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Der deutsche Gott

(1915)

Gespräch aus der Rahmenerzählung im Novellenband »Die Taufe«

Das Festmahl war endlich in Gang gekommen. Die Gäste wendeten sich den Speisen zu, der Erzähler war unterbrochen, und Einzelgespräche entspannen sich. Sie drehten sich fast alle um den Krieg. Paul Trusts Freund Georg von Lukacs gehörte diesmal zu den Geladenen. Er sprach wichtige Bedenken aus gegen den Krieg, seine Folgen und die Art, wie man ihn in Deutschland erlebt.

Wie die heutige Wirtschaft an die Stelle des selbständigen Einzelarbeiters die Maschine und die organisierte Arbeitergruppe gesetzt hat, welche sie bedient, so daß der Persönlichkeitswert der Arbeit verschwunden ist, so stellt auch der gegenwärtige Krieg nicht Menschen gegenüber, sondern Maschinen und Maschinendiener. Von diesen Dienern wird viel mehr Leistung verlangt als von früheren Kriegern; das ist aber nur möglich, indem ihnen das eigentlich Persönliche der Leistung im wesentlichen abgenommen ist. Die Folge des Krieges wird nun eine weitere Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft einerseits und das Entstehen eines Beamtensozialismus andererseits sein, wodurch denn die Lebensmöglichkeit des notwendig unsozialen höheren Menschen immer geringer wird. Deutschland wird in diesem Kriege siegen, weil die Deutschen von allen Völkern am meisten die sittliche Fähigkeit des Gehorchens und Sichunterordnens haben, also die beste Organisation als Volk besitzen. Das ist aber nur möglich durch jene Todsünde des deutschen Idealismus seit Hegel, daß er die Beziehungen, wie der Staat doch eine ist, substantialisiert hat.

Wir können an einem Beispiel die furchtbare Gefahr erkennen. Die junge Offiziersfrau in der Geschichte vom Tafelaufsatz wird wahnsinnig: das Opfer, das sie dem Staat gebracht hat, war zu groß; ein solches Opfer darf man nur Gott bringen; und eine mittelalterliche Frau, die es Gott gebracht hätte, wäre deshalb nicht wahnsinnig geworden, sondern hätte zum mindesten jenen Zustand der Seele erreicht, den die Kirche als Seligkeit bezeichnet; vielleicht aber wäre sie auch eine Heilige geworden. Man sieht doch: der Gegenstand ist nur für eine Novelle geeignet; er müßte aber für ein Drama geeignet sein, wenn die Beziehung der Frau zum Staat wirklich organisch wäre.

Paul Ernst erwiderte ihm, daß das, was der Freund als die Todsünde des deutschen Idealismus bezeichne, lange vor Hegel geschehen sei, nämlich durch Kant. Auch Gott ist ja für die diesseitige Welt, die wir allein haben, nur eine Beziehung, die wir uns zur Substanz, ja zur Persönlichkeit gemacht haben; aber vor Kant wußten wir immer doch, daß das nur ein Symbol war, daß im Grunde Gott das ist, was wir werden sollen. Diesen, wie er es nannte, Mystizismus bekämpfte Kant, indem er die trügerischste, im Diesseitigen bedingteste Äußerung unserer Seele, das Gewissen, zu unserem Gott machte, ein Organ der Anpassung an unsere Umgebung als unser Ziel hinstellte. Hebbel nennt einmal Schillers Wallenstein ideenlos; er konnte die ganze Dichtung Schillers, außer den Jugendwerken, ideenlos nennen; sie war es, weil die Kantische Philosophie nicht ausreichte. Goethe war durch seine Naturanschauung und sein religiöses Gefühl ein organischer Mensch. Aber er war ein naiver Dichter, und er wurde durch seine bürgerliche äußere Lage zu sehr in die wirkliche Welt verstrickt. Er hatte, wie er war, in der Zeit Homers ein Homer sein können; in unserer Zeit hätte er erst die wirkliche Welt in sich vernichten und eine neue schaffen müssen. Und hier liegt denn auch der schwache Punkt, durch den unsere klassische Dichtung zusammenbrach: sie blieb in Wahrheit bürgerlich bedingt, wie Kant der eigentliche Philosoph des Bürgertums ist. In diesem Krieg zeigt sich Kant als der Lehrer der Deutschen, und freilich ist dieser Krieg der typische Krieg der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Hegel hat nur einen Schluß gezogen: es blieb ihm kein anderer Schluß möglich; und die Deutschen von heute erfüllen nur das durch die Tat, was ihre klassischen Dichter und Denker im Geist hatten.

Georg v. Lukacs nickte und sagte, er könne dem wohl zustimmen. Nun aber scheine ihm die Möglichkeit einer Weiterbildung der Menschheit gegeben durch den russischen Gedanken, und die fürchterlichste Tragik des Krieges würde sein, wenn diese Weiterbildung abgeschnitten würde. Die Anfänge sind in der Dichtung, bei Tolstoi und Dostojewski.

Nehmen wir an, daß der Roman die angemessene künstlerische Form des entwickelten Bürgertums ist; über den Typus des Desillusiosromans – setzen wir Flauberts Education sentimentale als dessen vorzüglichsten Ausdruck – ist die Entwicklung vor jenen beiden Russen nicht hinausgekommen. Tolstoi, rein formal betrachtet, wäre zwar nur der Abschluß der europäischen Romantik; in den wenigen ganz großen Gestalten seiner Romane jedoch ist eine neue Welt aufgezeigt: eine Welt der reinen Seelenwirklichkeit, in welcher der Mensch als Mensch erscheint, nicht als Gesellschaftswesen und auch nicht als isolierte und unvergleichliche, reine und darum abstrakte Innerlichkeit. Aber das bleibt alles Ahnung, Sehnsucht und Polemik; die große Epik ist eine an die Empirie des geschichtlichen Augenblicks gebundene Form und nicht frei wie die Tragödie; der Roman ist die Form der Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit, nach Fichtes Worten. In den Werken Dostojewskis wird die neue Welt als einfach geschaute Wirklichkeit gezeichnet, Dostojewski gehört bereits der neuen Welt an, seine Werke sind nicht mehr Romane, sondern etwas Höheres.

Der junge Professor mischte sich in das Gespräch der beiden und sagte, daß vielleicht der Philolog und Historiker etwas zu den Meinungen des Philosophen und des Dichters geben könne. Er führte ungefähr aus:

Schon vor dem Kriege spürten wir in unserem Volk eine neue religiöse Bewegung. Eine der ersten Erscheinungen in diesem furchtbaren Krieg war, daß diese Bewegung außerordentlich an Kraft zunahm. Sie ist gänzlich formlos, geht vielleicht bei manchen in der Richtung, daß die Kirchlichkeit gestärkt wird; bei sehr vielen aber hat sie durchaus nicht einen kirchlichen Charakter, so daß man annehmen muß, daß bei den anderen die Kirchlichkeit nicht das Erste, sondern das Zweite ist, daß ein neues Gefühl sich in einer vorhandenen Form äußert.

Sehr merkwürdig ist bei diesem allen das spontane Auftauchen des Ausdrucks »Der deutsche Gott«.

Wir sind zu sehr gewohnt, Religion mit Kirche zu verbinden, oder weiter gefaßt, mit irgendeinem mehr oder weniger festen Glaubensbekenntnis. So kann es kommen, daß man religiöse Leute für irreligiös hält, daß sie selber sich dafür halten, und daß man umgekehrt glaubt, das bloße Annehmen kirchlicher Glaubenssätze und die Zugehörigkeit zu einer Kirche, noch dazu, wenn dieses Annehmen aus einer Überzeugung kommt und diese Zugehörigkeit bewußt und gewollt ist, sei ein Beweis von Religion. Man sollte an die berühmte Schleiermachersche Begriffsbestimmung denken, daß Religion das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit von Gott ist; ein Gefühl also und zunächst weder ein Gedankenkreis, noch ein Willensakt; und sollte bedenken, daß »Gott« für jeden Menschen etwas anderes ist, wie für jeden Menschen Welt und Ich etwas anderes ist, daß ich Gott nicht anders begrifflich bestimmen kann als das, von dem ich mich schlechthin abhängig fühle. So gebrauchen das Wort auch unsere heiligen Schriften, wenn sie etwa sagen: »denen das Geld ihr Gott ist«. Das Gefühl verbindet sich später mit dem Willen, dann mit dem Gedanken. Wir haben kein Wort für die Form des Geistes, welche bei diesem Vorgang wirkt. Ein befreundeter Sanskritist, mit dem ich hierüber sprach, schlug vor, wir sollten »Atman« sagen. Es würden viele Irrtümer unmöglich sein, wenn wir ein solches Wort annähmen.

Was die Menschen heute bei uns erleben, das schwebt noch in der Welt des Gefühls und in einem unklaren Willen, auch bei den Kirchengläubigen; die Idee des »Deutschen Gottes« aber versucht bereits eine verstandesmäßige Gestaltgebung. Mit anderen Worten: hier will eine neue Religion werden.

Ein solches Ringen braucht ja keinen Erfolg zu haben; es ist oft ergebnislos gewesen; es kann auch den Erfolg haben, daß die alten Formen, unsere Kirchen, mit neuer religiöser Inbrunst erfüllt werden und einen neuen Inhalt bekommen, ohne daß den Wünschen klar wird: wir haben eine neue Religion. So war zum Beispiel der Pietismus eine neue Religion gegenüber der alten protestantischen Orthodoxie, und die moderne protestantische Orthodoxie gegenüber dem Rationalismus. Aber soweit ich verfolgen kann, ist doch diese Betonung des Nationalen etwas ganz Neues, und jedenfalls ist es etwas, das dem Geist des bisherigen Christentums widerspricht, denn der ist übernational.

Der Gedanke des deutschen Gottes müßte aber nun sehr nahe liegen. Wenn ein urteilsfähiger Protestant, der sich nicht durch die Schale irremachen laßt, den englischen Protestantismus, der offiziellen Kirchen wie der Sekten, betrachtet, so muß er doch sagen, daß ein deutscher Katholik ihm verwandter ist; denn die englische Religion ist nichts wie eine Versicherung zu möglichst niedriger Prämie auf persönliches Wohlergehen in diesem und jenem Leben, genau so wie es kindlich in den Zehn Geboten ausgedrückt ist: »auf daß es dir wohl ergehe und du lange lebest auf Erden«. Und wenn ein deutscher Katholik sich etwa den italienischen Katholizismus betrachtet, so muß er zugeben, daß ihm der deutsche Protestant im wesentlichen Punkt doch näher steht; denn der italienische Katholizismus ist nichts als ein naives Heidentum; er ist eine Organisation, vermittels deren sich der Mensch schlau mit einer großen Macht abfindet. Für uns Deutsche aller Bekenntnisse ist Gott das, dem wir uns bereinigen, wie Paul Ernst sagte, das wir werden müssen. Deshalb steht für uns praktisch immer Christus im Mittelpunkt unseres religiösen Fühlens, wie bei den Engländern Gott-Vater und bei den Italienern die Madonna.

Dadurch, daß Deutschland in zwei Konfessionen geteilt ist, hat man bei uns das Konfessionelle, Trennende immer besonders scharf betont; und in völliger Verkennung der Aufgaben der Religion haben die Konfessionen sich sogar bekämpft. Heute wird es uns schwer zu verstehen, weshalb Luther und Zwingli sich nicht einigen konnten, und wir sind geneigt, den einzigen Grund in theologischer Starrköpfigkeit zu suchen; sollte nicht eine Zeit möglich sein, wo uns klar würde, wie unbedeutend eigentlich das Trennende zwischen unserem Protestantismus und unserem Katholizismus ist; daß selbst der Ultramontanismus nur dann eine Gefahr ist, wenn er uns als Gefahr erscheint? Wir erleben jetzt, wie in der mohammedanischen Welt der Gegensatz zwischen Schiiten und Sunniten vergessen wird, weil dem Islam große Aufgaben gestellt werden; sollte nicht auch der doch nicht tiefere Gegensatz in der christlichen Welt zu vergessen sein?

Wir haben das Trennende vielleicht nur so hoch bewertet, weil wir das Gemeinsame nicht sahen, weil wir es an einer anderen Stelle suchten, als wo es hingehört. Wenn Religionen lebendig sind, dann bilden sie sich beständig weiter und bilden sich um zu Neuem. Aber diese Umbildung und Weiterbildung wird ihnen nicht genügend bewußt. Man kann sich die Sache vielleicht so klarmachen:

Die lebendige Religion, das reine Gefühl, ist formlos; solange sie formlos ist, weiß sie nichts von sich, versteht sich oft falsch; sie sehnt sich deshalb nach einem gedanklichen, poetischen oder willensmäßigen Ausdruck. In dieser Sehnsucht ergreift sie meistens vorhandene Formen älterer Religionen, zunächst nur als bloßes Ausdrucksmittel, damit einer sich dem anderen mitteilen kann. Aber sowie das Gefühl ausgedrückt ist, ist es auch starr geworden und etwas anderes, als es war. Vielleicht verschwindet es für einige Zeit, vielleicht bricht ein neuer Strom aus den Seelen über das Erstarrte. Dieses Erstarrte aber bleibt jedenfalls und heißt neue Religion, wird unter Umstanden leer, unter Umständen Gefäß für etwas Religionsfremdes oder Religionsfeindliches; und auf jeden Fall halten die Leute hartnäckig an ihm fest, ohne zu ahnen, daß es an sich bedeutungslos ist und Religion nur wird, wenn in ihm Religion erlebt wird. Etwa ein mittelalterlicher Deutscher und ein alter persischer Mystiker erleben ganz dasselbe: der eine erlebt es als Christ und innerhalb der Formen der scholastischen Theologie, der andere als Mohammedaner und innerhalb der Formen der philosophierenden Schiah. Das Wesentliche ist nicht die Philosophie, nicht Christentum und Mohammedanismus, sondern das religiöse Erlebnis, das Gefühl, welches diese Kleider anzog. Man kann sich den Vorgang so anschaulich machen:

Durch die Arbeit vieler Geschlechter von Dichtern, Philosophen, bildenden Künstlern und Gelehrten war die Seele der antiken Menschheit höher gestiegen, und was früher Religion gewesen war, das erschien ihr nur noch als barbarische Furcht vor dem Unbekannten. Ein neues Gefühl war in den Menschen: sie fühlten, daß sie Kinder Gottes werden konnten. Nun suchten sie in den vorhandenen Formen: sie suchten unter den Göttern, Kulten, Mythen; sie kamen etwa darauf, durch den Mithraskult dieses neue Gefühl zu formen; oder durch gnostische Weltschöpfungsmythen. Da war, so könnte man annehmen, in einer der vielen mystischen Kultgemeinschaften ein Mysterium von der Kreuzigung des Sohnes Gottes vorhanden, das zunächst nur als Dichtung geschaffen war, durch welche die sehnsüchtige Spannung der Gemüter sich lösen konnte, wenn es vor den Gläubigen aufgeführt wurde. Dieses Mysterium wurde nun ergriffen, als historische Tatsache gefaßt, daß in Palästina Gottes Sohn als Mensch gekreuzigt sei, und nun gruppierte sich schnell aus Altem und Ältestem und aus neuen Schlußfolgerungen um diesen Kern alles von Gedanken und Geschichten, was das neue Gefühl brauchte, um sich in mittelbarer Form darzustellen. Alle diese Geschichten und Gedanken sind also nicht irgendwie real im Sinne der gewöhnlichen Wirklichkeit; sie sind auch nicht eigentlich symbolisch; sie sind Ausdruck für ein Gefühl und sind an sich ähnlich zu verstehen, wie ein Traum der Ausdruck für ein Gefühl ist; etwa, um einen platten Vergleich zu gebrauchen: wenn man träumt, daß man eine Marmortreppe hinaufsteigt, welcher eine Stufe fehlt, so drückt der Traum aus, daß der Träumende eine Zahnlücke hat; ganz gut hätte der Betreffende aber auch träumen können, daß er an einem Zaun vorbeigeht, in dem eine Latte fehlt; ob er diesen oder jenen oder einen anderen Traum hat, welcher die Zahnlücke ausdrückt, das hängt von Erinnerungen und Gedankenverknüpfungen ab, die mit der Zahnlücke nichts zu tun haben.

Man nehme als Beispiel für einen solchen Ausdruck des Gefühls die Lehre vom ewigen Leben.

Die Zeit ist eine Vorstellungsform, ohne die wir in unserem Leben nicht sein könnten. Religion geht aber auf etwas, das hinter unserm gewöhnlichen, bewußten Leben liegt, und in seltenen Augenblicken einer Hochspannung des Gefühls können wir dann sogar den Eindruck haben, daß die Zeit schwindet. Ein mystischer Dichter versucht diesen Zustand auszudrücken durch den Vers »Wem Zeit wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit, der ist befreit von allem Leid«. Der Zustand ist nicht darzustellen; und wenn wir das, was hier gemeint ist, und das jenseits unseres Vorstellungskreises liegt, doch sagen wollen, so müssen wir das doch wieder mit unseren Vorstellungsformen sagen; wir schneiden verstandesmäßig zwei Eigenschaften der Zeit ab: Anfang und Ende, und sprechen dann von Ewigkeit. Vorstellen können wir uns diese Ewigkeit natürlich auch nicht, wir können sie aber doch wenigstens durch jenen logischen Kunstgriff sagen; es ist das ein ähnlicher Vorgang, wie bei der Mathematik der z   n = dimensionalen Gebilde; man glaubt zu haben, wo man nie haben kann. Hat die Menschheit aber erst einmal den Begriff der Ewigkeit, so beginnt sie mit Ausmalen, natürlich wieder aus dem Gebiet des äußeren, des wirklichen Erlebens, das mit der Religion gar nichts zu tun hat: man verlegt Lohn und Strafe in die Ewigkeit und stellt sich Gott vor wie einen kurzsichtigen Menschen, der etwa Richter ist, indem man sich dabei natürlich in unlösliche Widersprüche verwickelt; und je nach Seele und Geist des Volkes, der Zeit und des Einzelnen wird dann dieses »Jenseits« mehr oder weniger sinnlich ausgemalt als eine Art Diesseits, das nur nach den Wünschen und Neigungen des Betreffenden neu eingerichtet ist. So kann denn zuletzt, was ursprünglich Ausdruck des religiösen Gefühls war, sogar antireligiöse Lehre werden, im besten Glauben natürlich. Lehren etwa wie Prädestination und Gnadenwahl sind doch eigentlich das Grausigste von antireligiösem Geist, was man sich denken kann, und sie sind ausgegangen von religiösen Denkern. Ich glaube, daß die religiösen Dichter ein reineres Gefühl haben wie die Denker.

Da das Gefühl das Ungreifbare, der Ausdruck aber das Greifbare ist, da das Gefühl häufig schwindet, der Ausdruck aber bleibt, so wird der Ausdruck immer so hochgeschätzt und mit der Religion selber verwechselt.

Wenn nun heute ein neues religiöses Gefühl durch unser Volk geht, das sich bei vielen in den vorhandenen christlichen Ausdrucksmitteln nicht ausdrücken kann, so ist es verständlich, daß die Menschen heute oft sagen: es ist Sehnsucht nach Religion vorhanden. Es ist das vorhanden, was in Griechenland bei den Besten vorhanden war etwa zu der Zeit, als Sophokles den Ödipus auf Kolonos schrieb, das heißt: es ist lebendige Religion vorhanden, die noch keinen Ausdruck gefunden hat. Das ist das Gemeinsame zwischen Religion, Kunst und Liebe: lebendig sind sie nur, solange sie noch Sehnsucht sind, sobald sie die Erfüllung haben, beginnt ihr Sterben: jede Kunstgeschichte ist eine Geschichte des Verfalls der Kunst, jede Religionsgeschichte des Verfalls der Religion; und jeder Dichter, der eine Liebesgeschichte dichtet, dichtet sie nur bis zu dem Zeitpunkt, da die Liebenden ihr Ziel erreicht haben.

Wir haben in unserer christlichen Lehre das Dogma vom Heiligen Geist. Zu allen Zeiten und bei allen Völkern der Christenheit ist immer wieder die Lehre vom dritten Reich aufgetaucht, das dem Reich des Sohnes folgen soll, das Reich des Heiligen Geistes. Auch heute wieder hört man unklar zwischen der Sehnsucht nach dem Deutschen Gott die Worte vom dritten Reich klingen. Sollte es möglich sein, daß die Menschheit eine rein geistige Religion fände, die keinen Körper mehr braucht, keinen Ausdruck und keine Form, und nur noch Gefühl wäre?

Wir nordischen Völker haben wohl manches im Christentum falsch verstanden, weil wir für historisch und wirklich hielten, was überhistorisch und überwirklich gemeint war; noch heute zeugt ja davon der gänzlich gleichgültige Streit, ob Christus gelebt hat oder nicht. Die Ausdrucksweise des Christentums war uns fremd; und vielleicht ist manche Feindschaft gegen die Religion bei uns lediglich aus solchen Mißverständnissen hervorgegangen. Ob uns Deutschen eine unsinnliche Religion nicht angemessen wäre, eine Religion ohne historischen und dogmatischen Ausdruck? Aber freilich, wie könnten wir dann die wichtigen Dinge mitteilen? Es wäre uns eine neue Offenbarung nötig, die Offenbarung des Deutschen Gottes. Eine alte Welt bricht zusammen in diesem Krieg; sollte die neue Welt, die wir kaum von fern ahnen können, auch eine Religion haben, die wir uns noch nicht vorstellen können, die allem widersprechen würde, was wir kennen: das dritte Reich?

»Darf der Dichter skeptischer sein, wie der Philosoph?« fragte Paul Ernst, indem er sich zu Lukacs wendete; »er darf es gewiß, denn wem wäre stärker bewußt als ihm, daß alles Irdische – ach, auch alles Überirdische nur ein Gleichnis ist? Wir müssen nicht mit der intelligibeln Welt beginnen, sondern mit der empirischen. Wir haben eine Sehnsucht, uns zu opfern, uns aufzugeben. Wir nennen das, dem wir uns opfern, Staat; was war jener Offiziersfrau der Staat? Das, vor dem sie selbst und ihr Geschick ihr klein erschien, dem sie sich opferte. Vielleicht ist der Staat eine dämonische Macht; aber ich denke, wenn wir den rechten Sinn haben, dann wird aus dem Dämon ein Gott; denn empirischhistorisch ist Gott ja ein Geschöpf des Menschen, und schon mancher Gott ist aus einem Dämon entstanden. Wollten wir über diesen Krieg mit dem Verstand urteilen, dann müßten wir verzweifeln. Freilich ist er nichts weiter als eine Fortsetzung des Kampfes, den die Völker in den Zeiten führen, welche sie Frieden nennen, nur daß dieser Kampf mit anderen Mitteln und in anderem Zeitmaß geführt wird. Indessen das ist es ja gerade: der Krieg ist höchstes Leben; und wenn wir nicht an Gott glaubten, dann vermöchten wir das Leben nicht zu ertragen. Nun denken Sie: im ausgehenden Altertum bauten die Leute Häuser, in denen die Gerichtstage abgehalten, Handel und Wandel gepflogen wurden. Die Häuser nannte man Basiliken. Aus den Tempeln der alten Götter, der Götter Platons, konnte die christliche Kirche sich nicht entwickeln; sie entwickelte sich aus der profanen Basilika. Gottes Wege sind unerforschlich. Vielleicht werden spätere Zeiten unseren Staatsbegriff einmal als eine empirisch-historische Notwendigkeit für die Entwicklung der neuen Religion auffassen, wie wir die antike Markthalle als die Ahnherrin der gotischen Kathedrale.


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