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(1906, überarbeitet 1932)
Die Absicht der dramatischen wie jeder anderen Kunst geht auf gewisse Bewegungen im Gemüt des Zuschauers. Die Absicht wird erreicht durch sinngemäße Anwendung der Mittel. Das hauptsächlichste dieser Mittel, aus dem sich alle anderen ergeben, ist die Handlung; diese geht vor sich zwischen Personen, welche vom Dichter erdichtet und so gestaltet sind, daß sie den Eindruck lebensfähiger Wünschen machen.
Wohlbemerkt: Die Personen des Dichters müssen den Eindruck lebensfähiger Menschen machen, sie brauchen nicht Abbilder von lebenden Menschen zu sein; der Dichter schafft, und braucht nicht abzuschreiben; er muß die Grenzen der Wahrscheinlichkeit – bei niedrigem Flug seiner Vorstellungskraft – und der Möglichkeit – bei hohem Flug – achten: die Grenzen der Wirklichkeit gibt es nicht für ihn.
Aber die menschliche Vorstellungskraft, die schaffende sowohl wie die aufnehmende, kann nur mit den Wirklichkeitsbestandteilen wirken; dieses Wirken ist Abziehen; lebendig Aufbauen nach den Gesetzen der Wirklichkeit; und endlich (das Bedenklichste) verschiedene Wirklichkeitsbestandteile neu zusammensetzen. Etwa: ich stelle mir einen menschlichen Körper unserer Nasse vor, der ganz rein seinen Entwicklungsstrebungen gefolgt ist, ohne Krankheiten, falsche Ernährung, falsche Bekleidung, falsche sonstige Lebensweise – durch diese Abziehung gewinne ich eine Schauung unserer Rasse. Ein solcher Schauungskörper war nie wirklich, denn in der Wirklichkeit störte immer irgend etwas seine Entwicklung; aber er wird immer lebensfähig wirken. Ich kann zweitens mir einen Körper vorstellen, dem ich von Kindheit an die Strebung beilege, doppelt so groß zu werden wie andere Menschen, durch entsprechend stärkere Nahrungsaufnahme, Verarbeitungsfähigkeit usw.; so kann ich mir lebendig einen Riesen aufbauen. Auch der Riese ist nicht wirklich, aber auch er wird den Eindruck der Lebensfähigkeit machen. Endlich kann ich aus dem Anblick der fliegenden Vögel mir die Vorstellung eines Manschen bilden, welcher fliegen kann; ich hefte ihm ein paar große Flügel auf die Schultern. Wirklich ist auch der Engel nicht; ob er den Eindruck der Lebensfähigkeit macht – das kommt auf den Beschauer an, ob er entweder oberflächlich genug ist, nicht zu bemerken, daß ja die Muskeln, welche die Arme bewegen, bei diesem Wesen zwar vorhanden sind, aber nicht die Muskeln für die Flügel; daß man nur unlebendig angeklebt hat; oder ob er empfindet: hier verließ den Künstler die schaffende Kraft, und er setzte die Flügel nur an, um sie als Zeichen gedacht zu wissen, wie mit feinerem Kunstgefühl die Alten dem Hermes ganz kleine und offenbar tragunfähige Flügel an die Sandalen setzten. Und man mache sich immer klar: wo der Künstler zum Zeichen greifen muß, da hat er nicht gestalten können, geht sein Wollen über sein Können, tritt beim Zuschauer an Stelle eines Empfindens ein Verstehen. Ausdrücklich möchte ich hervorheben, daß ich eine solche Überschreitung der Kunstgrenzen nicht an sich verwerflich, sondern für die höchsten Ziele der Kunst, wenn auch immer bedenklich, so doch nötig finde.
Aus diesem Umstände nun, daß die Gestalten eines Künstlers nicht aus der Wirklichkeit genommen zu sein brauchen, sondern unwirklich sein können, bei höheren Aufgaben müssen: andererseits aber aus Wirklichkeitsbestandteilen geschaffen sind, entsteht nun sehr viel Unklarheit in der Kunst. Sehr schlimm wirkt diese Unklarheit besonders im Drama, weil hier die vom Dichter gestaltete unwirkliche Person nachher von einem wirklichen Menschen, dem Schauspieler, auf der Bühne dargestellt wird; denn indem der Schauspieler beabsichtigt, in seiner Ausdrucksweise »einen Menschen zu schaffen«, macht er sich meistens nicht klar, daß er nicht einen wirklichen Menschen schaffen soll. Hierdurch entsteht dann ein Zwiespalt zwischen Dichtung und Darstellung, der sich in der Empfindung der Zuschauer so äußert, daß sie den Dichter »unwahr« schelten, oder so, daß sie behaupten, die betreffende Person gehe sie nicht an. Nun ist ja freilich die Kunst nicht für alle; und wenn ein Krämer erklärt, Wallenstein oder Ödipus gehe ihn nicht an, so hat er damit auf jeden Fall recht: der Mann versteht weder das Schicksal des Helden, noch diesen selbst, seine Reizschwelle liegt zu tief, und diese Gestalten fliegen in der Luft über sie fort. Anders aber liegt die Sache, wenn wir den Satz von den sogenannten Gebildeten, selbst von Kritikern hören. So kann man jetzt öfter in Kritiken lesen: Da wir doch heute in einer Zeit leben, wo in Wirklichkeit die Arbeiter, die Industriellen, die Bankiers und ähnliche Menschen die Herrscher seien, so könne uns das Schicksal oder die Gestalt eines Königs auf der Bühne doch nicht mehr bewegen.
Die alten Griechen waren sich ganz klar darüber, daß ihre Götter von ihren Dichtern geschaffen waren; mit diesem Bewußtsein vermochten sie aber doch ihre Götter zu verehren, wenigstens solange sie noch gebildet und nicht zu enhemeristischen Anmerkung des Herausgebers: Euhemeros, spätantiker griechischer Philosoph, führte in aufklärerischer Weise den Glauben an die Götter auf Ahnenkult und Heroenglauben zurück. Barbaren geworden waren. Ebenso sollten wir einsehen, daß die Könige von den Dichtern geschaffen sind: ja auch andere hohe Manschen gab es nicht in der Wirklichkeit, auch Schillers Großinquisitor hat nie gelebt; und noch mehr: auch die Frauen sind von den Dichtern geschaffen – man frage nur nach, und jeder Dichter wird antworten, daß seine Frauengestalten der Ausdruck seiner Sehnsucht sind.
Das ist denn der letzte Grund, weshalb ein Dichter dichtet? Er will über andere Menschen herrschen, sein Wollen, sein Sehnen ihnen auferlegen. Beim Dramatiker geschieht das so, daß er sein Wollen und Sehnen zu Schicksalen und Menschen gestaltet; wie wir oben sahen, kann er nur aus Wirklichkeitsbestandteilen gestalten; aber je bedeutender er ist, desto unwirklicher sind seine Personen.
Welches Wollen, welches Sehnen ein Dichter hat, das ist offenbar in sehr hohem Maße, wenn nicht gänzlich, unabhängig von den Zeitläuften. Er neige etwa zum Idyllischen, heute oder vor zweitausend Jahren; dann wird er suchen, welches körperliche Gewand seinen Empfindungen entspricht; und da bietet sich sogleich der Mensch in einfachen, natürlichen Verhältnissen und mit beschränkten Bedürfnissen, der Landmann und Hirt. Es hat nie einen theokritischen Hirten gegeben, und bei Sannazaro etwa ist das Gewand so durchsichtig, daß man sogar den Eindruck hat: hier wird nur ein geistreiches dichterisches Spiel getrieben, und Empfinden, Sehnen und Bildung des Dichters haben hier eine eigene Welt geschaffen, die mit der gemeinen Wirklichkeit nichts zu tun haben will.
Das glücklichste Wesen unter der Sonne ist wahrscheinlich die wiederkäuende Kuh; dennoch möchte auch der unglücklichste Mensch nicht Kuh sein. Ebenso möchte ein Dichter in Wirklichkeit nicht Hirt sein: er möchte nur des Hirten Glück genießen; da dieses aber lebendig mit seinem niedrigeren geistigen Kreis verbunden ist, so kann der Idyllendichter, wenn er wirklich Dichter ist, und nicht etwa wie unser guter Johann Heinrich Voß ein Philister (dessen Gemütsart mit dem wirklichen Hirten große Ähnlichkeit hat), hier immer nur ein Kleid finden. Daß es sich um ein dichterisches Maskenspiel handelt, wird bei Theokrit deshalb nicht so deutlich wie bei den Neuern, weil der Alte immer mehr auf das Plastisch-Bildmäßige geht, der Neuere mehr ans die Empfindung. Aus jener Tatsache des Maskenspiels und dem Umstand, daß die Sehnsucht nach dem Idyllischen vornehmlich bei hochgesteigerter Kultur auftritt, ergibt es sich, daß wir das Idyll so häufig in der konventionellen Dichtung finden. Daß es sich um ganz andere Verhältnisse handelt bei heroischen Empfindungen der Dichter und deren Einkleidung, werden wir gleich sehen, wenn wir die Frage der dichterischen Königsgestalten untersuchen.
Heute werden die Schafe mit Maschinen geschoren: ist das ein Grund, daß ein mehr oder weniger von der Natur entferntes Schäferidyll uns heute unverständlich wäre? Unser Jean Paul suchte idyllische Empfindungen durch damals neuzeitliche Wirklichkeitsbestandteile darzustellen; aber wenn ich sein bestes Werk dieser Art, Schulmeisterlein Wuz, betrachte, so finde ich, daß er wegen der Unergiebigkeit in plastisch-künstlerischer Hinsicht seiner Wirklichkeitsbestandteile zu allerhand gequälten und gekünstelten Beweggründen kam. Zu seiner Zeit hat Wuz vielleicht stärker gewirkt wie Daphnis und Chloe: heute ist nun auch das idyllische Schulmeisterlein nur noch geschichtlich aufzufassen, gleich dem antiken Hirten – und da wirkt der Alte noch, wie er immer gewirkt hat, während Wuz doch bereits sehr verblaßt ist.
Ich habe Idyll und Schäferdichtung absichtlich als Beispiele gewählt, um recht klar zu machen: das Erste sind Empfindungen des Dichters; das Zweite deren Darstellung durch Wirklichkeitsbestandteile, und zwar so, daß nach Bedarf aus diesen eine ganz neue, dichterische Welt aufgebaut wird, und daß sie hergeholt werden, wo sie zu finden sind, nicht nur aus der Gegenwart, sondern auch aus der Vergangenheit. Und wie sicherlich Sannazaro seiner Zeit nicht fremd war, denn seine Arkadia fand den lautesten und andauerndsten Widerhall, so wird auch ein anderer Dichter seiner Zeit nicht fremd sein, der Wirklichkeitsbestandteile aus anderen Zeiten verwendet: vorausgesetzt, daß es in selbständiger und den Anschauungen der Vortrefflichsten seiner Zeit entsprechender Weise geschieht, und daß durch ein wirkliches inneres Erleben die betreffenden Empfindungen überhaupt lebendig in ihm sind (wodurch übrigens konventionelle Dichtung nicht berührt wird, für welche den Heutigen das gedankliche Verständnis fehlt, wiewohl wir sie tatsächlich in unserer noch wirkenden nachgoetheschen Lyrik besitzen). Gewiß wird ein wirklicher Dichter für kommende Geschlechter arbeiten: aber das kann er immer nur als Mensch seiner eigenen Zeit; und es ist deshalb der schwerste Vorwurf, den man gegen ihn richten kann, wenn man sagt, er sei seiner Zeit fremd – freilich ist »die Zeit« nicht die Summe der gleichgültigen Leute, welche in den betreffenden Jahrzehnten leben. Sudermann sprach gewiß zu den Seelen des größten Teils seiner Mitbürger; aber drückte er aus, was die Zeit bewegte?
Nach diesen Klarlegungen dürfen wir nun zu unserer Aufgabe kommen, nachzuweisen, daß Schicksal und Charakter des Königs im Schauspiel auch einer solchen Zeit nicht fremd sein könne, in welcher – nicht »die Arbeiter und Industriellen herrschen« – sondern Herrscher überhaupt nicht vorhanden sind, vielmehr die Gesellschaft einer Galeere gleicht, wo die Sträflinge Kapitän und Offiziere ermordet haben und sich nunmehr untereinander aus Habsucht und Geiz erwürgen möchten, trotzdem aber, um nicht alle im Meer zu versinken, noch rudern und steuern müssen und so scheinbar noch eine wohlgeordnete Bemannung sind.
Möge mir ein Zitat aus Richard Wagners Schrift »Staat und Religion« gestattet sein.
»Im eigentlichen Interesse des Königs, welches in Wahrheit nur das des reinsten Patriotismus sein kann, scheidet sich dessen unwürdige Stellvertretung, die öffentliche Meinung, als Interesse der egoistischen Gemeinheit der Masse aus und die Nötigung, ihren Forderungen dennoch nachzugeben, wird zum ersten Quell höheren Leidens, welches nur der König eigentlich als wirklich persönliches erfährt. Nehmen wir hinzu, welche Opfer persönlicher Freiheit an sich der Monarch der Staatsräson zu bringen hat ... so begreift es sich, wie von jeher Sage und Dichtung die Tragik des menschlichen Daseins gerade am Schicksal der Könige am deutlichsten und häufigsten zur Darstellung brachten. Erst am Lose und Leiden der Könige kann die tragische Bedeutung der Welt ganz und voll zur Erkenntnis gebracht werden. Bis zum König hinauf ist für jede Hemmung des menschlichen Willens, soweit dieser sich im Staate präzisiert, eine Befreiung denkbar, weil das Streben des Bürgers nicht über die Befriedigung gewisser, innerhalb des Staats zu beschwichtigender Bedürfnisse hinausgeht.« Ich möchte mich so ausdrücken: Im König schlägt die höchste menschliche Freiheit (über den Gesetzen stehen) zur höchsten menschlichen Unfreiheit um (der kleinste Schritt hat die ungeheuerlichsten Folgen, muß in steter Rücksicht auf das Volk unternommen werden). Das ist die höchste Tragik; nur ein Gott könnte noch tragischer wirken.
Was der Dichter vom wirklichen König braucht, ist also nur die Lage, diese ganz einzigartige tragische Lage. Indem er diese Lage darstellt, gestaltet er dramatisch seine tragische Empfindung, Und es ist nicht in seine Willkür gegeben, ob er für seine tragische Empfindung diese oder jene Wirklichkeitsbestandteile wählt; sondern er muß die Tragödie des Königs dichten, wenn er die Tragödie des Menschen dichten will.
Offenbar hat irgendein wirklicher König nicht mehr mit den Königen der Dichter zu tun, wie wirkliche Schäfer mit den Schäfern der Dichter: nur daß der Dichter hier kein Maskenspiel dichtet; die gedichteten Schäfer sind nur lebensfähig innerhalb der um sie herumgeschaffenen dichterischen Welt; die gedichteten Könige sind lebensfähig auch in der Wirklichkeit, wie auch das Rassenideal in der Wirklichkeit lebensfähig ist; daß sie in der Wirklichkeit fast nicht vorkommen, wird durch ähnliche Ursachen bedingt, wie daß das körperliche Rassenideal in der Wirklichkeit fast nicht vorkommt.
Wenn jemand also dem Dichter die Könige verbieten will, so folgt er da nicht etwa bloß einem kindlichen Freisinn oder Sozialismus, sondern er verbietet dem Dichter die Darstellung der höchsten Form tragischer Empfindung. Und das ist der eigentliche Beweggrund der Gegnerschaft. Nicht der König ist unserer »Zeit« fremd, sondern die tragische Empfindung.
Aber die tragische Empfindung hat es bis jetzt in der Menschheit stets gegeben; und daß seit einigen wenigen Jahrhunderten die Fragen des billigen Einkaufs und teuren Verkaufs die Gemüter der Mächtigsten beherrschen, dieser Umstand enthält keinerlei Eigenschaften, welche das endgültige Erlöschen dieser Empfindung voraussehen lassen; nur: die Mächtigsten von heute sind nicht die Kulturträger, sie stellen ebensowenig unsere Zeit dar wie deren schlechte Skribenten. Wir fanden: der Tragiker braucht die Lage des Königs, jenes eigentümliche Umschlagen von höchster Freiheit in höchste Unfreiheit. Wie ein wirklicher König sich in dieser Lage verhält, ob es überhaupt je einen König gegeben hat, der sich so verhielt, wie es der Dichter gebrauchen kann: das ist dem Tragiker offenbar ganz gleichgültig, denn er will ja nur die tragische Empfindung darstellen; er wird sich also eine angemessene Handlung ersinnen, in Anlehnung oder nicht an einen geschichtlichen Vorgang, und zu ihrem Träger sein Menschenideal machen, denn nur im sittlich höchsten Menschen kann die höchste Tragik sich äußern, wie andererseits ja auch die menschlich höchstmögliche Lage erforderlich war.
Nun sind freilich die einzelnen Bestandteile für die tragische Handlung, wie für jedes Kunstwerk, immer aus der Wirklichkeit zu nehmen; wir finden hier eine Bedingtheit des Dichters durch seine Zeit, indem er nämlich durch die Einsicht seiner Zeit in die gesellschaftlichen Zusammenhänge in der Auswahl dieser Bestandteile bedingt wird. Aber nie wird er den ganzen Lebensumfang, den ganzen Lebenskreis irgendeines geschichtlichen Helden ohne Hinzufügen und Wegstreichen verwenden können, weil hier der tragische Vorgang, als ein unwirklicher, idealer, als eine bloße Abziehung, als der Ausdruck einer Empfindung des Dichters nie rein erscheinen kann.
Überlege ich mir etwa die Aufgabe, welche mir Peter der Große stellt, so finde ich folgendes:
Peter ist ein Revolutionär, welcher das bisherige Leben seines Volkes von Grund auf ändert, indem er ihm die westliche Kultur aufzwingt. In seinem Kampfe hat er gegen sich den aus der bloßen Trägheit entstehenden Konservatismus des Volkes und die Furcht der Bojaren, in ihren Belangen geschädigt zu werden. Die erste Macht ist ungeordnet und ist überhaupt nicht zu ordnen, wirkt nur leidend, und ist mit dramatischen Mitteln nicht angemessen darzustellen; man setze auf diese Seite etwa seine erste Gemahlin und die Priester. Die zweite Macht ordnet sich und gewinnt seinen Sohn Alexei als Haupt – ein typischer geschichtlicher Vorgang: die Gegnerschaft des Thronfolgers gegen den Vater. Für sich hat der Zar nur solche Personen, welche im späteren Rußland die Bürokratie darstellen werden, da nur die es sind, die offenkundig Vorteil haben. Es liegt ganz deutlich in den Verhältnissen, daß diese Personen keine edlen Menschen sein können, sondern Emporkömmlinge, Abenteurer, vielleicht bojarische Überläufer, die nur das gemeine Streben an ihn fesselt. Denn – und hier zeigt sich die Schwäche des Stoffes – die Absichten Peters können uns weder mit dramatischen, noch allgemein dichterischen Mitteln derart klargemacht werden, daß sie auf unsere Empfindung wirken. Es stehen keinerlei höhere Ziele der Menschheit in Frage, sondern nur eine andere, vielleicht noch nicht einmal bessere Art des bürgerlichen Lebens. Ja, indem Peter auf das bisherige Leben auflösend wirkt, ohne daß er durch seine Handlanger sofort etwas Neues an die Stelle setzen kann, wendet sich unsere Zuneigung vielmehr den Gegnern zu.
Mit anderen Worten: Wir haben hier die Schwäche jedes Revolutionsstückes. In ganz seltenen Zeiten revolutionärer Aufregung mögen solche Stücke wirken, wo der Zuschauer naiv glaubt, daß der teuerer für die höchsten Güter der Menschheit kämpft; wo aber der Revolutionär nicht schon an sich, aus dem Leben heraus, die Zuneigung hat, da verspielt er als dramatischer Held gewiß. Wenn der Dichter sich, wie er ja hier muß, enger an die Wirklichkeit anschließt, so hat er nicht einmal den Ausweg, seinen Helden als schwungvollen Deklamator hinzustellen, sondern er muß ihn als einen wirklich tätigen Menschen bilden. Da werden jedoch plötzlich die Mittel knapp, über welche der Dramatiker verfügt. Der wirkliche Peter wollte von Rußland, was die gleichzeitigen europäischen Fürsten von ihren Ländern wollten: mehr Geld und mehr Menschen; für diese beiden Zwecke war ihm alles andere Mittel: Industrie, Handel, Kulturbedürfnisse, ein Hafen. Aber was kann der Dramatiker mit Schlußfolgerungen machen, wie: »Ich will Manufakturen haben, denn dadurch kommt Geld ins Land, und die Bevölkerung vermehrt sich; die Manufakturen müssen aber zunächst einen Absatz im Lande selbst haben; deshalb verbiete ich etwa den Kaftan und verlange, daß meine Untertanen Hosen und Röcke tragen, für welche die Stoffe in jenen Manufakturen hergestellt werden, während der Kaftanstoff im Hause gewebt wurde.« Der Gedankengang ist unzweifelhaft richtig, aber im Drama gänzlich unwirksam. Man könnte sich helfen, indem man Peter als eine Art Mystiker bildete; aber da der wirkliche Peter nur auf sein vernünftiges Ziel, welches das Ziel seiner Zeit war, und durch vernünftige Mittel arbeitete, und der Dichter für seinen dichterischen Peter die Lage des Wirklichkeitsnahen beibehalten müßte, so würde uns der dichterische Peter nun ganz unverständlich. Er erschiene als Verrückter oder Verbrecher. Eine Nebenbemerknng: So erscheinen für den unbefangenen Blick die heutigen Sowjetherrscher, welche in derselben Lage sind wie Peter der Große. Sie erscheinen so. Was sie sind, das mag etwas ganz anderes sein; jedenfalls werden sie nie einen dramatischen Vorwurf abgeben können, denn ihr Wirken und Kämpfen ist mit dramatischen Mitteln nicht darzustellen. Man kann auch etwa einen Sonnenuntergang nicht in Marmor bilden; der ist ein malerischer Vorwurf und nicht ein bildhauerischer.
Wir sehen also: Wenn der Dichter einen wirklichen geschichtlichen König als Vorwurf nehmen würde, so würde er unter Umständen seine Aufgabe von vornherein verfehlen.
Ich halte es dichterisch überhaupt nicht für richtig, einen Reformer oder Revolutionär zugleich König sein zu lassen; das Königtum stellt die Heiligkeit des Bestehenden dar, und gerade hier liegt ja seine Tragik, der Umschlag aus der Freiheit in die Unfreiheit; etwa: von seiner Höhe sieht er als erster die Notwendigkeit der Umwälzung, darf sie aber nicht vornehmen, denn wenn die höchste erhaltende Macht zerstört, so gibt es für das Umstürzen keine Grenzen mehr. Die Tragik des Revolutionärs – des idealistischen, der allein dramatisch verwendet werden kann, nicht des platt vernunftbedingten – stellt sich ganz anders: er kämpft gegen die Gemeinheit der Welt für eine neue Ordnung der Dinge; sobald er die aber hergestellt hat, stellt sich auch sofort wieder die Gemeinheit der Welt her; und von Glück kann er sagen, wenn er während des Kampfes nicht selbst gemein geworden ist. Wenn ich vom Sittlichen absehe, so kann ich diesen Vorgang auch so ausdrücken: Hat der Reformer sein Werk getan, so ist er überflüssig, ja schädlich.
Ich stelle mir einen, vielleicht verklärten, Bismarck vor, der ein Reich geeinigt hat. Ist sein Werk getan, so ist er nicht mehr nötig. Man ehrt ihn auf das höchste, er zieht sich auf sein Gut zurück. Ist das tragisch? Nein. Er wird durch kleine Intrigen, durch niederträchtige Hofschranzen gestürzt und in die Verbannung getrieben. Nun, er erlebte die allgemeine Undankbarkeit der Menschen; aber in der Verbannung macht ihn der Gedanke zufrieden – wenn er wirklich ein großer Mann ist, ein Mann also, wie ihn der Dichter schaffen muß, mag er gelebt haben oder nicht – daß sein Werk fortlebt. Auch dieses Schicksal ist nicht tragisch.
Aber: er begründet das Reich vermittels des allgemeinen Wahlrechts; dieses war das einzige Mittel, die verschiedenen Stämme zu einigen; aber dadurch entfesselte er wieder neue auseinanderstrebende Kräfte; es entsteht eine neue Zersplitterung durch die erwachte und geformte Gegnerschaft der Klassen.
Entweder denkt unser Bismarck nun: Gut, ich habe meiner Zeit meine Arbeit geleistet; die neue Aufgabe wird von meinem Nachfolger gelöst werden; auf jedes Binden folgt ja ein Lösen, auf jedes Lösen ein Binden – auch hier ist noch keine Tragik, sondern nur höchster Verstand.
Oder er denkt: Ich hatte gedacht, die Selbstsucht und blinde Gier vernichtet zu haben, welche mein geliebtes Volk zerstört, indem ich ihr die Möglichkeit nahm, sich auszudrücken. Nun hat die Flut doch wieder einen neuen Weg gefunden, und einen schlimmeren. Was bedeutete eigentlich mein Werk? Habe ich nicht Schlimmes schlimmer gemacht? – Jetzt endlich haben wir Tragik. Aber wodurch? Dadurch, daß ich seinen Kampf ins Sittliche verlegte und vom Nützlich-Politischen absah. Die Aufgabe in der ersten Form: Der Reformator wird überflüssig, nachdem er seine Arbeit geleistet hat – ist überhaupt nicht dichterisch; soweit sittliche Mächte hier überhaupt in Frage kommen, erscheint da nur die kleine Undankbarkeit der Menschen, und der Reformator tut uns leid – während bei unserer Form der große Mann durch höchste Anstrengung seiner Sittlichkeit das Gegenteil schuf von dem, was er wollte, also sich selbst zerstörte. Das ist aber ein Vorgang, der hinter der Erscheinung liegt: den angemessen darzustellen, müssen wir die Form der Tragödie haben.