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Was sollen wir tun?

(1910)

Im Jahre 1886 erschien in deutscher Sprache Tolstois Schrift »Was sollen wir tun?« Aus dem Lukasevangelium 3, 10 und 11 war ein Vorspruch: »Und das Volk fragete ihn und sprach: Was sollen wir tun? Er antwortete und sprach zu ihnen: Wer zween Röcke hat, gebe dem, der keinen hat; und wer Speise hat, tue auch also.« Die Schrift selbst ist eine Erläuterung dieses Vorspruches. Der Dichter geht, um Wohltätigkeit zu üben, zu den Armen in Moskau und erfährt nicht nur, daß die Wohltätigkeit, wie er sie sich vorgestellt hat, etwas Unmögliches und Sinnloses ist, sondern sein Gewissen erwacht auch, und er sieht ein, daß er alles fortgeben müßte, ehe er Gutes tun kann. Er schließt: »Ja, vor dem Gutestun hätte ich mich außerhalb des Bösen stellen sollen, in solche Bedingungen, wo es möglich ist, das böse Tun zu lassen. Sonst ist mein ganzes Leben Böses. Gebe ich hunderttausend hin, so bringe ich mich noch nicht in die Lage, in der Gutes zu tun möglich ist, denn mir verbleiben noch fünfhunderttausend. Nur wenn mir nichts verblieben sein wird, dann werde ich imstande sein, Gutes zu tun, sei es auch nur wenig, nur so viel, wie die Prostituierte tat, als sie drei Tage lang die Kranke pflegte mit deren Kind. Und mir schien das so wenig! Und ich wagte, an Gutes zu denken! Die Stimme, die ich von jenem erstenmal an beim Anblick der Hungernden und Frierenden in mir gehört habe, daß ich daran schuld sei, und daß so zu leben, wie ich lebe, unmöglich, ganz unmöglich sei: die sprach das einzig Richtige.«

Das Gefühl, das in Tolstois Gedankengang lebt, kommt wohl nicht ans den Verhältnissen und von außen, sondern von innen und aus unserem Herzen; ich glaube, jeder Mensch hat es, nur unterdrücken die Geringeren es auf irgendeine Weise. Dieses Gefühl ist: »Ich bin schuld an dem Unglück auf der Welt und werde erst schuldlos, wenn ich dem Unglücklichsten gleich geworden bin.« Man werfe nicht ein, das Gefühl sei töricht; gewiß ist es vor dem Verstand töricht, aber die verständige Überlegung kann es nicht aus der Welt schaffen, nicht um den kleinsten Teil abschwächen; und ich glaube, daß es mit zu den unerklärlichen und widerverständigen Grundtatsachen unseres Lebens gehört, die wir nun einmal ruhig als vorhanden annehmen müssen. Es hat wohl seine metaphysische Grundlage in irgendeiner Gemeinsamkeit alles Lebenden, die hinter unserer Scheinwelt liegen mag.

Tolstoi fand keine Antwort, die ihn selbst befriedigen konnte; und weil er den richtigen Punkt nicht fand, kam der große und starke Mann in ganz kindliche Meinungen. Tolstoi glaubt, daß die unteren, mit der Hand arbeitenden und armen Schichten des Volkes sittlicher sind als die oberen. Er schreibt das der Handarbeit zu und meint deshalb, in ihr ein Mittel gegen die Unsittlichkeit gefunden zu haben. Er wurde zu seinem Glauben bestimmt durch den Anblick der vielen reichen und vornehmen Tagediebe in seinem Vaterland; er merkte nicht, daß sein Rußland keine normale und gesunde Gesellschaft hat. In Deutschland, wo außer in den Großstädten und einigen Industriebezirken das Volksleben noch gesund ist, sind die höheren Klassen von höherer Sittlichkeit als die unteren; und das wird wohl das Normale sein. Freilich sind nicht alle Zeiten und alle Volker normal.

Dieselbe Frage wie Tolstoi stellt der Teil der Sozialdemokratie, zu dem Mitglieder der »guten Gesellschaft« gehören. An sich ist die Sozialdemokratie die Vertreterin der Arbeiterklasse, die nach Macht strebt; wie die Bourgeoisie die Aristokratie enteignet und dann den Staat für sich eingerichtet hat, so denkt die Arbeiterklasse die Bourgeoisie zu enteignen und den Staat nun für sich einzurichten. Nur: da sie die unterste Klasse ist, fiele damit die Herrschaft über andere und die Ausnützung von Menschen für andere Wünschen fort. Wirtschaftlich bedeutet diese Folge wenig, denn es ist fraglich, ob nicht ebensoviel, wie heute als Unternehmergewinn von den Leitern der Warenerzeugung, der Bourgeoisie, verbraucht wird, dann als Beamteneinkommen von den Leitern der zukunftstaatlichen Warenerzeugung verbraucht werden müßte; die sozialdemokratischen Theoretiker erklären selbst, daß der ganze Posten unbeträchtlich sei neben den ungeheuren Vorteilen, die der Ersatz privater durch gesellschaftliche Regelung der Warenerzeugung bringen müsse. Ethisch aber ist hier für den, der aus der höheren Gesellschaft kommt, der Angelpunkt, um den sich alles dreht: denn nur die dann scheinbar eintretende Gleichheit hat sittlichen Wert, nicht der politische Kampf um die Macht. Das Politische und Wirtschaftliche soll hier nicht betrachtet werden; wir wollen der Sozialdemokratie alles zugeben, sogar, daß in der Zukunftsgesellschaft alle gleich sind.

Wäre dann nicht Tolstois Frage beantwortet? Hätte dann nicht das Gefühl erreicht, was es will: Es darf keinen Menschen geben, der unglücklicher ist als ich? Wäre dann nicht die Last von unserer Schulter genommen: Ich bin schuld an meines Nächsten Leid?

Man verstehe wohl: Wenn Gleichheit verlangt wird, muß man unterscheiden, ob der Verlangende geben oder nehmen, herabsteigen oder herabziehen will. Bei unserer Frage handelt es sich nicht um den, der verlangt und herabziehen will. Der ist ein Mann des Kampfes und der Selbstsucht (beides durchaus nicht in herabsetzendem Sinn gemeint); er steht jenseits vom Ethischen. Es handelt sich um den, der herabsteigen und geben will, wenn er von Gleichheit spricht. Er mag seinen Willen sich und anderen mit Vernunftgründen zu beweisen suchen; auf diese Gründe einzugehen, wäre zwecklos, denn sie stehen nur im Vordergrund; sein eigentlicher Wille ist: Ich will mich von dem Schuldgefühl befreien, indem ich mich dem Geringsten gleichmache. Man kann sagen: Er treibt die heutige Form der Askese. Das Maß von Freiheit zu erlangen, das uns Menschen vergönnt ist, und die Heiterkeit, die aus ihr entspringt, ist wohl nur dem Asketen möglich; denn nur wer erreicht hat, dem Unglücklichsten gleich zu werden, der ist von der leeren Tyrannei des Strebens nach Glück befreit; mag er sein Leiden in körperlicher Selbstqual suchen als in der niedrigsten Form der Askese oder im Zurseitestehen gegenüber sich selbst als in der höchsten Form.

Nochmals sei betont: es handelt sich nicht um die Möglichkeit, im realen Leben die Gleichheit zu verwirklichen; ich verneine selbst diese Möglichkeit und halte ihre Wirklichkeit sogar für unerwünscht, denn unser Leben ist Kampf und Schuld und muß es sein, damit es seinen menschlichen und göttlichen Sinn bekommt, der etwas anderes ist als das ruhige, pflanzenhafte Leben der Natur. Deshalb darf auch die Askese immer nur von einzelnen Hochstehenden geübt werden. Wenn bei allen Menschen die Wünsche und Leidenschaften schwiegen, das Böse unterdrückt würde, dann wäre das Leben selbst sinnlos geworden, und das Menschengeschlecht würde aussterben, weil es keine Aufgabe mehr zu erfüllen hätte; und genau dasselbe wäre, wenn alle gleich wären, nicht durch den Neid und Haß der Niedrigen, sondern durch den Edelsinn und die Großmut der Höheren: alle Bewegung hörte auf und die Menschen lebten wie das Gras der Wiese oder die Bäume des Waldes und würden keinen Sinn mehr im Leben finden.

Die Frage war: »Was sollen wir tun?« Es scheint, daß Tolstoi die Antwort nicht gefunden hat; es scheint, daß es falsch wäre, mit der Sozialdemokratie sie in einem künftigen, neuorganisierten Gesellschaftszustand zu suchen; daß Einzelne sie für sich selbst durch irgendeine Form der Askese gefunden haben; daß ihnen aber nicht alle nachfolgen dürfen, selbst wenn sie es könnten. Und sehen wir die Geschichte der Menschen durch, so finden wir, daß in ihr alles sich immer wiederholt, was eben gesagt ist: es gab immer Menschen, die diese Frage stellten, sie nicht beantworten konnten und in ihrer Herzensnot auf die unmöglichsten und törichtsten Vorschriften für die Menschen kamen; man glaubte immer an einen paradiesischen Zustand in unserer Vergangenheit (selbst die wissenschaftliche marxistische Sozialdemokratie hat in ihren Urgesellschaftslehren noch diesen Glauben) oder in unserer Zukunft, in dem alle Menschen gleich wären; und endlich haben seelisch hervorragende Einzelne immer in der Askese für sich selbst einen Weg gefunden. Dennoch haben die Menschen immer gelebt, weil sie leben mußten, in irgendeiner gesellschaftlichen Verfassung, in Unrecht, Schuld und Not, immer mit der Frage: Was sollen wir tun? Sollten sie nicht doch eine Antwort gefunden haben, und wäre es nicht möglich, daß diese Antwort nur auf einem anderen Blatte des Buches stände, in einer Sparte, wo wir sie nicht suchen? Das Gefühl, das zu der Frage treibt, ist das Mitleid. Wer ein heftiges Mitleid empfindet, beobachte sich einmal selbst. Was ist Mitleid?

Von einem römischen Feldherrn wird erzählt, er sei, als er mit seinen Soldaten über ein unwirtliches Gebirge zog, um sie zu ermutigen, an ihrer Spitze marschiert wie einer von ihnen und habe jede Beschwerde mit ihnen geteilt. Die Entbehrungen wurden so arg, daß der Durst ihn zwang, seinen eigenen Urin zu trinken. Würden wir, wenn wir den Mann mit seinen fiebrigen Augen und hohlem Gesicht sähen, Mitleid empfinden, würden wir uns fragen: Was sollen wir tun, wenn Menschen so leiden? Gewiß nicht; wir werden den Heroismus des Mannes bewundern. Aber wenn wir einen seiner Soldaten sähen, der ebenso leidet, der vielleicht ein friedfertiger junger Bauer war und für diesen Krieg, der ihn gar nicht angeht, ausgehoben wurde, der sich nach seinem Pflug und nach seiner Geliebten sehnt, die er zu heiraten dachte, und der nun in dieser fremden Steinwüste verschmachten soll: da würden wir Mitleid empfinden. In der Edda heißt es, wenn ein adeliger Mann zwei Ziegen hat und ein Haus (das ist ein Raum, groß wie ein Kleiderschrank, aus rohen Steinen, deren Zwischenräume mit Moos verstopft sind), so ist er ein freier Mann und braucht keinem Menschen zu dienen. Werden wir da sagen: Was müssen wir tun, um ein solches Elend aus der Welt zu schaffen? Nein, wir werden den Mann bewundern, der in dieser äußersten Dürftigkeit doch seine stolze Gesinnung bewahrt hat. Aber besuchen wir einen Armen in der Großstadt und sehen wir sein klägliches Leben, das doch vielleicht in den äußeren Verhältnissen immer noch besser ist als das des alten Isländers, so stellen wir uns sofort die Frage, denn sofort empfinden wir das tiefste Mitleid.

Wie? Zwei Menschen leiden dasselbe, ja, da der Vornehme leidensfähiger ist und tiefer empfindet, leidet er vielleicht noch mehr als der andere: und wir haben doch nur mit dem Geringeren Mitleid, nicht mit dem anderen? Wenn wir dem römischen Feldherrn, dem alten Isländer nur ein Wort sagen wollten, daß wir seine Leiden mitfühlten: er würde uns antworten, daß wir ihn beleidigen. Aber wenn wir dem Soldaten, dem Armen menschliches Mitgefühl geben, so erfreuen wir ihn. Also nicht das Leiden der Menschheit beunruhigt uns, sondern die Art, wie die Menschen es tragen?

Dann ginge ja die Lösung, die Gleichheit der Manschen schaffen will, auf einen ganz unrichtigen Punkt, und dann hätten wir ja den Beweis, daß der Asket nur für sich selbst, für seine persönliche Empfindung eine Antwort gefunden hat; und wir verstehen, daß andere seine Antwort nicht annehmen mögen.

Aber was ist nun überhaupt dieses Mitleid? Der Feldherr und der Isländer erwecken eine Art Stolz in mir; dann wäre dieses Mitleid gegenüber dem Soldaten und Armen Scham? Ich wäre stolz, indem ich empfände: Auch ich bin ein Mensch wie du; und ich schämte mich, wenn ich wieder empfände: Auch ich bin ein Mensch wie du? Dann wäre Mitleid nicht ein Gefühl, aus dem ich fragen müßte: »Was sollen wir tun?«; sondern: »Was soll ich mit mir machen, damit ich mich nicht schämen muß, damit ich nicht ein Mensch bin wie der Bemitleidete?«

Man beobachte sich genau, wenn man bei Leiden eines Tieres und bei Leiden eines Menschen empfindet. Die Empfindung im ersten Fall hat zweckmäßige Folgen: wenn man kann, so hebt oder lindert man die Leiden, und wenn man nicht kann, so macht man sich klar, daß sie zum Haushalt der Natur gehören; und in beiden Fällen geht jeder, der zu den gesund Empfindenden gehört, ruhig weiter. Das Mitleid mit einem Menschen aber hat immer etwas über alles Zweckmäßige hinaus Peinigendes und Bohrendes für uns, etwas Herabsetzendes und eine Demütigung.

Und so wird der Stolze, Hochstehende, Vornehme, der sich am meisten von der menschlichen Bedürftigkeit befreit hat, das tiefste Mitleid fühlen, denn er wird im tiefsten gekränkt sein durch die Wesensgemeinschaft mit dem Bemitleideten. Wenn er seiner Höhe nicht ganz sicher ist, so wird er das Mitleid zurückdrängen und Härte nach außen zeigen; ist er aber seiner Höhe völlig gewiß, hängt er nur noch durch einen Rest urtümlichen Gefühls mit dem Bemitleideten zusammen, dann kann er eine gütige Verachtung haben und das Leiden zu lindern suchen. Das wäre die Göttlichkeit Christi. Den höchsten Trost, der möglich ist, hat er durch seinen Tod, der Gott am Kreuz, gegeben, der nichts über seine Mörder sagte als: »Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun«; den höchsten Trost, der möglich ist, wenn einer der kleinen Leidenden ihn annehmen will; und vor ihm sind wir alle klein, vor ihm ist selbst der größte Held ein kleiner Bemitleidenswerter.

Also: Was sollen wir tun? Nun nicht mehr für andere, sondern für uns? Es scheint, das Leiden eines Unglücklichen sollte für uns nicht mehr eine Mitqual sein, sondern ein Grund, uns selbst höher und edler zu bilden. Ob wir helfen können, wollen, dürfen oder nicht, wird hier (das sei nochmals gesagt) nicht untersucht, sondern lediglich unser Gefühl und unsere Rückwirkung auf dieses Gefühl. Das Helfen hat hier nur insofern Bedeutung, als es Rückwirkung ist; und wenn wir uns selbst höher bilden und ein Vorbild für andere werden, ihr Leiden heroisch zu tragen und nicht mehr Mitleid zu erzeugen, so ist das wohl das beste Helfen; freilich auch das schwierigste. Und von diesem Standpunkt aus müssen wir auch die Vorschriften und Ratschläge betrachten, die zunächst und als die scheinbar klarsten sich einstellen; vor allen den: »Verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen«; zu dem Tolstoi theoretisch gekommen scheint, den er aber unter Gewissensbissen praktisch nicht ausgeführt hat. Jesus hat den Rat nicht allen Menschen gegeben, sondern einem »reichen Jüngling«. Weshalb er ihn dem gab, gerade einem reichen Jüngling, wird er wohl gewußt haben; weshalb er ihn nicht auch etwa Martha und Maria gab, wird ihm auch klar gewesen sein. Der Jüngling hätte ein Asket werden müssen, um das zu werden, wofür er bestimmt war: aber es muß auch Krieger geben und Reiche, Herrscher und Künstler und alle anderen Menschen, die nicht nach dem asketischen Ideal leben.

Dostojewski hat die Frage in einer kleinen Schrift erörtert; und weil er ein zwiespältiger, vielleicht von Natur schlechter und nur durch seinen Willen edler Mensch war, so ist er viel klüger als der einfache und gerade Tolstoi. So ist auch seine Antwort klarer und der Wirklichkeit näher: »Wenn ihr fühlt, daß es euer Gewissen drückt, und wenn euch wirklich der »Armen«, deren so viele sind, jammert, so gebt ihnen euer Hab und Gut und gehet hin, um für sie zu arbeiten. Selbst wenn alle Reichen ihre Reichtümer, wie ihr, unter alle Armen verteilen würden, so wäre das doch nur wie ein Tropfen im Meer. Darum aber muß man mehr für das Licht, die Aufklärung, die Wissenschaft und für ein Mehr an Liebe sorgen. Doch auch hier tut nicht wie etliche Träumer, die sich sofort an die Schiebkarre machen, was ungefähr heißen soll: »Ich will kein Herr sein, ich will arbeiten wie ein Bauer.« Im Gegenteil: wenn du fühlst, daß du als Gelehrter allen nützlich sein kannst, so gehe auf die Universität und behalte so viel von deinen Mitteln, wie du dafür nötig hast. Notwendig und wichtig ist nur deine Entschlossenheit, um der tätigen Liebe willen alles zu tun.« Das ist klar und vernünftig. Aber ist es nicht zu vernünftig gegenüber dem ganz unvernünftigen und doch so furchtbar wirklichen Gefühl: »Ich muß so leiden wie der Unglücklichste, sonst bin ich schuld an seinem Leid?« Lassen wir die »Liebe« in Dostojewskis Antwort weg (und wir können es, wenn wir für die Vokabel einfach eine andere setzen, etwa »soziales Pflichtgefühl«): dann sagt er uns nichts weiter, als was schon längst der Liberalismus gesagt hat, nicht der politisch praktische, sondern der theoretische; wir kommen auf den plattesten Nützlichkeitsstandpunkt. Dostojewski hat das Problem verkannt. Schließlich wäre etwa die heutige Gesellschaft in Deutschland von einer Lösung gar nicht so weit entfernt. Bei uns arbeiten die reichen Leute im Durchschnitt sogar wohl länger und angespannter als die Arbeiter; sie leisten irgendwelche notwendige Arbeit für die Gesellschaft, wie sie in Ermangelung einer erträumten besseren nun einmal heute ist; zwar nicht gerade aus Liebe, aber doch zum weitaus größten Teil aus Pflichtgefühl. Sie geben ja viel mehr aus als der Arme; aber ob sie von diesen Ausgaben ein besonders großes Vergnügen haben, scheint mir zweifelhaft, denn auch ihr Vergnügen hat sich zu einer Art Pflicht entwickelt. Wahrscheinlich lebt der Durchschnittsarbeiter glücklicher als der Durchschnittsbankdirektor, und er würde den Mann sehr bedauern, wenn er alles wüßte. Mit anderen Worten: Dostojewskis Ansicht kommt schließlich auf eine ideale Vorstellung von der gesunden bürgerlichen Gesellschaft heraus, die denn doch zuletzt nichts ist als eine allgemeine Sklaverei, von früheren Formen der Sklaverei nur dadurch unterschieden, daß auch die Herren Sklaven sind, und weltenfern unserem Gefühl, das auf Freiheit geht, weil sie Sittlichkeit bedeutet.

Christus sagt einmal, von seinem Idealzustand sprechend: »Das Reich Gottes ist in euch.« Das ist ein sehr merkwürdiger Ausdruck. Er meint: Nicht außer uns und nicht in einem Handeln, das nach außen geht, liegt das, was nötig ist, sondern in uns. Wenn der reiche Jüngling alles den Armen gibt, so ist wahrscheinlich, daß er den Armen damit ebensoviel schadet wie nützt; nicht der Armen wegen soll er verschenken, sondern seiner selbst wegen, denn er ist ein »reicher Jüngling und das Geld macht ihn unfrei, er ist ein Mensch, der nur durch Armut frei werden (sich höher und edler bilden) kann.

Die Menschen sind nicht gleich; ihre tiefe Ungleichheit ist es, was ihre Würde ausmacht: denn nur dadurch, daß jeder ein anderes ist, hat er eine Berechtigung zum Sein. Aus dieser Ungleichheit ergibt sich für jeden ein anderes Ziel des Höheren und Edleren, das er erreichen muß; und jeder Mensch, auch der gemeinste, kennt dieses Ziel. Ist ihm nun klar geworden, daß seines Lebens Zweck und Inhalt ist, diesem Ziel immer näherzukommen, so erhält er eine ganz andere Bewertung des Lebens: er denkt nicht mehr eudämonistisch an Glück und Unglück und wird andere Menschen nicht mehr nützlichkeitsbedacht danach einschätzen, ob sie »das Glück auf der Erde vermehren«; und er wird vor dem Unglücklichen nicht mehr das Gefühl haben: »Ich muß deine Leiden auf mich nehmen, ich bin schuldig an deinem Leid«, sondern er wird für ihn nur noch das Gefühl haben, das er vor dem leidenden Tier hat: wenn er es irgend vermag, wird er ihm helfen, und wenn er ihm nicht helfen kann, so wird er ruhig weitergehen und sagen: Sein Leiden ist durch unabwendbare Umstände bewirkt.


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