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Kunst und Religion

(um 1910)

In früheren Zeiten nahm man einen engen Zusammenhang zwischen Kunst und Religion an, und insbesondere die Dichtkunst schien der Religion so nahe verwandt, daß bekanntlich bei manchen Völkern dasselbe Wort gebraucht wurde, um den dichterischen und den religiösen Seher zu bezeichnen: ein großer Teil der alten Dichtung gehört gleichzeitig zu den alten Urkunden der Religion, und große Teile der Religionen sind nur dichterisch dargestellt; selbst im heutigen Christentum, so begrifflich es im ganzen ausgedrückt sein mag, ist noch außerordentlich viel Poesie enthalten.

Heute scheint das Band gerissen zu sein, und man wird das leicht erklären durch den allgemeinen Ausgliederungsvorgang, durch den etwa auch Recht und Medizin sich von der Religion selbständig gemacht haben. Der Vorgang erscheint uns als selbstverständlich und als notwendiges Entwicklungsergebnis. Aber sehr vieles, was uns als Entwicklung erscheint, ist nur ein Ringelspiel; gewisse Möglichkeiten des Empfindens und Denkens sind für die Menschheit vorhanden; von der einen geht die Menschheit zur andern, und sehr oft kommt sie wieder zu längst Vergessenem zurück. Offenbar befindet sich die Religion heute in einer Krise wie die Dichtung. Die große Masse des Volkes besteht aus zufriedenen, leidlich klugen und leidlich moralischen Weltleuten; an Religiösen gibt es etwa das, was Christus die Schriftgelehrten und Pharisäer nennen würde, nämlich die amtlichen Vertreter der Kirchen und die mehr oder weniger pietistisch gesinnten vereinzelten Gläubigen, und an Poetischen gibt es etwa die Ästheten. Pharisäer und Schriftgelehrte waren, wenn wir von den mythischen Essäern absehen, offenbar noch die religiös Besten im Lande; dennoch hatte Christus durchaus recht, als er gegen sie kämpfte und nicht gegen die lässigen Weltleute, und so wird eine ernste und echte Dichtung sich auch immer gegen die Ästheten wenden müssen, trotzdem diese die einzigen sein mögen, die überhaupt Anteil an der Dichtung nehmen. Ich möchte zur Erklärung an die Theorien der neueren Ästhetik, vorzüglich Alois Riegls und des durch ihn beeinflußten Worringer erinnern, welche uns erst ein Verständnis der spätrömischen sogenannten Verfallskunst, der byzantinischen, ägyptischen und teilweise der babylonisch-assyrischen Kunst eröffnet hat; und ich möchte diese Theorien in Beziehung setzen zu dem, was in einem neuen theologischen Werk »Die Lebenskräfte des Evangeliums« von Joh. Warneck über die wirksamen Gründe für die Annahme des Christentums bei den animistischen Heiden gesagt wird. Es wird sich da ein merkwürdiger Zusammenhang ergeben.

Die heute noch allgemein herrschende Ansicht betrachtet die Schönheit als Genuß; dieser komme durch ein Einfühlen des genießenden Subjekts in das genossene Objekt zustande; ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Kunstschönem und Naturschönem ist nicht möglich, wird von den ausübenden Künstlern teilweise geradezu verneint; die zugrunde liegende Weltauffassung ist ein optimistischer Pantheismus, und es ist ein Gefühl der völligen Sicherheit vorhanden, eine überströmende Dankbarkeit gegenüber der gütigen Natur. In ihrem höchsten Ausdruck hat diese Empfindungen und Vorstellungen Goethe gehabt; freilich ist der Mensch und besonders der Dichter kein philosophisches Räderwerk, und man darf sich nicht daran stoßen, wenn man in seinem reichen Nachlaß auch einmal entgegengesetzte Äußerungen findet; jedenfalls war das andere das Wesentliche in seiner dichterischen Persönlichkeit. Ich möchte diese Art von Dichter als die untragische bezeichnen.

Religion hat nur, wer ihrer bedarf; wer ohne sie ein harmonisches Weltbild und einen Sinn für sein Leben findet, der täuscht sich selber, wenn er sich für religiös hält. Goethe selbst hat das in dem bekannten Spruch, in welchem er »Wissenschaft und Kunst« und Religion als einander ersetzend annimmt, sehr gut ausgedrückt, besonders aber die höheren Religionen, die sämtlich Erlösungsreligionen sind, können offenbar nur von Menschen erfaßt werden, welche ein Erlösungsbedürfnis haben. Tieferen Naturen, wie etwa Goethe selbst, ist bei aller Verklärung des Irdischen das Fragwürdige unserer Existenz natürlich doch bewußt; aber zur Religion überhaupt, zum Erlösungsbedürfnis insbesondere, kann dieses Bewußtsein sie doch nie führen, weil sie eben immer, auch in ihrem Wollen und Sehnen, im Umkreis des Irdischen befangen bleiben. Am klarsten hat das Nietzsche gesehen und am folgerichtigsten ausgedacht: in der philosophischen Ausdrucksweise ausgedrückt: Ablehnung des Dings an sich und Forderung der ewigen Wiederkunft.

Solchen Empfindungen ist unsere Zeit offenbar ganz außerordentlich geneigt. Im öffentlichen Leben sind die liberalen Ideen überall durchgedrungen, und zwar bis jetzt offenbar mit durchaus befriedigendem Ergebnis; an die Zukunft denkt ja der Liberalismus grundsätzlich nicht. Im wirtschaftlichen Leben haben die entsprechenden Lehren noch größere Erfolge gehabt, gleichfalls bis heute. Und so ist denn der Mensch überall befreit, hat, wie er es nennt, die Natur sich unterworfen, seine Kräfte vervielfacht und ist durch die äußerlichen Fortschritte in einen begreiflichen Rauschzustand versetzt, der bis in das letzte Geistige hineingeht. Offenbar: unsere Vorfahren haben die Natur und den Menschen nicht verstanden, uns aber sind die Augen geöffnet; wir schauen, und die höchste Seligkeit des Schauens empfinden wir als Kunsteindruck; und haben wir keine Furcht mehr, so brauchen wir nicht mehr Religion, sondern wir haben die Wissenschaft, welche durch treues Aufweisen der Zusammenhänge uns die alte Furcht nahm und unsere neue Macht gegeben hat.

Vergleiche sind immer mißlich, namentlich solche mit Zeiten, über die wir auch nach den letzten Ausgrabungen von gestern doch immer nur eine Fable convenue bilden werden; aber mir scheint, wenn man die Gesamtempfindung der Homerischen Gesänge betrachtet, daß denen ein ähnliches allgemeines Gefühl zugrunde liegen muß, wie wir es bei den heutigen Menschen erleben. Als ein Wille neuer Religiosität über das griechische Volk kam, die dann in Sophokles gipfelte, hat man die irreligiöse Weltfreudigkeit Homers nicht mehr verstanden und sogar Religion in ihr gesucht: ähnlich wie man heute die religiösen Dichter, einen Sophokles oder Dante nicht mehr versteht und das für ihren Zweck hält, was ihr Mittel war.

In jenem theologischen Werk behauptet der Verfasser aus eigener Erfahrung, was die animistischen Heiden zum Christentum ziehe, das sei zunächst die Befreiung von der Furcht vor den Dämonen. »Welch eine grauenhafte Macht diese Furcht im Leben der Heiden bedeutet, können wir, die wir uns in Gottes Hand sicher wissen, nicht ausdenken. In dieser Furcht enthüllt sich uns der Kern des wirklichen Heidentums; seine Mythologie und Theologie ist nur Schale. Sie ist die Fessel, an die alle Animisten geschmiedet sind.«

Man kann sicher annehmen, daß auch bei diesen Völkern nicht zu allen Zeiten diese Furcht die heftigen Formen annimmt, welche der Verfasser bei seinem Beobachtungsstoff gefunden hat; auch bei den sogenannten Naturvölkern gehen ja Veränderungen vor sich: immer aber wird die Furcht die Veranlassung sein für Versuche, die Menschen von ihr zu erlösen durch Religion und Kunst. Dann mag eine Zeit der Beruhigung kommen, bis mit dem notwendigen Verfall von Religion und Kunst wieder neue Zeiten der Furcht entstehen.

Wir wissen heute gar nicht mehr, was wir alles dem Christentum verdanken; auch die größten Feinde des Christentums stehen schließlich doch auf dem Boden, den erst Christus bereitet hat, und sie führen ihre Kämpfe schließlich mit den Waffen Christi. Eine der wichtigsten Errungenschaften des Christentums ist offenbar, daß durch den Glauben an einen guten Gott die Furcht aus den Wünschen verschwunden ist – bis auf weiteres; denn schon gibt es heute fanatische Materialisten, die an okkulte satanische Kräfte glauben. Jedenfalls können wir uns gegenwärtig die allgemeine Furcht früherer Zeiten nur als eine Art Hysterie vorstellen. Der uns heute so schwer verständliche Dionysoskultus scheint eine Erlösung gebracht zu haben, und was Aristoteles χαδαροισ im Drama nennt, geht vielleicht auf ähnliches. Wir müssen sagen: Es ist ein ganz anderes Lebensgefühl, als die heutigen Menschen haben, das Bewußtsein davon, daß unsere Existenz dem sagenhaften Ritt jenes Verirrten über den gefrorenen See gleicht, der jeden Augenblick unter dem Ahnungslosen seinen dunklen Abgrund öffnen kann: wir Heutigen aber leben in jenem Rausch der Sicherheit, in den die äußeren Erfolge uns gewiegt haben.

Man halte die gleichen Stoffe bei Homer und bei den Tragikern nebeneinander, und man wird das ganz andere Lebensgefühl erkennen. Die Ruhe ist verschwunden, die Sicherheit, welche selbst die Götter vermenschlichte, das Selbstverständliche des Lebens und Handelns, die Freude an der schönen Welt: alles ist fraglich geworden, jede Handlung unsicher, überall lauert Schreckliches. Orest tut seine Pflicht, indem er den Vater rächt, und ihn verfolgen die Erinnyen. Antigone tut ihre Pflicht, indem sie den Bruder begräbt, Kreon muß seine Pflicht tun, indem er sie tötet, und sein Haus wird verödet, denn – furchtbar auszudenken! – eine allzu große Pflichttreue ist Vermessenheit gegenüber den Göttern. Verschiedene Lösungen boten sich dar. Neue Götter konnten die Dämonen der Finsternis verjagen, im Einverständnis mit den Menschen; das ist das Ende der Orestie. Aber auch das gibt keine Beruhigung, denn auch die neuen Götter sind nicht gute Götter. So hat der Mensch ihnen gegenüber nur den titanenhaften Trotz und den Stolz im Leiden, mit der Hoffnung, daß auch der Götter Herrschaft ein Ende nehmen wird, und daß über ihnen das Schicksal steht. Das ist der gefesselte Prometheus. Aber was ist das Schicksal? Wir haben nur ein Wort gefunden. Nichts weiter bleibt den Menschen als ein klares Einsehen und stoischer Sinn im Ertragen des Furchtbaren, indem er freiwillig auf sich nimmt, was er tragen muß. Das ist der König Ödipus. Doch wäre nicht ein Höheres möglich? Wenn der elende Mensch sein Leiden nicht nur trüge, sondern auch überwände, und wenn er nach seinem Tod ein hilfreicher Gott würde? Das ist Ödipus auf Kolonos. Hier ist das Heidentum dem Christentum am nächsten gekommen: denn das Christentum lehrt, wie nicht nur der Mensch, sondern Gott selbst leidet, nicht gezwungen, sondern freiwillig, und durch seinen Tod uns erlöst – uns erlöst von der Furcht. Wir wollen nicht an die Theologie denken und an die Stellvertretung, wir wollen auch die unlösbare Frage der Schuld beiseite lassen; wir haben heute andere ethische Begriffe, denn wir sind zweitausend Jahre lang durch Christus erzogen; nur das eine wollen wir festhalten, daß die Menschen erlöst wurden.

Die Säulen in den ägyptischen Tempeln haben zum großen Teil keinen konstruktiven Zweck; aber die Menschen fürchteten damals den Raum. Die Stirnseite der ägyptischen Tempel mit ihrer schmalen, nach oben zusammengehenden Türöffnung, mit ihrer Verneinung des Dachvorsprungs bedeutet die Flucht aus dem Dreiflächigen ins Zweiflächige. Die Malerei führt von der Natur ab und will nichts, als den menschlichen Sinn verewigen, die Plastik nur die Bedeutung im Vergänglichen geben. Den Ägyptern war die Kunst Erlösung von der Wirklichkeit, die ihnen als ein ewiges Sterben erschien; aus der Wirklichkeit flohen sie in die Kunst, wie aus dem Tod ins Leben.

Und was ist den Heutigen, den allermeisten die Kunst? Man beruft sich auf Goethe und spricht von Verklärung der Wirklichkeit. Aber wird dann ernst gesprochen, so wird bloß noch von Farbe, Wort und Ton gesprochen, von den Mitteln jener Verklärung. Längst ist der Geist aus dem inbrünstigen Pantheismus der neueren Kunst entflohen, nur eine klappernde Scholastik ist übriggeblieben. Aber wenn die Kunst nicht mehr die Wirklichkeit seelenvoll macht, dann werden die Menschen bald Grauen vor ihr empfinden, und eine neue Furcht wird kommen.


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