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(1931)
Die Frage »Wer ist ein Deutscher?« ist sehr schwer zu beantworten. Es sind über uns bei den andern Völkern Vorstellungen verbreitet, die einander widersprechen, die aber denn doch durch irgendwelche Ursachen erzeugt sein müssen. Wir selber haben auch wohl nie eine Antwort auf die Frage gegeben. Zwar weiß wohl jeder von uns gefühlsmäßig, wer ein Deutscher ist; aber eine begriffsmäßige Darstellung dieses Gefühls, die nun von allen Deutschen angenommen würde, gibt es meines Wissens nicht. Es ergeben sich aus diesem Umstand sehr viele der Schwierigkeiten, die wir als Volk in der Welt gehabt haben.
Eine der Ursachen dieser Unklarheit ist, daß wir uns im Lauf unserer Geschichte sehr stark verändert haben. Wir wollen nicht auf das etwas zweifelhafte Bild zurückgehen, das Tacitus von unseren Vorfahren entworfen hat; wir wollen erst zu betrachten anfangen, wo wir sicheren Boden unter den Füßen haben. Da werden wir finden, daß um das Jahr 1250 und um das Jahr 1648 bedeutende Wandlungen unseres Wesens stattfanden. Bis 1250 waren wir ein adliges Volk. Seitdem sind wir ein bürgerliches Volk. Aber im Verlauf unserer Bürgerlichkeit hat das Jahr 1648 wieder einen tiefen Einschnitt gemacht, den wir mit Worten schwer bezeichnen können. Mit dem Bedenken, mit dem man solche schlagwortartigen Urteile von sich geben muß, möchte ich das so ausdrücken, daß wir bis 1648 republikanisch bürgerlich waren und nachher untertanenmäßig bürgerlich. Heute erleben wir wieder eine Wandlung des deutschen Gesichtes. Diese hat nicht erst mit dem verlorenen Krieg begonnen, sondern hat schon Jahrzehnte früher eingesetzt.
Auch andere Völker haben sich mehr oder weniger gewandelt. Ich weise nur auf den Bruch in der Geschichte des englischen Volkes zwischen Elisabeth und Cromwell hin. Aber die andern Völker haben doch meistens in sehr hohem Grade ihre Überlieferungen gerettet. Bei uns wurde immer die gesamte Überlieferung über Bord geworfen und ganz von vorn angefangen. So ist es denn bei uns sehr viel schwerer als bei den anderen, aus dem veränderten Gesicht die immer gleiche Form herauszulesen. Mit anderen Worten: die immer gleiche Form liegt weniger klar zutage als bei den anderen, sie muß weit mehr hinter der Erscheinung gesucht werden als bei den andern, mehr in einer seelischen Eigenschaft, welche sich in der verschiedensten Weise äußert in den verschiedenen Zeiten.
Ich habe in mehreren europäischen Ländern gelebt und war mit Angehörigen manchen anderen Volkes bekannt. Da habe ich mich oft über die Frage des deutschen Charakters unterhalten; ich habe naturgemäß viel selber über ihn nachgedacht; denn da ein Dichter ja ein Lehrer seines Volkes ist, so hat er wohl mehr Ursache als die meisten anderen Leute, sich über sein Volk klar zu werden.
Die von der Natur gegebenen Eigenschaften des deutschen Charakters scheinen mir zu sein: eine große Weichheit und eine bestimmte Art von Schwärmerei, welche dadurch entsteht, daß die Wirklichkeit vernachlässigt wird zugunsten eines selbstgeschaffenen Weltbildes. Man kann sagen, daß die Franzosen und Italiener nüchtern und hart sind, die Franzosen mit Mut, die Italiener mit Phantasie; diese beiden Völker würden dann also das gerade Gegenteil von dem sein, was die Deutschen sind; und man braucht sich nicht zu wundern, wenn die Deutschen von den beiden anderen und diese von den Deutschen ganz falsche Vorstellungen haben.
Eigenschaften, die man von Natur hat, stellen die sittliche Aufgabe. Als sittliche Aufgabe stellen sich die Deutschen: sachlich, und in dieser Sachlichkeit hart zu sein. Man stellt sich als sittliche Aufgabe eben das gerade Gegenteil von dem, was man von Natur hat. Um das klar zu machen, möchte ich als Beispiel die Empfindlichkeit nehmen. Die Deutschen sind von Natur empfindsam; und so beleidigt sie in der Kunst nichts mehr als Empfindsamkeit. Die Franzosen und Italiener, welche im Leben keine Spur von Empfindsamkeit haben, schlucken in der Kunst das empfindsamste Zeug hinunter, ohne mit der Miene zu zucken. Für uns Deutsche sind doch schon Tasso und Racine leicht komisch, die bei ihren Völkern als große Dichter gelten.
Sollte meine Deutung des deutschen Charakters richtig sein, so würde man manche auffällige Eigentümlichkeit des deutschen Wesens, des deutschen Handelns und des deutschen Schicksals erklären können. Eine schwärmerische Gemütsverfassung als Wirklichkeit, und die nüchterne Sachlichkeit als Ideal; eine weiche Gemütsverfassung als Wirklichkeit, und die schnauzbärtige Härte als Ideal; das muß natürlich Geschehnisse ergeben, welche den andern Völkern gänzlich unverständlich sind.
Ich möchte nicht, daß man meine Deutung so auffaßt, als wolle ich nun ein Paradigma hinstellen, nach dem man nun alle übrigen Worte deklinieren und konjugieren soll; ich denke nur, daß man mit dieser Deutung einiges verstehen kann, daß man eine Generaleigenschaft hat, welche die verschiedenartigsten Erscheinungen zusammenfassen kann. Mir kam diese Deutung, als ich an meinem Kaiserbuch arbeitete.
Hier war die Aufgabe, die adlige Zeit des deutschen Volkes darzustellen in einer Weise, daß das bürgerliche deutsche Volk sie als ihre Vorzeit verstehen konnte. Da war etwa die Geschichte des Herzogs Ernst von Schwaben mit dem heldenhaften Untergang des Herzogs und seiner Treuen. Für den, welcher den deutschen Charakter versteht, liegt hier reine Unvernunft vor. Es handelt sich nicht etwa um »Treue« der empfindsamen Art, wie sie von schlechten Dichtern erzählt wird. Es ist hier das Gefolgschaftsverhältnis versachlicht; der Herzog erscheint als zufällige Persönlichkeit, der nur insofern Bedeutung hat, als er der Herr des Gefolges ist. Ich mußte an manche Gespräche mit Freunden nach der Revolution denken; sie sprachen immer nur von der Monarchie und nie von dem Monarchen; woran sie hingen, das war nicht eine lebendige Persönlichkeit, sondern eine Idee, die nun eben das Verhältnis zur Wirklichkeit hat, wie es Ideen haben.
Es kann kein Mensch über seinen Schatten springen. Es kann kein Mensch seine tiefsten Instinkte ändern. Auch ein Volk kann das nicht. Aber es kann mit diesen Instinkten das tun, was allgemein menschlich nötig ist, was auch für die Zeit nötig ist. Unsere Aufgaben werden uns immer von der Zeit gestellt. Wir müssen sie lösen mit den Mitteln, die wir von Natur haben; wir müssen sie so lösen, daß wir einst beim Jüngsten Gericht mit ruhigem Herzen vor unseren Schöpfer treten können. Dazu ist es nötig, daß wir unsere Aufgabe genau sehen, und daß wir uns selber und unsere Fähigkeiten kennen. Der ist ein Deutscher, welcher diesen Ansprüchen gerecht wird. Aber man kann ebenso sagen, daß der ein Engländer, Franzose oder Italiener ist, der diesen Ansprüchen gerecht wird, und mir scheint, daß den Franzosen, Engländern und Italienern dieses Gerechtwerden leichter fällt.
Wenn wir uns heute die eben zu Ende gegangene Zeit recht lebendig vorstellen und uns klar zu machen suchen, welches eigentlich ihre wertvollsten Vertreter waren, so werden wir finden: die Gelehrten, die Offiziere, die Beamten und die gewerblichen Unternehmer. Die Aufgabe, welche die damalige Zeit an die Menschen stellte, war die, welche von diesen vier Arten von Menschen gelöst werden mußte. Es wird mir gewiß jeder zugeben, daß diese vier Arten von Menschen das Ideal hatten und in einem sehr hohen Maße verkörperten: mit allen ihren Kräften, und besonders mit bewußter Unterdrückung ihrer persönlichen Unzulänglichkeiten, die eben nun jeder Mensch von der Natur mitbekommt, nur ihrer Sache zu dienen. Unsere alte Welt ist zerstört. Vielleicht war ihre Aufgabe erfüllt, das können wir heute noch nicht sehen. Unser heutiges Unglück hat darin seine Ursache, daß die neue Aufgabe den Menschen noch nicht klar ist; in einer solchen Zeit drängt sich naturgemäß denn immer das Gesindel vor, weil es gesindelhaft kurze Gedanken hat und sich einbildet, es kann mit diesen die Lage meistern.
Die größte Schwierigkeit der heutigen Zeit ist durch das Proletariat gekommen, das die Vorstellung hat, es müsse feindlich der ganzen übrigen Gesellschaft gegenüberstehen. Diese Vorstellung des Proletariats war am stärksten in Rußland und in Deutschland; die Ursache war, daß auf die geistige Bildung des Proletariats nicht das gesunde Bürgertum Einfluß hatte, wie das natürlich gewesen wäre, sondern der Abhub des Bürgertums, der aus irgendwelchen Gründen, die in ihm selber lagen, in der bürgerlichen Gesellschaft nicht zu seiner Stellung kommen konnte. In der Person von Karl Marx und in seiner scharfsinnigen Theorie hat dieser Abhub seinen Ausdruck gefunden, der genial wäre, wenn die vollkommene Verkehrung der Natur genial sein könnte, und der jedenfalls eine unheimliche Überzeugungskraft besitzt. Die deutschen Arbeiter haben die Lehre von Marx mit derselben Art von Inbrunst aufgenommen, mit welcher die Gefolgsleute des Herzogs Ernst den Gefolgschaftsgedanken aufgenommen hatten, und die vier Klassen von Menschen, die ich eben als die führenden der zusammengebrochenen Zeit hervorhob, den kategorischen Imperativ von Kant. Erst dadurch, daß die Lügenhaftigkeit der Marxischen Gedanken sich in der Wirklichkeit offenbart, sobald sie zur Herrschaft gekommen sind, werden unsere unglücklichen Arbeiter belehrt werden, daß sie einem falschen Propheten gefolgt sind.
Die Gründung des Deutschen Reiches war ein Geschehen, welches in der Linie der Entwicklung lag, in welcher wir uns das 19. Jahrhundert hindurch befanden. Sie ging von demjenigen Teil des deutschen Volkes aus, welches das deutsche Wesen damals am reinsten darstellte. Sie hat bewirkt, daß dieses deutsche Wesen auch im übrigen Volk sich nun viel schärfer ausprägte, als es vorher der Fall war. Das kann man deutlich sehen, wenn man den heutigen österreichischen Charakter mit dem heutigen deutschen Charakter vergleicht. Sollte die Trennung Österreichs von Deutschland noch eine längere Zeit dauern, dann würden die Österreicher den Reichsdeutschen gegenüber in ähnlicher Weise ein anderes Volk werden, wie es die Schweizer und Holländer geworden sind.
Die Frage: Wer ist ein Deutscher? habe ich wohl beantwortet, soweit sie zu beantworten ist. Aber es ist mit ihr wohl etwas anderes gemeint. Es ist wohl mit ihr gemeint: Was hat ein Deutscher heute zu tun, um sich seines Namens würdig zu erweisen? Mit anderen Worten: Wenn in der vergangenen Zeit der Gelehrte, der Offizier, der Beamte und der gewerbliche Unternehmer die besten Vertreter des deutschen Wesens waren, wer wird das nun sein?
Wie der Einzelne sich seine Aufgaben nicht selber stellt, sondern sie von Gott gestellt erhält, so stellt auch ein Volk sich seine Aufgaben nicht selber; es hat mit seinen Fähigkeiten die ihm gestellten Aufgaben zu lösen.
Durch die ungeheure wirtschaftliche Umwälzung, die uns nur deshalb nicht klar wird, weil wir mitten in ihr stehen, die ungeheurer ist, als je eine Umwälzung in der Geschichte der Menschheit war, sind alle alten Ordnungen zerstört, und es ist notwendig, neue Ordnungen zu schaffen. Die Arbeiter sind die ersten, die das eingesehen haben; unglücklicherweise sind sie falschen Führern in die Hände geraten; es müssen neue Führer für das Volk erstehen, welche die neuen Formen schaffen, in denen die Menschheit leben kann. Welches Volk könnte geeigneter sein, solche Führer zu erzeugen, als das deutsche? In jedem Deutschen ist die Seele weich und eindrucksfähig für das Leiden der unglücklichen Manschen, und ist doch eine klare Einsicht und ein fester Wille, daß nur durch Härte die Menschen geleitet werden können. In jedem Deutschen ist das tiefe Gefühl dafür, daß die Welt, wie sie nun so ist, etwas Zufälliges ist, und daß ein schöpferischer Mensch kommen muß, um sie zu dem zu gestalten, was sie sein soll. Unsere Zeit braucht den Gesetzgeber. Und aus welchem Volk kann der Gesetzgeber kommen, wenn nicht aus dem deutschen? Der ist der Deutsche, welcher ein Gesetzgeber dieser Zeit werden wird.