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(1908)
Der Künstler schafft ein Werk, um gewisse Wirkungen in anderen Menschen zu erzeugen. Diese gewollten Wirkungen sind Empfindungen, weiterhin Vorstellungen, und nicht selten jene Art von Gedanken, die sich unmittelbar aus Empfindungen und Vorstellungen ergeben, die man indessen nicht verwechseln darf mit Gedanken, welche durch das begriffliche Denken gewonnen werden. Die Mittel, durch die er die Wirkungen erzeugt, sind die Gesamtheit seines künstlerischen Könnens. Künstler ist er nicht dadurch, daß er die Absichten auf jene Wirkungen hat, sondern dadurch, daß er über künstlerisches Können verfügt.
Wir leben heute in einer Zeit des Rückschlages gegen eine Epigonenkunst, welche ein unzureichendes Können besaß und daher das Können unterschätzte und die Absicht zu hoch bewertete, also nicht betrachtete, was einer wirklich geschaffen, sondern was einer gewollt hatte. Unzweifelhaft entstanden dadurch ungerechte Bewertungen, die dann wieder Einfluß auf die Empfindungen des Aufnehmenden gewannen, da ja sehr viel von der Wirkung eines Kunstwerkes auf die große Menge Beeinflussung durch wenige Bewertende ist. Heute wird mit Recht gesagt, daß das erste in der Kunst das Können ist; aber dieser an sich richtige Satz wird mit einer solchen Einseitigkeit betont, daß er wieder zu neuen Gefahren Veranlassung gibt.
Wenn ein Mensch zum andern reden will, so ist gewiß das erste, daß er überhaupt sprechen kann: aber das Sprechen ist nicht Selbstzweck, es ist nur unumgängliche Voraussetzung des Zweckes: Mitteilung von Gedanken. Diese selbst können sehr verschiedenwertig sein, und es ist die ganze Stufenleiter menschlicher Bedeutsamkeit hier möglich. Genau so verhält es sich mit dem Erwecken von Empfindungen durch das Kunstwerk eines Mannes. Daß er das künstlerische Können besitzt, ist die Voraussetzung; aber wie die Seelen aller übrigen Menschen verschieden sind, von der höchsten bis zur tiefsten, so sind es auch die Seelen der Künstler; ja die Stufenleiter der Empfindungen ist noch sehr viel weiter wie die der Gedanken; sie geht tiefer in die Tiefe und höher in die Höhe, und die Bedeutsamkeit eines Kunstwerkes richtet sich nicht danach, wie weit es gekonnt ist – das ist Voraussetzung, daß es überhaupt völlig gekonnt ist –, sondern welche Wirkungen es erzielt.
Hier kommen wir auf einen Punkt, der mir gegenwärtig immer übersehen zu werden scheint, so selbstverständlich das Bisherige klingt. Es gibt nämlich keinen Maßstab schlechthin für das Können in den Künsten, sondern jedes Kunstwerk hat seinen eigenen Maßstab.
Der Dialog Corneilles ist logisch-antithetisch; der Shakespeares lyrisch-bildhaft; der eines Naturalisten möglichst wirklichkeitsgetreu; der eines Neuromantikers (man gestatte den kurzen Ausdruck) lyrisch-empfindsam. Die Charakteristik Corneilles geht nur auf die handlungstragenden Willenskräfte der Figuren, die Shakespeares auf das Menschlich-Bedeutsame, die der Naturalisten auf das Oberflächenwirkliche, die der Neuromantiker auf das augenblicklich-zufällige Empfindungsleben. Das sind je vier verschiedene Kunstmittel, die je vier verschiedenen Wirkungen entsprechen. Weil ein Dichter bestimmte Empfindungen erzielen will, deshalb sucht er die Herrschaft über die dafür nötigen Kunstmittel zu erlangen; und ebenso falsch, wie es wäre, wenn man an die Mona Lisa Anforderungen stellte, die man aus Bildern Manets nähme, ebenso falsch wäre es, wenn man Corneille vorwürfe, er habe keine Charaktere wie Shakespeare, und von Hamlet verlangte, er solle ebenso natürlich sprechen wie der Meister Oelze. Solche Ansichten hat man in dieser Schärfe freilich nur selten ausgesprochen; versteckt aber sind sie heute durchaus herrschend, indem man von dem lebenden Künstler immer verlangt, er solle sich der »modernen Ausdrucksmittel« bedienen, das heißt, der Mittel, durch welche auf die zur Zeit Maßgebenden Wirkungen ausgeübt werden.
Glücklich wird ja immer der Künstler sein, der auf solche Empfindungen gestellt ist, deren die Zeit, in welcher er zufällig lebt, bedarf, und diese Künstler sind natürlich immer schnell hochgeschätzt. Es wäre möglich, daß eine Zeit und ein Volk für die großen, heroischen Empfindungen zugänglich sind: da würde ein Dante, Michelangelo, Corneille sein Glück machen. Gerät eine Anlage, welche diesen heroischen Gemütern ähnlich ist, in eine kleinliche Zeit, so wird sie durch den Mangel an Wirkung mehr oder weniger verkümmern, wie wir das bei Hebbel sehen. Wäre das richtig, so wäre unsere heutige Zeit für große Kunst offenbar sehr ungünstig gestimmt, denn alle handwerklichen Aufgaben, welche in den Künsten gegenwärtig bearbeitet werden, gehen ganz offenkundig auf nicht heroische Wirkungen. Indessen, wenn man bei dem Leben der großen Künstler genauer zusieht, so wird man finden, daß sie doch durchaus nicht den Widerhall fanden, den wir heute bei unseren erfolgreichen Künstlern gewohnt sind, daß sie häufig ganz allein standen, nicht selten sogar bitter angefeindet wurden.
Man muß sich deutlich machen, daß das große Kunstwerk an sich durchaus gegen die Instinkte der Menschen geht, und man kann ganz ruhig annehmen, daß das sogar noch bei den anerkannten großen Kunstwerken der Vergangenheit der Fall ist. Ist ein Volk von Natur kunstfeindlich, wie es das deutsche doch zu sein scheint, so wird das nicht so klar, indem Wissen und Bildung, welche der Empfindung zunächst feindlich sind, für diese eintreten. Man kann sich die Sache durch folgende Überlegung näher bringen.
Der große Künstler – das ist der Mann, welcher eine große Seele hat und das künstlerische Können besitzt, welches die mitzuteilenden Inhalte dieser Seele angemessen ausdrückt – verlangt von den Menschen, daß sie die Gemeinheit ihres täglichen Lebens vergessen sollen, um sich bedeutend über sich zu erhöhen; etwa in der pathetischen Art Michelangelos durch die übermenschliche Körperlichkeit und den gewaltig leidenschaftlichen Ausdruck seiner gebildeten Figuren zu einer himmelstürmenden Energie oder in der schönen Art Tizians durch die reine Harmonie von Farben und auch Linien zu einem verächtlichen Zurücklassen des gewöhnlichen Lebens und einem sich bescheidenden Sein in erträumter Abgeklärtheit. Das ist ein ganz unerhörter Anspruch, den diese Männer erheben. Man spricht gewöhnlich von »Kunstgenuß«; von Genuß aber kann gar keine Rede sein, wenn man diesem Anspruch nachgibt; selbst die wenigen, welche ihm nachgeben können, werden ihn als eine Art sittlicher Verpflichtung empfinden, der sie mit Überwindung ihres gemeinen Menschen nachkommen; mit Freude allerdings nachkommen, aber nicht mit genießender Freude, sondern mit jener heroischen, welche etwa einen Helden in den Tod treibt für eine große Sache. Und auch sie können durchaus nicht allen Großen nachfolgen; wer die Stimme Michelangelos versteht, der versteht auch die Worte Dantes; aber ich halte es für unmöglich, daß er in gleicher Weise Ariost oder Tizian mitempfinden kann.
Es besteht augenblicklich für die Malerei ein gewisses Verständnis bei den Nichtkünstlern, welches mir für Dichtung und Musik zur Zeit völlig zu fehlen scheint. Kunstkritiker wissen heute etwa, weshalb ein Maler an einer gewissen Stelle seines Bildes eine aufrechtstehende Figur hat: weil er da eine Senkrechte brauchte; und daß er einen leuchtend roten Mantel im Mittelpunkt wollte: um von dem die andern Farben abhängen zu lassen. Aber von diesem Wissen um Mittel des Künstlers – das man nicht genug hochschätzen kann – bis zu seinem Verstehen ist doch noch ein unendlich weiter und gefährlicher Weg, ein Weg wie von der Theologie zur Religion; denn zwar erzeugt immer die Religion die Theologie, aber die Theologie führt häufig ab von der Religion: so scheint mir heute die Einsicht in die Kunst von ihrem Empfinden abzuführen.
Es ist sehr schwer, über diese Dinge Gedanken mitzuteilen, weil die Vorstellungen, die man durch seine Worte erweckt, zu abhängig von den Erfahrungen der Leser sind. Ein Farbenblinder kann sterben, ohne daß es ihm klar wird, daß er mit dem Worte Grün eine ganz andere Vorstellung verbindet wie die andern Menschen; und ebenso wie die Farbe Grün ein persönliches Erlebnis ist für jeden, das nicht beschrieben werden kann, sondern nur mit dem Wort »Grün« bezeichnet werden muß, so ist auch ein Kunstwerk ein persönliches Erlebnis, und es kann jemand irgendeinen Vorgang in sich für das Empfinden des Kunstwerkes halten, der gar keine Beziehung zur Empfindung hat. Man kann nur gelegentlich einmal einen Argwohn schöpfen aus den Worten, mit welchen er erzählt; etwa wenn jemand sagt, er habe im Anblick der Venus von Milo »geschwelgt«.
Betrachten wir die vorhandenen vorzüglichen Kunstwerke, nämlich die, welche wirklich gekonnt sind, etwa Bilder von Terborch und Lionardo, Frans Hals und Giotto, und ordnen wir sie nach der Seelengröße ihrer Schöpfer, so werden wir finden, daß sie nicht dem Umfang nach, sondern wesensmäßig verschiedene Dinge ausdrücken; wie ja auch der gewöhnliche Mensch von dem höheren durch die ganze Art verschieden ist, dadurch, daß seine Willensrichtungen andere sind, nicht dadurch, daß sie schwächer sind oder daß ihm einige fehlen. Der Mensch, welcher zu ihnen kommt, erwartet und findet Verschiedenes, wenn die Sprache auch in allen Fällen das immer nur als »Kunstgenuß« bezeichnet; nur die Freude, welche durch die Kennerschaft entsteht, weil sie verstandesmäßiger Natur ist, wird immer gleich sein: über die Senkrechte und den roten Mantel kann ich mich bei Jan Steen ebenso freuen wie bei Raffael; aber diese Kennerfreude, diese Theologie, ist etwas anderes wie der »Kunstgenuß«, die Religion; der »Kunstgenuß« ist sittliche Tat, denn sie ist das Aufnehmen des Wertvollen einer fremden Seele.
Sehe ich ein Drama, wie etwa die Weber, so wird die vorherrschende Empfindung, die erzeugt wird, das Mitleid sein. Ich erblicke Menschen von der Art, wie sie mir täglich begegnen, die sehr leiden. Da ich ja aber doch weiß: auf der Bühne sind nicht wirkliche Weber, sondern nur Schauspieler, welche Weber darstellen, so wird nicht das wirkliche Gefühl Mitleid erzeugt, sondern, wie für das Kunstwerk notwendig, das Scheingefühl Mitleid. Das wirkliche Gefühl und das Scheingefühl haben aber verschiedene Folgen. Das wirkliche Mitleid ist peinigend und demütigend; das Scheingefühl Mitleid ist erfreuend. Ein Mitleid, welches Freude macht, ist Empfindsamkeit. Das ist etwas Warmes und Liebes, dem sich alle Menschen gern hingeben werden.
Sehe ich ein heroisches Drama wie Corneilles Cid, so werden mir Menschen dargestellt von einer Art, die sehr selten ist, mit der ich vielleicht nie in Berührung komme, zu der ich deshalb kaum eine gemütliche Beziehung habe, die vielleicht höchstens eine kalte Neugierde in mir erwecken; daß sie nur dargestellt werden, nicht die wirklichen Menschen sind, ändert in bezug auf sie nichts, es macht mich höchstens noch kälter. Aber die Menschen sind Träger von Empfindungen, die, mögen sie von Schauspielern oder von wirklichen Personen ausgesprochen werden, immer den gleichen Wert haben müssen: daß sie vor mir als sittliche Ideale stehen, deren Verpflichtung für mich zuungunsten meines gemeinen Menschen ich immer anerkennen muß. Je nach meiner Natur wird diese Anerkennung mit Begeisterung oder mit Widerwillen vor sich gehen. Die Sittlichkeit des Helden (selbstverständlich handelt es sich um die höchste dichterische Sittlichkeit) erzeugt Kämpfe: das sind aber meine eigenen Kämpfe, denn ich habe mir ja sein sittliches Gesetz auferlegen müssen. Etwas Warmes und Liebes entsteht da ganz gewiß nicht in mir, auch keine Freude an mir selbst oder meinen Gefühlen.
Nehmen wir nun das höchste Drama, das religiöse; wählen wir als Beispiel den König Ödipus. Hier sind mir die Menschen noch fremder und, als Menschen, noch gleichgültiger. Was mit ihnen geschehen ist, erkenne ich als teils unmöglich, teils mir gänzlich fernliegend. Aber durch die Handlungsführung und andere Mittel, welche reine dramatische Form sind, wird mir die Abhängigkeit des Menschen, meine eigene Abhängigkeit von furchtbaren überirdischen Mächten, sowie die Rückwirkung der Menschen in die Empfindung geprägt; ich empfinde einen religiösen Schauer und habe damit die höchste Empfindung, deren der Mensch überhaupt fähig ist. Hier ist völlig alles Wärmende verschwunden; alles Menschlich-Nahe; soweit noch Menschliches vorhanden ist, hat der Dichter es so entfernt, daß es nicht mehr wirken kann; das Wirkende muß man auf eine Art Mathematik zurückführen, wie bei der großen Musik: auf Spannung, Lösung, Verhältnisse und Beziehungen. Das Werk ist ganz kalt geworden. Die Mediceische Venus würde ein kühner Mann umarmen: die Melische müßte selbst die frechsten Begierden mit Eis überschütten. Jene verspricht Glück, diese sagt: das Glück ist nur für gemeine Seelen, es gibt Höheres: Stolz, Einsamkeit, Heiterkeit, Freiheit und Kälte. Und man kann sicher sein: jedes Kunstwerk, das erfreut und beglückt, ist klein.
In dem furchtbaren Gedicht auf sein Alter sagt Michelangelo:
La mia allegrezz' è la maninconia,
E 'l mio riposo son questi disagi,
Che chi cerca il malanno, dio gliel dia.
Er empfindet sein Geschick als zufällig: aber es ist urbildlich. Jeder Große findet das Unglück, weil er es suchte: er suchte es, weil ihm das Glück nicht genügte. Und es ist falsch, wenn er sich darüber beklagt, wie es falsch ist, wenn der Mensch sich beklagt, daß er unglücklicher ist wie das Tier, das Tier unglücklicher wie die Pflanze. Was ist natürlicher, als daß ihm seine Zeitgenossen zunächst Feindschaft, später höchstenfalls eine scheue Achtung zollen, die bereit ist, sofort wieder in Feindschaft umzuschlagen – ihre Liebe und auch ihre Verehrung heben sie für die auf, welche ihnen etwas geben, nämlich Freude und Glück, und nicht etwas von ihnen verlangen, nämlich Entsagung und Erhebung. Und was ist natürlicher, als daß der Nachruhm für den glücklichen Geringeren ein heiteres Weiterleben seiner Werke bedeutet in frohem Empfangen der Menschen – für den Großen nur ein gezwungenes Wissen um ihn, wie die Völker von ihren toten Tyrannen wissen, und ein Leben seiner Werke nur für die ganz wenigen, die ihm gleichen. Aber sollten diese wenigen nicht alle anderen aufwiegen?