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Inselreisen

Von besonderer Bedeutung waren für mich an erster Stelle die Inselreisen, welche wir wiederholt ausführten, wir besuchten namentlich Langeoog, nur einmal Borkum. Wir waren dort mit der Familie meines Onkels zusammen. Höchst eigentümlich war damals eine derartige Badereise. Schon die Beförderung war recht primitiv. Ein kleines Fährschiff, das gegen ungünstige Winde sehr langsam aufkam, nahm uns auf. Bei etwaigem Wenden der Segel mußten die Reisenden sich auf den Boden legen und diese Prozedur wiederholt auf sich nehmen. In der Kajüte zu bleiben war bei der Enge des Raumes nur beim schlechtesten Wetter möglich. Kam man nach stundenlanger Reise endlich ans Ziel, so fuhr ein Wagen, eigentlich mehr eine Karre mit dem bezeichnenden Namen »Wüppe«, ins Meer an das Schiff heran und führte die Passagiere in die Wohnung, welche man sich schon vorher bei irgend einem Fischer oder Seemann gesichert hatte. Der Haushalt war schwierig, da die Damen den größten Teil der Lebensmittel, darunter auch Fleisch und Gemüse, vom Festland beziehen mußten. Nur wenn das Fährschiff kam, erhielt die Insel Hefe, so daß dann Brot und Kuchen gebacken werden konnte. Diese erfreuliche Tatsache wurde durch das Hissen einer Flagge verkündet, die wenigen Kurgäste versammelten sich schleunigst, um die ungewohnten Sachen zu genießen. Die schönste körperliche und geistige Erfrischung erhielt man durch die Spaziergänge an dem vorzüglichen Strande sowie durch die hier recht kräftigen Bäder. Nachmittags versammelte man sich gern auf dem sogenannten Nordstern unter einem Zeltdach, um dort seinen Tee einzunehmen. Kleine Ausflüge wurden nach der Weißen Düne unternommen, Muscheln und Seetiere gesammelt, gelegentlich auch das Meerleuchten bewundert. Von den Höhen der hier sehr stattlichen Dünen genoß man einen weiten Blick, man konnte dort durch das Fernrohr die Bewegungen der großen hanseatischen Dampfer genau verfolgen. So konnte die Phantasie sich in unermeßliche Weiten ergehen, und man durfte bei voller Stille sich in der Nähe des großen Lebens fühlen. Primitiv war auch insofern die geistige Lebenshaltung, als dort kein ständiger Pfarrer war; zu besonderen Zeiten und zu hohen Festtagen kamen benachbarte Geistliche. Im übrigen lag die geistige Versorgung in der Hand eines alten biederen Schulmeisters, den mein Onkel stets als Herr »Kollege« begrüßte. Mein Onkel hörte einst einen furchtbaren Spektakel aus der Schule dringen, ohne daß derselbe eine Unterbrechung erfuhr. Auf sein Befragen erklärte der Lehrer stolz: »Ich habe nach neuer Methode für meine Jungens eine Stunde stiller Denkübungen eingerichtet«. Das Verhältnis zu den einzelnen, sehr wenig zahlreichen Kurgästen war ein enges, ja freundschaftliches. Man erzählte sich gegenseitig von seinen Freuden und kleinen Leiden und fühlte sich ganz aufeinander angewiesen. Der Mensch war damals noch nicht sich selbst so überdrüssig, wie er es jetzt meist ist. Die Menschen fliehen jetzt oft zur Natur nur, um immer wieder mit den Menschen meist sehr Nichtiges zu treiben und der gegenseitigen Eitelkeit zu fröhnen; traurig, daß die große Natur ihnen nichts anderes zu bieten vermag! Damals ging man ins Seebad, um sich körperlich und geistig auszuruhen und Kraft für die Arbeit des Winters zu gewinnen. Angenehm war auch das Verhältnis zu den einzelnen Insulanern, zu denen sich bald freundliche Beziehungen anspannen. Die meisten Männer waren Seeleute. Ihre Auffassung betrachtete den Tod zur See nicht als ein besonderes Unglück. Die Küstenbewohner pflegen sich überhaupt ihre eigene Lebensüberzeugung zu bilden. Der Seemann und seine Umgebung ist fest überzeugt von dem Walten eines Schicksals, dem sich niemand entziehen kann. Es gilt dann als unmännlich, ja feige, sich gegen dieses Schicksal zu sträuben. Merkwürdigerweise kann dieser Grundgedanke sehr verschiedene intellektuelle Gestaltungen annehmen. Die Strengreligiösen sehen in jenen Ereignissen eine unmittelbare Fügung Gottes; die Mindergläubigen unterwerfen sich dem Schicksal als einer dunklen Macht, aber über die Tatsache eines allesbeherrschenden Schicksals ist nicht der mindeste Zweifel. »Das sollte so sein«, das ist der übliche Trost. Dieser Schicksalsglaube lähmt keineswegs den Mut und die Energie des Handelns, aber er verbietet alles unnütze Grübeln über das, was hätte kommen können. Als ein teilnehmender Kurgast einem Langeooger die Frage vorlegte, wie es den Einwohnern ginge, wenn ein plötzlicher Unfall oder eine schwere Krankheit sie träfe, da doch kein Arzt auf der Insel sei, so meinte jener wetterharte Mann: »Nun ja, dann müssen wir unseren eigenen Tod sterben«. – Inzwischen hat sich Langeoog zu einem stattlichen Seebade gehoben, die frühere Schilderung trifft nicht mehr zu. Ich aber denke mit großer Freude an die dort verlebten Wochen; sie waren entscheidend für meine Entwicklung, weil sie mir Gesundheit brachten und ich in tiefer Ruhe große Eindrücke empfing.

Zu großen Reisen kam es sonst nicht, außer jener hannoverschen Reise 1852 habe ich Ostfriesland bis zu meinen Studienjahren nicht verlassen. Um so mehr war meine Mutter bemüht, durch kleine Tagesausflüge Geist und Gemüt zu erfrischen. Sie hatte einmal bei Zschokke, einem ihrer Lieblingsschriftsteller, gelesen, es tue der heranwachsenden Jugend gut, auch selbständige kleine Tagesausflüge zu unternehmen. Das habe ich dann mit einigen Freunden öfters getan. Ein sehr einfaches Frühstück wurde mitgegeben. Unser gemeinsamer Trank war eine Mischung Sirup und Essig. Dann wanderten wir vergnügt durch die einzelnen, oft recht stattlichen Dörfer und hatten besondere Freude an den Fehnen (auf dem Moor angelegten Kolonien), wo uns ein eigentümliches, ungewohntes Leben umgab. Diese Kanäle verbanden nicht nur die einzelnen Orte, sondern sie hatten manche kleinere Werften, wo Segelschiffe gebaut wurden. Auch gab es dort Glashütten, für die das benachbarte Moor den Brennstoff lieferte. Erst später ist mir klar geworden, wie glücklich die damalige Lage für die einzelnen Schiffsbesitzer und Seeleute war. Ostfriesland hatte damals sehr viele kleinere Holzschiffe, die namentlich nach England oder nach Norwegen fuhren, und von denen viele nur im Sommer ihre Fahrten ausführten. Diese Leute waren sehr seegewandt; sie erreichten gewöhnlich einen behaglichen, wenn auch bescheidenen Wohlstand, wenn nicht ein Seeunglück dazwischentrat. Aber sie waren auf sich selbst gestellt und konnten den Wettbewerb mit den größeren Schiffen zunächst aushalten. Später hat die technische Entwicklung diese kleinen Schiffe zum guten Teil entwertet und die Seeleute meist in den Dienst der großen Schiffahrtsgesellschaften getrieben. Auch auf diesem Gebiete zeigt sich deutlich, wie die moderne Industrie mit ihren technischen Leistungen das Individuum unterdrückt und seiner Selbständigkeit beraubt.


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