Welt vollauf anzuerkennen, aber von einer Tatwelt aus einen Kampf dagegen aufzunehmen.

Doch das läßt sich hier nicht weiter ausführen, hier genügt die Bemerkung, daß ich an dieser Stelle einen festen Punkt zu ergreifen und dem Leben eine deutliche Richtung geben zu können überzeugt war.

Nach geschehener Befestigung meiner Grundüberzeugung konnte ich frischer und freier in die Welt blicken und das Leben mutiger gestalten. Zehn Jahre waren seit dem Tode meiner Mutter vergangen, als ich die Einsamkeit aufgab und mich verlobte und bald auch heiratete (1882). Ich habe meine Frau, Irene Passow, kennengelernt, als sie mit ihrer Mutter und mit ihrem jüngeren Bruder nach Jena übersiedelte. Eine persönliche Beziehung ergab sich zunächst durch die Bekanntschaft mit dem Hause Seebeck, mit dem das Haus Passow verwandt war. Meine Schwiegermutter war als Tochter des hervorragenden Archäologen Ulrichs in Athen geboren; ihre Mutter, eine prächtige und charaktervolle Frau, hatte sich nach dem frühen Tod ihres ersten Mannes mit einem Sohn des bekannten Bürgermeisters Smidt, des Begründers von Bremerhaven, dem Richter Smidt verheiratet; so ergaben sich vielfache Beziehungen zu angesehenen Bremer Familien, auch der bekannte Staatsmann, Schriftsteller und Übersetzer Otto Gildemeister gehörte diesem Kreise an. Die Mutter meiner Frau war eine sehr geistvolle und unermüdlich tätige Frau; sie hatte ihren Mann, den Gymnasialdirektor Passow, früh verloren; nach Bremen übersiedelt, hat sie sich namentlich schriftstellerisch betätigt, im besonderen viel für die Weser-Zeitung gewandt und fesselnd geschrieben; sie ist dann im Interesse der Gesundheit ihres jüngeren Sohnes nach Jena gezogen und hat das dortige geistige Leben voll geteilt, weiter aber eine sehr geschätzte Wirksamkeit für Wohltätigkeit und Kinderheime entfaltet. Obwohl sie eine eigene Wohnung hatte, nahm sie tagtäglich an dem Ergehen unseres Hauses regen Teil, und sie hob das Leben unseres Kreises in herzlicher und liebenswürdiger Weise. Meine Frau aber war nicht fachgelehrt, sie gehörte nicht zu den gelehrten Frauen, aber sie war voll geistiger Interessen und von einer ausgeprägten künstlerischen Begabung; mit diesen verband sie ein großes praktisches und organisatorisches Geschick. Das war nicht nur für mein Leben, sondern auch für mein philosophisches Denken ein großer Gewinn: es gewann dadurch mehr Anschaulichkeit und mehr Frische. Wir sind dann bald nach einer hochgelegenen Villa gezogen, die namentlich in früherer Zeit, bevor die wachsende Fabriktätigkeit das Leben einengte, eine ländliche Stille sowie einen herrlichen Blick auf Jena und auf das Saaletal gewährte. Später erwies es sich als großer Vorzug, daß unsere heranwachsenden Kinder sich in voller Freiheit bewegen und doch zugleich die Güter der nahen Stadt genießen konnten. Auch haben wir in der Villa Zeine, wie sie damals hieß, manche fröhliche, dabei einfache Gesellschaft gegeben, im besonderen auch manche Studenten aus verschiedenen Gegenden und Ländern bei uns gesehen, die oft mit Freude und Dankbarkeit des Zusammenseins gedachten. Es herrschte dort eine wohltuende und liebenswürdige Stimmung, gelegentlich wurden auch Gesellschaften künstlerischer Art veranstaltet.


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