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(1909)
Daß Drama und Bühne eine ungemein wichtige Bedeutung für das geistige und damit denn doch für das gesamte Leben der Nationen haben, ist ein von niemandem bestrittener Glaubenssatz, dem es denn freilich so geht wie andern Glaubenssätzen, nämlich, daß man sich in der Praxis nicht um ihn bekümmert. In der Praxis nämlich ist Drama und Bühne mit dem Theatergeschäft verbunden, das nach dem Urteil sogar derjenigen, welche es selbst betreiben, durchaus nicht die edelste Blüte des Menschentums ist. Der Zustand ist ungefähr so, als wenn es keine öffentlichen Museen für die bildenden Künste gäbe und man nun die Venus von Milo und die Sixtinische Madonna bei einem Panoptikumunternehmer neben der Wachsfigur des neuesten Raubmörders, der Schreckenskammer und dem nur für zwanzig Pfennige Zuschlag geöffneten Sonderkabinett bewundern müßte. Der Besitzer würde gewiß immer versichern, er sei ein gebildeter Mann und Liebhaber der schönen Künste, aber das Publikum, von dem er doch leben müsse, sei allzu rückständig; eigentlich seien schon die Venus und die Madonna Zugeständnisse an sein künstlerisches Gewissen, die er vor seiner Familie kaum verantworten könne; Werke von heute lebenden Künstlern, die ähnliche Absichten hätten wie jene alten, könne er deshalb unmöglich aufstellen, wenn er nicht zugrunde gehen wolle; und so müsse er, so sehr sein Herz auch blute, doch sein Augenmerk fast ausschließlich auf Raubmörder, Schreckenskammer und Sonderkabinett richten.
Man wird zugeben, daß der Mann recht haben würde, wenn man ihm auch das blutende Herz nicht gerade wörtlich glauben wird, und man wird gewiß nicht leugnen, daß die bildenden Künste gar nicht bestehen könnten, wenn sie dergestalt allein auf den Panoptikumunternehmer angewiesen wären. Einem solchen Unternehmer aber ist der heutige Theaterdirektor zu vergleichen: und da muß man sich wundern, daß ein Drama überhaupt noch besteht, und im höchsten Maße muß man anerkennen, daß die Theaterdirektoren, sie mögen nun sein, wie sie wollen, doch immer ab und zu einmal das Werk eines Dichters aufführen, ja daß Verkettungen von Umständen möglich waren, die noch einen Ibsen auf dem Theater heimisch machen konnten. Selbst wenn aber die Theater für unsere Dichtung wirklich etwas bedeuten könnten, so wäre doch die Nähe des Gelderwerbs, der seiner Natur nach zu den unvornehmen und fast schmutzigen gehört, eine genügende Gefahr für die Dichtung. Denn edle Dichtung muß die Menschen beherrschen; wie soll das aber möglich werden, wenn sie von den Menschen bezahlt wird? Schließlich sind ja alle Dinge irgendwie materiell abhängig, auch die höchsten, wie Kirche und Staat. Die haben aber Machtmittel; selbst der Gläubige würde kaum opferfreudig sein, wenn er nicht das Jenseits, und selbst der Staatstreueste, wenn er nicht den Vollstreckungsbeamten zu fürchten hätte. Die Kunst hat keine solchen Mittel, sie will ja nur gefallen. Da die Menschen eingesehen haben, daß sie für die Gesellschaft notwendig ist, so lassen sie ihr einigen, wenn auch nur geringen Schutz durch den Staat angedeihen, ähnlich wie der gleich hilflosen Wissenschaft.
Wie alles Wirkliche geschieht das aber nicht nach verständigen Zweckbestimmungen, sondern regellos und scheinbar zufällig, wie es sich geschichtlich entwickelt hat. So sind die Museen aus den fürstlichen Kunstkammern entstanden und die Hoftheater aus den fürstlichen Ballett- und Operbelustigungen. Bei den Museen ist man offenbar dem Grundsatz nach auf dem richtigen Wege, wie man der Nation die bildende Kunst zuführt; und wenn auch hier noch vieles mangelt, so kommt das einerseits daher, daß die Geldmittel noch nicht genügen, besonders für die zeitgenössische Kunst, und andererseits von der ewig menschlichen Unvollkommenheit in Beurteilung und Bewertung von Kunstwerken und von dem ganz natürlichen, aber doch selbstverständlich störenden Übergreifen wissenschaftlicher Absichten. Bei den Hoftheatern liegt offenbar keine grundsätzlich richtige Lösung des Problems vor. Die letzte Ursache wird sein, daß man damals, als man das Verhältnis von Staat und Fürst neu ordnete, die Museen fast überall verstaatlichte, die Theater aber als Privatangelegenheit der Fürsten beließ. Sie konnten, wie sich die allgemeinen Verhältnisse entwickelten, das praktisch doch nicht bleiben; aber dadurch haben sie eine sehr schwierige Zwischenstellung bekommen, die sie fast immer behindert, das zu leisten, was sie leisten könnten.
Der Unterschied zwischen dem antiken und neueren Drama ist so groß, daß man kaum dasselbe Wort für die beiden Arten gebrauchen kann. Dem ästhetischen Unterschied entspricht ein grundsätzlicher Unterschied in der äußeren Daseinsform des Dramas: in Athen ließen reiche und vornehme Bürger die Dramen des Äschylus und Sophokles auf ihre Kosten aufführen, und die Zuschauer hatten gar nichts zu bezahlen; ja später, allerdings in der Demagogenzeit, bekamen sie noch drei Obolen zu, weil sie ja durch das Zuschauen Arbeit versäumt hatten. Das neuere Drama aber setzte fast überall von Anfang an voraus, daß der Zuschauer seinen Platz bezahlte. Ganz offenkundig muß daher das neuere Drama von Anfang an ein größeres Streben zur Unterhaltung haben wie das alte. Man verstehe recht: Ich rede nicht etwa einem Drama das Wort, das nicht mit den Instinkten der Zuschauermasse rechnet; vielmehr ist die wesentliche Wirkung des Dramas Spannung und Lösung von Massenempfindungen. Aber die Art dieser Empfindungen ist verschieden, und die Art, wie sie gespannt und gelöst werden. Das neuere Drama kann nicht in jene Tiefen gehen, in welche das alte gebt, es wird zuletzt immer mehr oder weniger auf den »Genuß« kommen; aber die »Orestie« des Äschylus etwa ist denn durchaus auf andere Wirkungen berechnet wie auf den »ästhetischen Genuß«. Bei Shakespeare, dem bedeutendsten und folgerichtigsten Vertreter des neueren Dramas, ist die Umbiegung des Tragischen in das Schauspielmäßige sehr merkwürdig zu studieren; ihren letzten bedeutenden Ausläufer hat diese Art in Hebbel gehabt, der das Interessante und Sonderbare, das sonst das Gebiet der Novelle ist, mit der höchsten dramatischen Kunst dargestellt hat. Über ihn hinaus ist keine Entwicklung möglich, das beweisen die Dramen unserer heutigen Neuromantiker, die auf seinem Schaffen – nicht auf seiner ganz anders gerichteten Theorie – stehen. Denn an Stelle der tragischen Erschütterung und Erhebung wird bei ihm ein intellektuelles Vergnügen gesetzt: die Freude an interessanten Charakteren, das Verfolgen einer klugen Motivierung, die Entwicklung einer sonderbaren Lage.
Man kann die Aufführung der antiken Tragödie als einen Gottesdienst bezeichnen von jener Art, wie etwa die pomphaften Feiern der katholischen Kirche an manchen Festen, die wohl auch mehr für das Gefallen der frommen Menge wie für den Dienst Gottes, wie wir Protestanten ihn uns vorstellen, bestimmt sind. Aus der Religion heraus muß man das antike Drama empfinden. Die alten Tragiker haben die antike Religion am tiefsten gefaßt; die alte Tragödie leistete das, was die gänzlich verunglückte protestantische Predigt leisten wollte: das individuelle religiöse Erlebnis des Einzelnen aufgehen zu machen in ein allgemeines Empfinden der Zuschauermenge und ein religiöses Gemeindebewußtsein zu schaffen.
Die heutige Menschheit, vor allem die protestantische, steht in einer religiösen Krise. Scheinbar haben die Menschen heute die Religion überhaupt nicht nötig, weil sie sich in der sinnlichen Welt mit unerschütterbarem Optimismus gut eingelebt haben. Aber das ist lediglich das Ergebnis des großen wirtschaftlichen Aufschwungs, der Fortschritte der Naturwissenschaften und Entwicklung der Zivilisation, die mit ihm zusammenhängen. Wir leben, auf einem weiteren Gebiet, in einem Zeitalter, das dem der Antonine entspricht. Aber wir haben auch einen unserer Gesellschaftsform innewohnenden Widerspruch, der bedeutender ist wie der damalige und zuletzt die Gesellschaft zerstören wird, und in Asien rüsten sich bereits unsere Barbaren. Dann werden Jahrhunderte der Verzweiflung kommen und des Suchens nach Religion: die Aufgabe der Gegenwart ist, zu verhüten, daß man dann den Aberglauben findet. Wie weit das Christentum uns tragen kann, vermag heute kein Mensch zu sagen, denn das hängt von der Wirksamkeit seiner Erlösungsverheißung ab; deren Bedeutung kann aber offenbar in einer Zeit, die kein Bedürfnis nach Erlösung verspürt, niemand abschätzen. Für heute ist jedenfalls den geistig Höherstehenden eine tragische Auffassung der Welt verständlich. Und die ringt überall nach Ausdruck und kann ihn nicht finden, denn zu diesem Ausdruck gebraucht sie die Bühne.
Von allen Seiten her hört man Vorschläge zur Bühnenreform. Offenbar ist in vielen Menschen die Empfindung vorhanden, daß die Bühne das heute nicht ist, was sie sein sollte. Alle diese Vorschläge aber gehen nicht auf das Entscheidende der Sache, nämlich auf die Verbindung von Bühne und Erwerbstheater.
Sollte es nicht möglich sein, in unserer Zeit, die für alle Dinge so viel Geld hat, zunächst in Berlin ein Theater zu gründen, das ohne Eintrittsgeld allen freisteht? In welchem nur die erhebenden und großen Meisterwerke der Vergangenheit und von Heutigen nur das aufgeführt wird, das nach jener Richtung geht?
Man verwechsle ein solches Unternehmen nicht mit dem Schillertheater oder der freien Volksbühne. Diese Unternehmen bezwecken nichts, als den weniger Bemittelten Vergnügungen der Wohlhabenderen um billigeren Preis zu verschaffen, sie sind genau so vom Unterhaltungsbedürfnis der Menge abhängig wie die andern Theaterunternehmungen. Das einzige, womit man eine solche Bühne vergleichen könnte, wäre etwa eine sozialdemokratische Versammlung, wie sie noch vor zwölf oder fünfzehn Jahren war, oder eine Heilsarmeeversammlung. Dem Zuschauer muß klar werden: Es wird ihm nichts vorgespielt, sondern in typischen Vorgängen das Ringen seiner eigenen Seele, sein Schicksal und sein Wollen dargestellt, damit er geläutert und gehoben wird. Das muß er beim »Wallenstein« und beim »Prinzen von Homburg«, selbst beim »Gyges« und »Othello« erleben wie beim »Ödipus« und »Orest«. Ganz von selbst wird dann der Unfug verschwinden, daß man durch Dekorationskünste auch bei den größten Dichtwerken Unterhaltungswirkungen auf ein blasiertes Publikum erzielt oder den Schauspieler in den Vordergrund stellt, und es wird ganz gleich sein, ob man im Freien oder im geschlossenen Hause spielt. Es wäre von vornherein schon bei der Begründung der erbauende und erhebende Charakter des Unternehmens zu zeigen, in der Anlage von Zuschauerraum und Bühne, in der Forderung, daß der Raum nur in Sonntagskleidern betreten werden darf, in der Abwesenheit des Restaurations- und Kneipenwesens, in der Einführung der Stücke durch edle Musik, im Fernhalten der ja auch bei den heutigen Theatern überflüssigen Kritik, ja selbst in der einfachen Art der Sitzgelegenheiten und ähnlichem scheinbar Unbedeutenden.
Zur Zeit, als das Christentum sich verbreitete, waren in fast ganz Kleinasien die Tempel Stätten der niederträchtigsten und gemeinsten Orgien geworden, sie wimmelten von Dirnen, Lustknaben, gemeinen Musikanten, Salbenhändlern, Kupplern und anderem Auswurf. Hätte damals ein sittlicher Mensch, deren es denn doch in jenen Zeiten auch gab, den neuen christlichen Tempel ahnen können? So schlimm wie jene Tempel sind unsere heutigen Erwerbstheater denn doch noch lange nicht; wieviel eher muß eine Gewöhnung von ihnen zu etwas Ernstem und Edlem möglich sein!