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(um 1910)
Es ist eine bekannte Tatsache, daß die Wirkung eines Dramas nicht allein von seinen dramatischen Eigenschaften und von der Art der Aufführung abhängt, sondern auch vom Zuschauerraum. Gewisse Stücke können nur in einem kleinen, gewisse nur in einem großen Theater gespielt werden, wenn sie ihre volle Wirkung erreichen sollen; bei den weitaus meisten Stücken kommt bei schwachbesetztem Parkett überhaupt kein Erfolg zustande, bei einigen Dramen scheint der schwache Besuch nicht so lähmend zu wirken. Bei der Fülle von verschiedenartigen Aufgaben, welche der heutigen Bühne gestellt werden einerseits und den neuen Bestrebungen im Theaterbau andererseits lohnt es sich, darüber Untersuchungen anzustellen. Denn die Meinung, daß diese Dinge sich nicht berechnen lassen, ist genau so falsch wie die Ansicht, daß man den Erfolg oder Mißerfolg einer Erstaufführung nicht im voraus wissen könne.
Man muß unterscheiden: die eigentlich dramatische Wirkung und die Wirkung durch Ersatzmittel des Dramatischen; die erstere muß immer eintreten, die andere nur unter gewissen Voraussetzungen. In der heutigen Zeit allgemeiner Unklarheit über die letzten Formgesetze der Künste und kritiklosen Herumprobierens erleben wir häufig Wirkungen durch Ersatzmittel des Dramatischen; unter gewöhnlichen Verhältnissen aber wird die eigentlich dramatische Wirkung die Regel sein.
Dieselbe ist offenbar Massenwirkung und muß daher gewisse Voraussetzungen haben. Sie ist so, daß die Zuschauer den Abend hindurch in der stärksten Spannung erhalten werden, die unter gelegentlichen kleinen Entladungen sich steigert bis zur Katastrophe. Bei dem dichterischen Stück verlangt man dann noch eine stille Wirkung nachher, die in einer Aufregung des Gemüts, Höherspannung des Willens usw. besteht; bei den bloßen Unterhaltungsstücken ist man zufrieden, wenn die Teilnahme bis zum Schluß anhält. Spannung, Erhalten der Spannung, Steigerung sind zu einem Teil Sache der dramatischen Technik, die durch die Technik des Schauspielers und Spielleiters unterstützt – oft genug auch ersetzt wird. Aber nur zu einem Teil, namentlich, soweit Wirkung auf einen Einzelnen erzeugt werden soll. Die Massenwirkung ist noch etwas anderes, was mit Verwunderung mancher Theaterdirektor erfahren hat, wenn bei der Generalprobe, wo er allein mit zwei oder drei Gehilfen im Parkett sitzt, alles in Ordnung scheint und bei der Aufführung dann die Wirkung versagt.
Die beste Erklärung bietet die Volksversammlung. Eine Rede kann noch so gut aufgebaut sein, daß man beim Lesen oder beim Vortrag im Zimmer atemlos folgt: vor tausend Wünschen versagt sie vielleicht vollständig. Andererseits kann ein dummer Mensch ganz ahnungslos die stärkste Wirkung erzielen. Das Geheimnis ist: Erstens darf man in der Volksversammlung nur das sagen, was die Leute hören wollen, weil es ihren gemeinsamen Wünschen und ihren Anschauungen entspricht; zweitens muß der einzelne Satz so gebaut sein, daß er sofort ohne Mühe verstanden wird. Unter diesen beiden Voraussetzungen kann ein einfältiger Schwätzer eine lange Zeit – die Länge richtet sich nach der Art der Zuhörer – die Leute fesseln. Wenn man einem unvorbereiteten deutschen Publikum heute ein Meisterwerk von Corneille oder Racine aufführte, so würde man einen der ersten Volksversammlungswirkung entsprechenden Erfolg erzielen; und wenn man eine Albernheit eines heutigen Possenfabrikanten aufführt, der kaum imstande ist, notdürftig eine Handlung im Gang zu halten, so ist eine dem zweiten Fall entsprechende Wirkung möglich. Ein Drama, das dichterisch bedeutsam sein und Wirkung haben soll, muß also mit den dichterischen Eigenschaften und dem guten Aufbau vereinigen, daß es nur Dinge enthält, die jeder hören will, und daß der einzelne Satz so gebaut ist, daß er sofort einschlägt. Die wirksame Zuspitzung ist an sich Sache der dichterischen Technik: dramatischen Vers oder dramatische Prosa muß einer schreiben können; aber daß diese so gesetzten Worte zur Wirkung kommen, das ist wieder Sache der Massenwirkung, wie etwa Schillersche Verse, die besten dramatischen Verse, die wir haben, vom Einzelnen für sich gelesen, oft sogar komisch wirken können, wie umgekehrt der schönste lyrische Vers, von der Bühne gesprochen, Lachen erwecken kann, zur Entrüstung des gebildeten und dadurch leicht urteilsunfähigen Kritikers.
Der Bühnenpraktiker hat unter diesen Umständen durchaus recht, wenn er von dem sogenannten literarischen Erfolg eines Werkes nicht viel hält, und wenn er mißtrauisch ist gegenüber den Ratschlägen, die ihm aus dem Lager der Literatur kommen; sehr oft hat er auch den Dichtern gegenüber unrecht, welche wirklich Dramatiker sind, das heißt, sich gefühlsmäßig und verstandesbewußt auf die Massenpsychologie verstehen, aber von dem Praktiker nicht so aufgeführt werden, wie sie verlangen. So hat Hebbel eigentlich immer nur literarische Erfolge gehabt, bis man endlich auf den Gedanken kam, ihn einmal anders aufzuführen wie Shakespeare: da trat sofort die Massenwirkung ein.
»Was die Leute hören wollen«, das ist nun ein recht lässiger und zugleich nichtssagender Ausdruck; aber ich wüßte nichts anderes an die Stelle zu setzen. Ein Volksversammlungsredner wird etwa nie eine Wirkung erreichen in einer Versammlung, die in gleichen Teilen aus Angehörigen verschiedener Parteien zusammengesetzt ist; nur in den ganz seltenen Fällen, wo ein allgemeines Gefühl alle beherrscht, etwa in den Befreiungskriegen oder der Reformationszeit, wäre das denkbar; gewöhnlich wird der günstigste Zustand sein, wenn alle Zuhörer von einer Partei sind; und wenn etwa einige sehr wenige von der entgegengesetzten Partei vorhanden sind, die unvorsichtigerweise sich durch Mißbilligung bemerkbar machen, so wird der Ausdruck der Zustimmung lauter sein: die eigentliche Wirkung aber meistens schwächer. Man mache den Vergleich mit den Theaterskandalen: Einen kühnen, jungen Dichter führt nichts besser ein wie ein Theaterskandal; aber wenn er wirklich ein Dichter ist, so wird ihm an der stillen Wirkung eines vollständig mit ihm gehenden Publikums mehr liegen wie an dem Gebrüll der durch den Widerspruch entflammten Verehrer, und bei den Wiederholungen wird der verständige Direktor den Unterschied auch im Kassenbericht sehen.
Die edelste, eigentlich dramatische Wirkung wird dadurch erzeugt, daß der Dichter die allgemein menschlichen Empfindungen verwendet, die, welche eben allen im letzten Grund ihrer Seelen schlummern. Eine Wirkung zweiten Ranges ist es schon, wenn er mit nationalen Empfindungen arbeitet, etwa der Spanier mit der Ehre oder der Deutsche mit der Empfindsamkeit. Und eine Wirkung dritten Ranges wird durch bloß zeitlich bedingte, entweder geschichtlich vernünftige oder modemäßig unvernünftige bewirkt. Auch einem bedeutenden Dichter kann es begegnen, daß er sein Publikum zuerst durch die geringeren Mittel bekommt, wie etwa die seinerzeit unmittelbare Wirkung Ibsens sehr mit der Frauenbewegung und ähnlichem zusammenhing.
Alle diese verschiedenen Empfindungen schlummern mehr oder weniger in den der Wirkung geneigten Zuhörern und werden wach durch den Dichter; und nun kommt das merkwürdige Wesen der Masse: Dadurch, daß sie gleichzeitig in einer großen Masse wach werden, verstärken sie sich außerordentlich. Es ist das wie mit der Kraft mehrerer Magnete, die nicht bloß gleich ist der Summe der Kraft der einzelnen, sondern stärker wird. Umgekehrt, ein Einzelner, der keine Wirkung verspürt, scheidet nicht nur einfach aus in der Gesamtwirkung, er lähmt auch noch andere. Das ist der Grund für die Forderung des allgemein Menschlichen, des allen Gemeinsamen. Deshalb wirkt der Ödipus des Sophokles noch bei allen Völkern heute auf der Bühne, während die größten Meisterwerke etwa des spanischen Theaters für unsere heutige Bühne tot sind. Das ist der Grund, weshalb Dramen von immerhin nicht ganz verächtlicher Art, die vor zehn Jahren Stürme der Begeisterung erweckten und ihren Verfassern die Titel von neuen Shakespeares oder Goethes einbrachten, heute plötzlich langweilig sind: das Allgemeine war bloß zeitlich gewesen, eine geistige Mode. Und das ist der Grund, weshalb Dramen von immerhin dichterisch nicht ganz wertlosen Männern, die auch ein verhältnismäßig genügendes Können der dramatischen Technik aufweisen, so gänzlich abfallen können, daß der Uneingeweihte sich über die ihm so scheinende Roheit des Publikums wundert, das so viele dürftige Tröpfe langmütig über sich ergehen läßt und nun gerade gegen einen Dichter so unbarmherzig ist: die Empfindungen sind individuell, und es folgt ihnen etwa ein Einzelner oder eine kleine sogenannte Gemeinde, aber nicht die Allgemeinheit. Und endlich ist das der Grund, weshalb ein Dichter für eine gewisse Zeit die größten Erfolge hat und plötzlich einen Mißerfolg nach dem andern erlebt, trotzdem seine Stücke gar nicht schlechter geworden sind: er stimmte in seinen Empfindungen mit jener Zeit überein, und nun haben sich die Zeiten geändert. Daher rühren auch die häufigen Täuschungen sonst fähiger Kritiker und Theaterleiter über den zu erhoffenden Erfolg eines Stückes; nur die wenigsten Menschen empfinden im gewöhnlichen Leben natürlich, das heißt allgemein menschlich; die meisten haben das, was jeder heute stolz seine Subjektivität nennt. Trotz seines Stolzes auf die Subjektivität denkt er aber doch, das, was seiner Empfindung entspricht, das müsse der Empfindung aller entsprechen; und da täuscht sich der Subjektive und Originelle, während er umgekehrt, wenn er dann im Theaterraum innerhalb der Masse ein wirklich bedeutendes Drama hört, das aus allgemein menschlichem Grunde gewachsen ist, sich der Wirkung doch nicht entziehen kann; denn in diesen Tiefen schlummert doch auch die allgemeine menschliche Natur.
Die Art des Zuschauerraums und die Weise, wie das Publikum sitzt, ist auf die Wirkung von sehr großem Einfluß. Man hat oft hervorgehoben, daß unser Rangtheater italienischen Ursprungs ist. Nun muß man bedenken, daß damals, bis zu einem gewissen Grad auch noch heute, das Theater bei den Italienern zum großen Teil ein geselliger Zusammenkunftsort war: man empfing in der Loge, plauderte, besah das Publikum und hörte eine Zeitlang etwas andächtiger auf eine Bravour-Arie. Man hat also bei diesem Theaterbau an alles andere eher wie an Massenwirkung gedacht. Unser deutsches klassisches Drama, vor allem Schiller, hat gleich von Anfang an an das Theater Anforderungen gestellt, bei denen man von Massenwirkung sprechen kann. Ein gutes Teil von unserem Theaterelend, daß die Bühne dem blöden Unterhaltungsspiel so viel zugestehen muß, rührt daher, daß man die Theater nicht nach den Ansprüchen baute, welche das große Drama stellt, sondern immer noch das Muster des gesellschaftlichen Theaters beibehielt. Die Demokratisierung der Gesellschaft, weiter verbreitete Anteilnahme am Drama und Erhöhung der Bildungsstufe der unteren Schichten haben seitdem Massen ins Theater geführt, an die man früher nicht dachte, und gerade für diese neuen Bevölkerungskreise hat die wirkliche dramatische Kunst eine besondere Anziehungskraft. Schon immer waren für den Erfolg eines Stückes das Parterre und der dritte Rang ausschlaggebend, beide aus demselben Grunde: weil hier am leichtesten das Fluidum entsteht, jene magnetische Beeinflussung der Zuschauer untereinander. Sie entsteht erfahrungsgemäß desto leichter und wird desto stärker, je enger die Menschen zusammensitzen; Unbequemlichkeiten des zu engen Sitzens machen sich nur bei Beginn der Aufführung bemerkbar, und im Verlauf nur bei schwachen Stücken. Bei unsern teueren Theatern hat der dritte Rang auch heute noch das dankbarste Publikum, wo gewiß nicht mehr naive Leute aus dem Volke sind. Beim Parterre ist noch der Vorzug, daß die Fäden der Empfindung sich vom Zuschauer zur Bühne spannen. Das wird merkwürdigerweise den Zuschauern weniger bewußt wie den Schauspielern. Ein guter Schauspieler wird instinktiv nur zum Parterre spielen, nicht zu den Logen, und nur mit dem Parterre wird er in der Beziehung des gegenseitigen Gebens und Nehmens der Empfindung stehen, die den Hauptreiz des Spiels ausmacht.
So wird auch der Dramatiker, wenigstens der auf die eigentlich dramatische Wirkung ausgehende Dramatiker, dem neuen Theater den Vorzug geben; und er wird es möglichst wenig »intim« wünschen, sondern recht groß, damit möglichst viele Zuschauer Platz haben, und den Direktoren möchte er raten, recht niedrige Preise zu setzen, damit die Plätze alle besetzt sind. Freilich dürften dann nicht Stücke gespielt werden, welche gerade das Gegenteil des Dramatischen sind, denn nur das große Drama kann den großen Zuschauerraum mit seiner Gemütswucht erfüllen.