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(1914)
In der ethischen Beurteilung des Krieges stehen sich zwei Ansichten gegenüber: auf der einen Seite verurteilt man ihn als einen organisierten Massenmord, auf der anderen Seite erkennt man doch an, daß die höchsten sittlichen Kräfte durch ihn geweckt werden.
Es ist uns das Gebot gegeben: »Du sollst nicht töten«, im Kriege aber tötet man. Unzweifelhaft muß also der Krieg verabscheuungswürdig und verwerflich sein. Das ist ein so einfacher Gedankengang, daß man doch stutzig werden sollte und sich fragen, ob er denn auch richtig ist; denn die ethischen Probleme pflegen sonst nicht so einfach zu sein. Wenn man die Vorkämpfer für den ewigen Frieden betrachtet, so findet man das Mißtrauen denn auch gerechtfertigt: Es pflegen Leute zu sein, die nicht imstande sind, die Gesamtheit des Lebens zu erfassen, und sich mit einer einzigen, begrifflich zu verstehenden Seite begnügen; sie gleichen in ihrer geistigen Verfassung den andern politischen Idealisten, den konsequenten Demokraten oder konsequenten Vertretern des Autoritätsprinzips. Die Gesamtheit des Lebens wird dem rein begrifflichen Erfassen immer entgehen, sie ist nur gefühlsmäßig zu begreifen. Die Mitteilung des Gefühls ist aber sehr schwierig, sie kann nur durch die höheren künstlerischen und religiösen Fähigkeiten des Menschen geschehen und wird nie glatt begreifbar sein. Der beschränkte Mensch, der mit seinem Verstand die Erscheinungen mißt, wird im höheren Sinn immer unrecht haben und dumm sein; aber er hat den großen Vorteil, daß er seine Gedankengänge restlos durch die begriffliche Mitteilung auf andere übertragen kann; daß der andere, wenn er ihm antworten will, sich in den Bereich des Verstandes begeben muß, und da dann höchstens zu erklären vermag: hier ist der Verstand nicht zuständig. Das faßt aber dann der verständige Mann natürlich als Bankrotterklärung des Gegners auf und erklärt triumphierend: »Ich habe doch meine Ansicht einleuchtend gemacht, und niemand kann mir eine verständige Einwendung gegen sie machen.«
Ja, er hat seine Ansicht einleuchtend gemacht, und niemand kann eine verständige Einwendung gegen sie machen; nun kommt aber die Wirklichkeit, ein gewaltiger Krieg entbrennt, und jeder Mensch muß zugeben, daß die höchsten sittlichen Kräfte in diesem Krieg geweckt werden, daß alle Scheußlichkeiten des Krieges eigentlich nur dadurch entstehen, daß die Kriegführenden den Krieg nicht rein führen, sondern Mittel gebrauchen, die von der Ethik des Krieges verworfen werden. Wie ist das möglich, wenn die einleuchtende Ansicht richtig wäre, daß der Krieg ein organisierter Massenmord ist?
Die Antwort kann nur aus dem Gefühlsleben kommen; es soll im folgenden versucht werden, sie so begrifflich wie möglich zu gestalten. Ich hörte einen jungen Menschen sagen, der mit großen Mühen und Opfern aus dem fernen Ausland gekommen war, um sich hier zu stellen, und noch warten mußte: »Alle meine Freunde sind schon tot oder verwundet, und ich muß hier sitzen.« Dieser Jüngling hatte das richtige Kriegsgefühl: er wollte nicht töten, er wollte getötet werden. Es ist schon erwähnt, daß Kunst und Religion in diesen Dingen bessere Führer sind als der Verstand; wo man in der Kunst die Gefühle des Krieges dargestellt findet, da steht immer das »In-den-Tod-gehen« im Mittelpunkt.
Was bedeutet das, daß mit einem Male über die Menschen, die sonst so ängstlich besorgt um ihr Leben sind – man muß doch zugeben, daß der Mensch von Natur ein feiges Tier ist und nicht ein mutiges –, daß mit einem Male über sie wie ein Rausch diese Todesbegeisterung kommt; die denn auch, weil Gefühl, von Bildung und Wissen, Stand und Stellung unabhängig ist?
In einem alten deutschen Soldatenlied, einem unserer schönsten unter diesen Liedern, heißt es:
Weine nicht, klage nicht
Um dein junges Leben;
Wenn sich dieser legen muß,
Wird sich jener heben.
Das ist scheinbar nur ein Gedanke, und zwar noch dazu, als Trost für einen Sterbenden, ein scheinbar wunderlicher Gedanke. Aber wie so oft, ist es auch hier, daß gerade die tiefsten Gefühle, die, welche in das Metaphysische hineingehen, nur durch das unangemessene Mittel des Gedankens mitgeteilt werden können.
Wir wollen eine Parallele auf einem scheinbar ganz fernliegenden Gebiet ziehen. Was ist der Grund für den tiefen Eindruck, den die Tragödie auf uns macht?
Verständigen wir uns vorher: nicht das Theaterstuck, das Schauspiel, die Dichtung, sondern die Tragödie; nicht die Darstellung des bunten Lebens, merkwürdiger ober typischer Charaktere, nicht lyrischer Reiz, sondern das harte, männliche, konstruktive Gebilde, das doch die Menschen abstößt, ehe es sie zwingt. Diese Tragödie ist natürlich so selten wie der Krieger, der nur Krieger ist: alles Lebendige läßt sich ja nie auf eine reine Formel bringen, es handelt sich in der Wirklichkeit immer nur um Tendenzen; wollen wir aber die Wirklichkeit und das Lebendige zu verstehen suchen, so müssen wir die Abziehung machen, uns die Erscheinungen rein vorstellen.
Auch in der Tragödie geht der Held in den Tod; sein Weg ist der Inhalt der Tragödie, und unser sympathisches Miterleben seines Gehens erzeugt in uns die tragische Erschütterung, die eines der großen Kunsterlebnisse ist.
Weshalb ist diese tragische Erschütterung eines der großen Kunsterlebnisse? Bekanntlich haben viele Denker über diese Frage nachgedacht, und es sind eine Anzahl Lösungen vorhanden, ganz befriedigend scheint aber keine von diesen Lösungen zu sein, weil sie doch immer im Verständigen, im Rationalen bleiben, immer an Ursache und Folge denken. Alle Kunsterlebnisse aber sind tiefe Erlebnisse, die hinter unserem Verstand geschehen. Etwa die Theorie von der tragischen Schuld hat durchaus keinen höheren Wert als die Theorie, daß der Krieg organisierter Massenmord ist. Natürlich ist irgendeine Schuld bei dem Helden vorhanden, denn jeder Mensch ist irgendwie schuldig; natürlich tötet der Soldat im Krieg; aber nicht jeder Mensch ist ein tragischer Held, und nicht jeder, der im Krieg tötet, ist ein Soldat: ein Franktireur ist ein Mörder, auch wenn er aus Vaterlandsliebe schießt.
Eben aus dem Beispiel des Franktireurs sieht man auch, daß das Wesentliche des Krieges nicht im Zweck seiner kriegerischen Handlungen liegt. Auch der Franktireur kämpft, und, wenn er gefangen wird, stirbt er für sein Vaterland. Aber er ist kein Krieger, ihm gegenüber werden wir nie das Gefühl der Achtung haben, das wir dem Feinde gegenüber haben, der Krieger ist, das so wichtig ist für die Auffassung des Krieges und seine ethische Bewertung. Das »In-den-Tod-Gehen« des Soldaten müssen wir also ebenso losgelöst von seinem Zweck betrachten, wie das »In-den-Tod-Gehen« des Helden in der Tragödie von Haus aus zwecklos ist. Mit anderen Worten: Das Wesentliche bei beiden liegt in etwas Irrationalem.
Hier muß man nun sagen, wenn man weiterdenken will, was bei einem Gespräch zwischen einem Verstandesmenschen und einem klugen Menschen der Kluge sagen wird: »Von hier an ist der Verstand nicht mehr zuständig.« In beiden Fällen: beim Krieger wie beim tragischen Helden handelt es sich offenbar um ein Lebensgefühl, das eben da ist, vielleicht bis zu einem gewissen Grad beschrieben werden kann, das aber kein Mensch erklären kann: denn das hieße ja, es auf verständige Erwägungen zurückzuführen.
Dieses Lebensgefühl ist aber doch gewiß etwas Merkwürdiges: Wie mit einem Male eine ganze Nation – und es scheint bei den Franzosen wenigstens ähnlich zu sein, offenbar auch, wenn auch in ganz trüber und verworrener Weise bei den unglücklichen Belgiern – einen Todesrausch bekommt als höchsten Ausdruck ihres Lebensgefühls; wie alle Gegensätze in der Nation verschwinden, nicht etwa durch die Not des Vaterlandes, denn die ist ja noch gar nicht da, und die Furcht vor ihr kann, da diese Not schwer verstellbar ist, kaum gewirkt haben, sondern durch die Begeisterung, durch diesen Rausch; wie alle Werte bei den Manschen sich ändern, alle Triebe umschlagen, wie das Individuum zu verschwinden scheint und nur noch als Teil des Ganzen lebt; mit einem Wort, wie mit einemmal die gesamte Nation auf eine ethische Höhe gehobenen ist, die man noch vor einer Woche für unmöglich gehalten hatte.
Ist hier nun vielleicht eine metaphysisch-dichterische Träumerei erlaubt, die weiß, daß sie Träumerei ist, die aber auch weiß, daß der Traum wirklicher ist als das Wachen?
Wir sind alle Narren, wenn wir uns für Individuen halten, wenn wir ehrgeizig sind, uns Sorgen machen, um Durchsetzung unserer Persönlichkeit mit allen Kräften ringen. Alle Vereinzelung ist nur ein Schein, nur ein bunter Schleier, der über die wahre Welt geworfen ist; und wir sind Narren, daß wir diesen Schleier ernst nehmen. Das tun wir aber nur durch unseren Verstand.
Der Krieg und die Tragödie befreien uns beide von dieser Narrheit des Glaubens an die Welt des Schleiers und des Verstandes; in unser Gefühl hinein schaukeln die dunklen Wogen der wahren Welt, in der alles eins ist, alles gleich ist, kein Leid und keine Freude mehr ist, sondern Erlösung, Erlösung vom Leben, von der Welt des Scheins und von der Vereinzelung des Menschen.
Kriegszeiten sind seltene Ausnahmezeiten, und auch in ihnen ist das Hochgefühl nur eine kurze Spanne lebendig; das Gefühl, welches die Tragödie in uns erweckt, erscheint gleichfalls nur in seltenen Zeiten und für kurze Dauer; unser gewöhnliches Leben geht vor sich als das Fließen der bunten Bilder auf dem Schleier. Und wie man den Sonntag nicht alle Tage leben kann, so kann man dieses tiefe Gefühl nicht immer verlangen: wir leben in der Welt des Schleiers die Wochentage, und unsere Wochentage sollen wir so redlich arbeiten, wie wir können: glücklich, wenn uns dann vielleicht einmal in unserem Leben ein einziger Sonntag beschieden ist; ein Sonntag, wie ihn jetzt unser Volk erlebt, weil es die Wochentage redlich gearbeitet hat.