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Kultur und Zivilisation

(1919)

Der Gegensatz von Kultur und Zivilisation kommt den Menschen in Zeiten der Zivilisation nicht zum Bewußtsein; in diesen Zeiten setzt man vielmehr Kultur und Zivilisation gleich. Der durchschnittliche Europäer wird einen nackten indischen Büßer nicht für einen Kulturmenschen halten; er wird sehr erstaunt sein, wenn ihm klar wird – so leicht wird es ihm nicht klar –, daß der Inder seinerseits ihn für einen Barbaren hält; noch mehr erstaunt wird er vielleicht sein, wenn ein Europäer von Kultur ihm sagen würde: »Ja, lieber Freund, der Inder hat recht.«

Es ist nicht leicht, die Sache den heutigen Menschen klar zu machen, denn hier liegen die letzten Fehler unseres Lebens. Daß dieses aber ganz und gar falsch ist, das haben wohl vor dem Kriege nur wenige geglaubt; heute, nach dem fürchterlichen Kriege und in dem allgemeinen Wahnsinn, den er uns zurückgelassen hat, glauben es vielleicht mehr. Es kommen schon Zeichen, daß sogar die Träger der allgemeinen Durchschnittsanschauung stutzig werden. Auf dem sozialdemokratischen Parteitag hat Herr Noske gesagt, es gehe doch nicht auf die Dauer, daß ein Portier mehr verdiene als ein Minister, und er hat allgemeinen Beifall gefunden. Die Unnatur unserer Zustände zeigt sich bei den heutigen Einkommensverhältnissen besonders lächerlich, weil sie sich hier in sinnlich greifbarer Form zeigt: daß die Portiers nicht nur in ihrem Einkommen, sondern auch sonst eine falsche Stellung haben; daß das nicht erst seit einigen Monaten so ist, sondern seit einigen Menschenaltern, das werden die Menschen nun wohl auch bald einsehen.

Man kann sagen, daß die Lebensverhältnisse der Kultur natürlich und vernünftig sind, die der Barbarei unnatürlich und unvernünftig. Natürlich und vernünftig werden die Lebensverhältnisse dann, wenn sie den Bedürfnissen des Menschen entsprechen und nicht durch irgendwelche andere Umstände bestimmt werden wie diese Bedürfnisse; wenn also überall im Leben der Mensch im Mittelpunkt steht und auf ihn sich alles bezieht. Jede Zivilisation hat aber den Drang, die Dinge zu den Herrschern des Menschen zu machen, jede Zivilisation wirkt also barbarisierend.

Man kann sich das anschaulich machen, wenn man an den Krieg denkt. Die Menschen hatten die sogenannte Herrschaft über die Natur errungen. Zu dieser gehört etwa, daß man im Kampf giftige Gase verwenden kann. Der eine kriegführende Teil beginnt mit der Verwendung solcher Gase. Da der Gegner die Natur gleichfalls beherrscht, so antwortet er, indem, er desgleichen die Gase gebraucht. Nachdem die Schraube einmal begonnen hat, gibt es kein Zurück mehr, sondern nur ein Vorwärts: wenn die Menschen, welche diese Dinge leiteten – auf beiden Seiten – die Fähigkeit gehabt hätten, klar zu denken, so hätten sie sich sagen müssen: nun wendet nicht mehr der Mensch das Gas an, sondern das Gas zwingt den Menschen dazu, es anzuwenden. Jeder ehrliche Soldat wird über die Gasangriffe entrüstet und beschämt gewesen sein. Aber was wollte er machen? Er mußte das Gas verwenden. Denn der Einzelne kann ja wohl seinem Gewissen folgen, und in den homerischen Kämpfen kann der einzelne Krieger sagen: diese und diese Waffe verwende ich nicht: er wird den Feind durch seine Sittlichkeit zwingen, gleichfalls mit ehrlichen Waffen zu kämpfen. Aber im heutigen Kriege gibt es keinen Einzelnen mehr, da gibt es nur die Organisation; die Organisation aber hat kein Gewissen, sie handelt nur zweckmäßig, und zwar zweckmäßig im kurzsichtigen Sinn; die Organisation zwingt den Einzelnen – sei es unmittelbar durch die Kriegsgesetze, sei es mittelbar durch das Pflichtgefühl, das sie zu erzeugen weiß – daß der Mensch Dinge gegen sein Gewissen tut. Diese unheimliche Kraft der Organisation zeigt sich ja schon beim kleinsten Verband; wenn etwa ein Mensch sagt, daß er das und das seiner Familie schuldig sei, dann will er sicher irgendeine Gemeinheit begehen.

Man wird keinen Unterschied finden zwischen der indianischen Kriegführung und der Führung des großen Krieges, aber wohl zwischen ihr und der Kriegführung der homerischen Zeit, des Mittelalters oder des alten Indiens. Der Grund ist, daß das Mittelalter, die homerischen Griechen und die alten Inder Kultur hatten; der Indianer und der heutige Europäer sind kulturlos.

Die griechische Kultur löste sich auf in die hellenistisch-römische Zivilisation, bis diese Zivilisation in sich zusammenbrach und nach einem Wirrwarr von Jahrhunderten, währenddessen die Menschheit immer tiefer sank, sich die mittelalterliche Kultur bildete. Es hat den Anschein, als ob der Weltkrieg der erste Akt des Zusammenbruchs der heutigen Zivilisation gewesen ist, daß wir seit der russischen Revolution im zweiten Akt stehen, und daß das Endergebnis zunächst wieder ein Zustand sein wird, wie er beim Zusammenbruch des Römischen Reiches war: also ein völliges Verschwinden der Zivilisation und Rückkehr zu einfachen und natürlichen Zuständen. Es wäre merkwürdig, wenn die Bewegung nicht begleitet würde von den Vorzeichen einer neuen Kultur. Denn in dem Augenblick, wo die Macht der Dinge über den Menschen gebrochen ist, steht der Mensch wieder als Herrscher da, kann er die Welt wieder auf sich beziehen und wieder zu Vernunft und Natur zurückkehren. Sehen wir ja doch, wie die Menschen schon in den täglichen Umständen durch die Not getrieben werden, alle mögliche Unvernunft und Unnatur abzustreifen.

Das wesentlichste Vorzeichen einer neuen Kultur scheint mir das Erwachen des religiösen Bedürfnisses zu sein.

Vor einem Menschenalter noch herrschte die zivilisatorisch-wissenschaftlich-materialistische Auffassung allgemein, nur einige vereinzelte hochstehende Menschen, die mit ihrer Zeit nichts zu tun hatten, machten eine Ausnahme. Seit etwa zwanzig Jahren kann man davon sprechen, daß ein Wiedererwachen des religiösen Bedürfnisses in der Zeit lag. Durch den Krieg haben die Kirchen wohl sehr viel Glauben verloren; aber das Suchen nach Religion ist seitdem sehr viel allgemeiner geworden; heute wirkt doch ein Häckel bereits komisch, der in den siebziger Jahren noch ein Fürst der Wissenschaft war. Religion aber ist die Form, in welcher der Mensch sich selber, in seinem wahren Ich, nicht in der Unterschiebung der äußeren Mittel, als Zweck und Sinn der Welt fühlt. »Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele«: das ist die religiöse Stellung; noch in der Zeit, als die Menschen die ganze Welt gewannen, wurde ihnen das in steigendem Maße klar; heute, wo die Welt verloren ist, werden naturgemäß noch viel mehr Menschen auf ihre Seele zurückgewiesen. Sehr merkwürdig zeigt sich das in der allgemeinen Bewertung des Geschäftslebens. Das Geschäftsleben ist unerhört verwildert; sollte nicht eine Hauptursache sein, daß die guten Bestandteile des Bürgertums weniger Wert auf Besitz und Erwerb legen: was ja denn auch den geringen Widerstand gegen den Sozialismus erklären würde; und daß im Geschäftsleben dadurch viel gemeinere Elemente in den Vordergrund getreten sind, die Kriegsgewinnler und Schieber?

Das gestärkte religiöse Bedürfnis äußert sich in allerhand Erscheinungen; auf die wertvollste möchte ich hier kurz hinweisen: auf den Neubuddhismus. Ich habe vor einiger Zeit hier von dem Lebenswerk K. E. Neumanns gesprochen. Neumann war eine ausgesprochene Gelehrtennatur; er wollte eine große geschichtliche Erscheinung den Menschen nahebringen und hatte die Vorstellung, daß nur der Einzelne, der sich wissenschaftlich mit dem Gegenstand beschäftigt, in die Lehre des Buddha eindringen kann, eben als Wissenschaftler. Die Neubuddhisten wollen mehr. Sie wollen den buddhistischen Gedankenkreis uns so darstellen, daß er nicht nur wissenschaftlich verstanden werden kann, sondern wieder Leben wird.

Daß eine Religion – so muß man den Buddhismus wohl nennen – die vor etwa zweieinhalbtausend Jahren in einem uns ganz fremden Volk entstand, bei uns lebendig wird, ist offenbar nur dann möglich, wenn das Wesentliche dieser Religion formaler Natur ist. Mit anderen Worten: es wäre eine Abgeschmacktheit, anzunehmen, daß die europäischen Völker nun plötzlich an die Stelle ihrer christlichen Mythologie eine andere Mythologie aus Hinterasien setzten. Eben der Zusammenbruch unserer Kirchen zeigt, daß das, was man herkömmlicherweise Religion nennt, nämlich eine Summe von widervernünftigen Sätzen, an welche sich das religiöse Gefühl anklammert, weil es sich bei unsern Vorfahren einmal in diesen Sätzen symbolisch ausgedrückt hat – daß das heute für uns unmöglich ist. Die Hauptaufgabe der Neubuddhisten wird also sein, daß sie zeigen: der Buddhismus ist nicht eine Lehre, sondern eine Form des Lebens. Mir scheint, daß die Neubuddhisten diese Aufgabe in sehr hohem Maße erfüllen, und daß bei ihnen der Höchstgebildete von heute, der religiös sucht, sehr viel finden kann; auf den kommt es aber natürlich an, denn Religion entsteht nicht in den Niederungen des Geistes, wie der merkwürdige europäische Glaube ist, sondern auf den Höhen: sie lebt auch dauernd nur auf den Höhen des Geistes; und nicht, daß das Volk keine Religion mehr hat, ist das Unglück unserer Zeit gewesen, sondern daß der Geist irreligiös war.

Ich möchte gegen die Bewegung, die mir die allerhöchste Achtung abnötigt, nur eines einwenden.

Nur insoweit der Buddhismus rein formaler Natur ist, kann er für uns eine wesentliche Bedeutung haben, denn nur das Formale ist allgemein menschlich, alles Inhaltliche ist zeitlich und völkisch bestimmt. In diesen Dingen aber kann man nicht so einfach sagen: dies ist Form, und dies ist Inhalt. Es geht der Religion wie der Kunst: Form und Inhalt ist jedenfalls für den Aufnehmenden nicht zu trennen; nur der Geist, welcher selbst schöpferisch ist, kann die Trennung machen, denn nur er fühlt die Form unmittelbar, denn die Form ist ja nur ein anderer Ausdruck für seine eigene schöpferische Kraft.

Der Buddhismus ist nun in sehr hohem Maße formaler Natur, deshalb, weil wir in den buddhistischen Werken in offenbar weitestgehendem Maße unmittelbare Erzeugnisse eines ursprünglichen religiös schöpferischen Geistes vor uns haben. Es sind da vor allem die Reden Buddhas gemeint. Machen wir den Vergleich mit dem Christentum, so finden wir, daß die christlichen Schriften nur sehr bruchstückweise, überarbeitet, mißverstanden und trümmerhaft, Äußerungen des ursprünglichen schöpferischen Geistes enthalten, der als geschichtliche Erscheinung gewesen sein mag, was er will: ein Mensch oder mehrere, eine Dichtung, ein Mythos, oder was immer. Ganz reine Form ist der Buddhismus aber auch nicht. Wäre er das, dann wäre er nicht Buddhismus, sondern er wäre allgemeinmenschliche Religion. Wenn man von Buddhismus spricht, dann spricht man immer von etwas, das auch Inhalt hat; zeitlich und völkisch bestimmte Inhalte.

Diese aber werden auf Widerstand stoßen und werden Anlaß geben zum Herabziehen der stolzen und freien Gedanken in irgendwelche menschliche Niederungen. Auch unsere Neubuddhisten scheinen sich mir nicht ganz frei davon gehalten zu haben, dieses zeitlich und völkisch Bedingte, dieses Inhaltliche aufzunehmen.

Zu diesem Inhaltlichen rechne ich vor allem die Lehre von der Wiedergeburt.

Sicher ist die Lehre von der Wiedergeburt eine in jeder Hinsicht höhere Lehre als die vom Himmelreich, und man kann verstehen, wie etwa ein Mann von der Art Lessings und mancher andere bedeutende Mann sich selbst von der Seelenwanderung hat bestechen lassen. Ich weiß auch nicht, wie weit sie im ursprünglichsten Buddhismus nur als Mythos gedacht war, durch welchen man den weniger unerschrockenen Geistern etwas geben wollte, an das sie sich halten sollten. Das wird wohl niemand wissen, denn der Mann, von dem die Reden stammen, ist seit zweieinhalb Jahrtausenden tot. Ich persönlich habe den Eindruck, daß die Lehre exoterisch ist, wie ja der gesamte Buddhismus durchaus als volkstümlich aufgefaßt werden muß.

Vielleicht wird der Neubuddhist mir entgegenhalten, daß ich dem Buddhismus das Rückgrat nehme, wenn ich die Wiedergeburt anzweifle, und wird darauf hinweisen, daß besonders begnadete Männer doch die eigene innere Erfahrung gehabt haben, daß sie sich auf ihre früheren Daseinsformen besinnen konnten. Letzteres beweist nur, daß die Wiedergeburtslehre die Form war, in welcher ihr Gefühl sich plastisch gestaltete, wie etwa ein frommer Christ die Erscheinung der Jungfrau Maria hat. Diese Erscheinung beweist nicht, daß die Jungfrau Maria nun im Himmel wirklich lebt; nur sein religiöses Gefühl hat in der Erscheinung die Form gefunden, in der es sich plastisch gestaltet. Und damit ist denn auch gesagt, daß die Lehre nicht das Rückgrat ist; das Rückgrat ist das Gefühl, welches in dieser Lehre sich plastisch gestaltet, welches sich auch anderweitig plastisch gestalten kann.

Vielleicht kann man sogar sagen, daß die Erzählungen von hervorragenden Männern, welche sich an ihre früheren Daseinsformen erinnerten, ein Hinweis darauf sind, daß der Buddhismus die Wiedergeburt nur mythisch auffaßt. Der Buddhismus hat erkannt, daß die Substantialität eine Kategorie unseres Denkens ist, er glaubt also nicht an »Seele« in unserem Sinn, er glaubt also nicht daran, daß die Seele dieses Menschen in einem anderen Wesen wiedergeboren wird, wie das vorbuddhistische Denker tun; er glaubt an subjektlose Kraft. Hier versagen nun die Sprachen, weil sie ja alle in der Form von Subjekt und Prädikat vorgehen. Man muß versuchen, auf anderem Wege als dem des eigentlichen Denkens weiterzukommen. Nun, wenn man sich ganz stark in die Vorstellung vertieft, so wird man finden, daß bei einer »Wiederverkörperung« – der Ausdruck ist schon falsch, wir können aber nicht anders sprechen – der Kraft ein Erinnern an frühere Daseinsformen unmöglich ist. Es wäre nur möglich bei einer Wiedergeburt der Seele, der richtigen Seelenwanderung.

Mir scheint, daß man nicht umhin kann, die Lehre von der Wiedergeburt als ein Dogma zu bezeichnen. Sowie man aber Dogmen hat, verläßt man das Gebiet des Schwebenden und Fließenden, in welchem allein schöpferische Religion ist, und kommt dazu, daß man in feste Begriffe faßt, was seiner Natur nach nicht in Begriffe gefaßt werden kann. Dann aber muß man sich fragen: Ist es richtig, wenn wir unsere europäischen, zu Dogmen erstarrten Mythen von Gott, Unsterblichkeit und Seele lassen, um dafür bloß ein anderes Dogma anzunehmen, sei es noch so bedeutend? Mir scheint richtiger, daß wir unsere christlichen Vorstellungen beibehalten, mit denen das Volk nun einmal Gefühle verbindet, und nur versuchen, sie aus der Erstarrung zu befreien, in welche sie durch die Mittelmäßigkeit toter Zeiten gesunken sind, ihnen ihre ursprüngliche Beweglichkeit wiederzugeben, und sie dadurch wieder lebendig zu machen.


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