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Epochen der Kunst

(1916)

Während frühere Zeiten immer nur Sinn für ihre eigene Kunst hatten und andere Kunstwerke im besten Fall als Kuriositäten würdigten, hat unsere Zeit, zunächst auf Grund ihres historischen Sinns, dann aber auch ganz von selbst, ein merkwürdiges Verständnis für jede andere Art von Kunst ausgebildet. Seit einigen Jahren hat man sich der Negerplastik zugewendet. Man hat plastische Werke der Neger in großer Menge gesammelt, vieles ausgestellt, manches veröffentlicht, und es beginnt jetzt sogar schon in den weiteren Kreisen ein Sinn für diese merkwürdige Kunst sich zu bilden.

Ob wir hier eine dauernd wertvolle Errungenschaft haben werden, ist vielleicht zweifelhaft; sicher ist jedenfalls das eine, daß unsere heutigen Künstler von den Negern die Hauptsache lernen können, nämlich den plastischen Sinn. Ähnlich wie zur Zeit der großen Impressionisten in der Malerei endlich wieder das Problem auftauchte: malerisch zu malen, so wird heute in der Plastik bei den Fortgeschrittensten wieder das Problem gestellt: plastisch zu bilden. Der Außenstehende wundert sich vielleicht, daß das überhaupt Probleme sind. Aber in gewissen Zeiten kommt es immer in den Künsten dahin, daß das Stilgefühl verschwindet; es muß dann mit schweren Mühen wieder neu errungen werden, und was in früheren Zeiten naiv und unmittelbar geschaffen werden konnte, das muß nun mit einer zweiten Naivität gemacht werden, die mittelbar ist und von sich und von der Unwahrheit weiß. Jene Negerkünstler haben im höchsten Maße die erste Naivität; ihre Werke wirken deshalb für heutige Künstler, welche suchen, vor allem als Kritik des heute immer noch Herrschenden.

Aber noch etwas anderes kann man von der Negerplastik lernen, und das wäre etwas, das die Historiker und Kritiker angeht.

Die Negerplastik hat das ungeheure Glück gehabt, sich ohne Kritiker und Historiker entwickeln zu können, das Falsche also, das aus dem Vernünfteln und aus der fast notwendig immer falsch verstandenen Geschichte kommt, blieb ihr erspart. Ihre Entwicklung ist reine und ungestörte Kunstentwicklung. Deshalb kann sie ein Musterbeispiel für das Verständnis anderer Kunstentwicklungen abgeben. Der große Vorzug für den Betrachter ist dabei, daß wir ja historisch über sie nichts wissen und voraussichtlich nie viel mehr wie nichts wissen werden. Wenn der Betrachter heute einer großen Sammlung von Negerplastiken gegenübersteht, dann kann er nicht sagen, welcher Zeit oder welchem Stamm dieses oder jenes Werk angehört. Damit fällt das Haupthilfsmittel der heutigen Kunstgeschichte fort, dem wir ja unzweifelhaft den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft verdanken, aber auch die Verschleierung ihrer eigentlichen Aufgabe, nämlich der Nachforschung nach den einzelnen Kunstabsichten, der Art ihrer Verwirklichung und dem offenbar typischen Verlauf derselben. Wenn man Ordnung in das Chaos der Negerkunst bringen will, so ist man also genötigt, rein stilistisch vorzugehen.

Durch die Fremdartigkeit der ganzen Kunst scheint ein solches Vorgehen nun sehr erleichtert zu sein. Man sieht nur das Wesentliche, nämlich das Formale, weil alles Inhaltliche ja uns ganz fern liegt. So kann man auf den ersten Blick die Epochen der Kunst erkennen; mögen diese Epochen durch Jahrhunderte oder Jahrzehnte von einander getrennt sein, mögen sie auf einem großen Raum gleichzeitig aufgetreten sein, oder endlich, mag der Abbruch der Epochen sich ein- oder gar mehrmals wiederholt haben.

Die Kunst beginnt mit Darstellungen, welche rein aus dem Gedanken des Künstlers kommen und nicht aus seinen Sinnen. Der Mann weiß, daß der Mensch zwei Arme und zwei Beine, fünf Finger und fünf Zehen hat, einen Rumpf, einen Hals und einen Kopf. Aus diesen Stücken bildet er seine Figur, genau so, wie heute noch jedesmal das Kind anfängt zu bilden. Was die Menschen heute so leicht vergessen, weil sie es in Zeiten, wo sie sich von der Außenwelt beherrschen lassen, vergessen wollen, wird uns hier ganz klar: die Kunst entsteht nicht aus dem Bedürfnis, nachzubilden, sondern aus dem Bedürfnis, zu schaffen. Nicht ein Naturding wird nachgeahmt, sondern eine Idee wird gestaltet.

Hier ist der Anfang der Kunst, aber die so geschaffenen Figuren kann man noch nicht als Kunstwerke ansprechen. Das erste Kunstwerk entsteht, wenn dieses Abbild der Idee »belebt« wird, nämlich wenn die Figur organisch wird. Es kommt jetzt die Epoche der archaischen Kunst.

Der Vorgang, wie dargestellte Idee lebendig wird, indem das Bild organisch wirkt, ist nicht zu schildern; denn hier liegt im letzten Grund überhaupt das Geheimnis der Kunst, die ja nichts anderes ist, als das Erzeugen von aus der Idee geschaffenen neuen Dingen, das Erzeugen einer höheren Natur. Man kann ihn nur umschreiben, indem man sagt, daß die Figuren jetzt eben lebensfähig sind; natürlich nicht als wirkliche Menschen etwa; sondern: wenn es eine Welt gäbe, in der allgemein solche Wesen leben könnten, dann würden diese Geschöpfe in ihr leben; sie würden nicht essen oder trinken, aber sie würden leben. Man verzeihe die wunderliche Ausdrucksweise; es handelt sich um ein Gefühl, und man kann das nicht anders schildern.

Der äußerlich entscheidende Punkt ist offenbar das Naturstudium des Künstlers, dieses Wort im denkbar weitesten Sinn genommen. Auf dieser Epoche muß der Künstler sich gefühlsmäßig darüber klar sein, welche Bedeutung die einzelnen Glieder und Körperteile haben; vorher braucht er nur zu wissen, daß sie vorhanden sind. Die Bedeutung aber haben sie einerseits für den tierischen Unterhalt, andrerseits für die Statik des Körpers. Die erste Bedeutung ist jetzt noch nicht so wichtig wie die zweite. Noch auf dem Höhepunkt der archaischen Kunst kann es geschehen, daß die erste Bedeutung der zweiten so untergeordnet wird, daß sie ganz verschwindet, wo sie stören würde. Was im Fleisch konvex ist, kann konkav dargestellt werden und umgekehrt: niemals aber würde in der archaischen Kunst das Knochengerüst anders sein als in der Natur.

Man hat lange die archaische Kunst als eine Vorstufe der klassischen betrachtet, daher auch noch der Name. Aber man muß richtiger sagen, daß sie eine in sich abgeschlossene Kunst ist, die etwas ganz anderes will wie die klassische, die ihren Anfang, ihren Höhepunkt und Verfall für sich hat. Das Entstehen der archaistischen Kunst beweist diese Auffassung sozusagen experimentell. Wenn die klassische Kunst verfällt, kann nämlich der Wunsch in den Menschen nach der früheren Kunst auftauchen, sie suchen dann bewußt das Stilgesetz derselben zu ergründen und arbeiten mehr oder weniger nachahmend Werke in diesem Stil; zur Unterscheidung von den archaischen nennt man diese Werke herkömmlich archaistische. Man kann da doch nicht von Spielerei sprechen, wie es oft geschieht. Ein typisch sich wiederholender Vorgang muß in der Natur des Wünschen begründet liegen. Die archaistische Kunst ist der eine Zweig der romantischen Auflösung der Klassik; der andere ist der Naturalismus. Man kann die archaistischen Werke sofort erkennen: die Statik entsteht bei ihnen nicht aus dem naiven Gefühl, sondern aus bewußter Abstraktion.

Am Rande sei bemerkt: Unzweifelhaft müssen sehr viele Fälschungen als Negerbildwerke im Handel sein; ich glaube, manches Werk, das als archaistisch anzusprechen wäre, wird aus Paris stammen und nicht aus Afrika: beweisen wird sich eine solche Behauptung ja schwer lassen. Auf die archaische Periode folgt die klassische.

Hier ist ein tieferes Eingehen auf Wirklichkeit und Natur vorhanden. Man behält die Errungenschaften der archaischen Zeit bei: das Knochengerüst ist immer noch richtig; aber man läßt – der Ausdruck sei gestattet – die Gestalten weniger in der Idee leben, man ist sich der Bedeutung auch desjenigen Fleisches klarer, das nicht unmittelbar zu statischen Zwecken dient. Man beginnt bewußt den künstlerischen Vorgang zu ändern: die Idee ist nicht mehr das Erste und das durch Naturstudium gewonnene Gefühl das Zweite; man geht tiefer in die Natur und sucht die Idee in der Natur selber zu finden, man gestaltet, wie die Natur gestaltet hätte, wenn sie immer so gekonnt hätte, wie sie wollte, während der archaische Künstler gestaltete, wie die Natur gestaltet hätte, wenn sie er selber gewesen wäre.

Was hier archaisch und klassisch genannt ist, das sind zwei ewige Gegensätze, die unter den verschiedensten Namen immer auftreten auch innerhalb der Kunstepochen selber. Etwa Schiller, Balzac, Dostojewski kann man als archaische, und Goethe, Flaubert und Tolstoi als klassische Dichter bezeichnen. Solche Parallelen sind natürlich nur immer sehr bedingt aufzufassen, man kann mit demselben Recht bei so verwickelten Erscheinungen, wie die modernen Dichter sind, ganz andere Parallelen machen.

Hat die Klassizität ihren Höhepunkt erreicht, so entwickelt sich das, was oben Romantik genannt wurde.

Wir wissen nicht, weshalb eine Kunst verfällt und eine neue Kunst kommt. Aber es muß dafür Gesetze geben, denn die Erscheinungen wiederholen sich mit Regelmäßigkeit. Auch die Philosophien und Religionen haben ja ihren ewigen Kreislauf.

Das Gefühl für die Statik verschwindet, an seine Stelle tritt das, was man Gefühl für die Nuance nennen kann. Im Statischen ist für die Nuance kein Platz, hier ist alles nur notwendig; deshalb ist in der archaischen Kunst das Hauptkriterium: ist das Kunstwerk richtig? Die Nuance findet sich erst dort, wo vom Statischen aus betrachtet das Überflüssige anfängt; es tritt ein immer größerer Reichtum an Wrklichkeitselementen in die Kunst ein; man fühlt nicht mehr das Ganze, sondern das Einzelne; man macht den Reichtum zum Kriterium und verweist die Kunst auf den unendlichen Reichtum der Natur. Nach aller bisherigen Erfahrung geht die Entwicklung Hand in Hand mit einem Nachlassen des Gefühls für das Organische; nicht nur für das Organische des Statischen, sondern auch für das Organische des Lebensvorganges; nachdem die Klassizität an Stelle von Knochen und Muskel das blühende Fleisch gesetzt hatte, setzt die romantische Kunst an die Stelle des Fleisches das Gewand und die Falte – das ist bildlich gemeint. Das Tiefste des Kunstwerks wird unrichtig, aber das Äußerliche wird immer naturwahrer und interessanter.

Wir bemerkten schon, wie sich dem Naturalismus, der sich aus der Romantik entwickelt, die archaistische Kunst entgegenstellt; ihr folgt dann die klassizistische als weiteres Ergebnis der Sehnsucht. Die Aufeinanderfolge der Epochen in der europäischen Kunst wird uns durch die gleichzeitigen bewußten Deutungen immer unklar gemacht. Eine große Wichtigkeit der Negerkunst ist, daß wir hier die Epochen ganz naiv, ohne die verfälschende Tätigkeit des rechtfertigenden Verstandes sehen. Vielleicht werden wir einmal dahin kommen, daß wir wissen: hier herrschen Notwendigkeiten, die weit hinter dem liegen, was mir je ergründen könne«, die wir nur einsehen und mit frommem Sinn annehmen dürfen.


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