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Tragödie und Erlösungsdrama

(1917)

Die folgenden Bemerkungen sollten eigentlich ihren Platz haben in einer Arbeit über den Zusammenbruch des deutschen Idealismus. Ich wollte versuchen, den seelischen Vorgang, welchem die geschichtliche Entwicklung der dramatischen Form entspricht, durch das Beispiel meiner persönlichen Entwicklung anschaulicher zu machen, da diese ja in der Gegenwart geschehen ist und deshalb inhaltlich heute verständlicher sein wird, wie der seelische Vorgang, aus dem die antike Tragödie entstanden ist. – –

Offenbar ist die Entwicklung der tragischen Form der Ausdruck einer Entwicklung der Empfindungen der Menschheit in einer bestimmten Zeit; aber was in dieser Zeit die Menschheit im ganzen erlebte – die Menschheit: das heißt einige athenische Dichter – das erlebt jeder tragische Dichter immer von neuem wieder. Auch ich habe es erlebt. Man wird es mir gewiß nicht als Überhebung anrechnen, wenn ich meine innere Geschichte hier anführe. Ich habe für die alten Tragiker die höchste Verehrung, und von meinen Werken weiß ich nicht, und kann es nicht wissen, ob sie einmal für die Menschen auch nur den geringsten Wert haben werden. Aber hier gilt das Wort der Schrift, daß vor Gott alle Menschen gleich sind. Auch wenn meine Dichtungen ganz nichtig sein sollten: der seelische Vorgang, durch den sie entstanden, ist genau derselbe wie bei den großen Tragikern.

Aus dem Zusammenbruch des deutschen Idealismus hatten sich zwei geistige Mächte lebendig gerettet: der preußische Staatsgedanke, der später auf das Deutsche Reich übergegangen ist, und die Marxische Sozialdemokratie, beide aus der Zersetzung der Hegelschen Philosophie entstanden. In meiner Jugend war jener Staatsgedanke durch die Epigonen zu braver, aber geistloser Routine geworden, und nur die Sozialdemokratie lockte als scheinbar lebendiges Wesen.

Zugleich aber hatte die Lehre Kants durch die Neukantianer eine Belebung erfahren. Es schien möglich, den Feuerbachschen Materialismus in der sozialdemokratischen Lehre durch Kantische Kritik und Moral zu ersetzen. Friedrich August Lange, der Geschichtsschreiber des Materialismus, schien diesen Weg anzuraten.

Wenn diese Untersuchungen den Eindruck machen sollten, daß ich Begabung oder Neigung zu Kritik und philosophischem Denken hatte, so ist das ein falscher Eindruck. Solche Untersuchungen habe ich zuerst angestellt, als mir der vollständige Gegensatz meines Fühlens gegen das Herrschende klar wurde; ich zweifelte an der Richtigkeit meines Fühlens und suchte mir deshalb verstandesmäßige Einsichten zu verschaffen, um es zu überwachen. Nachher stellte ich sie an, als meine Werke keinen Eindruck auf die Menschen machten; ich untersuchte sie, um die Ursache des mangelnden äußeren Erfolgs zu finden, und untersuchte auch die älteren anerkannten Werke. Es ist mir erst später klar geworden, daß die Schuld nicht an mir liegt. Die Fichtesche Ansicht von den Zeitaltern angenommen, befinden wir uns heute in einem fortgeschrittneren Zustand des Zeitalters der »allgemeinen Sündhaftigkeit«, als der Zustand zu Fichtes Zeit, der Zeit unseres klassischen Dichtens und Denkens war. In dieses heutige Zeitalter ragen, weit mehr wie in das damalige, Elemente des zu erhoffenden nächsten, vernunftgemäßen Zeitalters hinein, aber sie sind sich ihrer selber noch unbewußt. Für das Bewußtsein des Zeitalters wurden sie sogar als Mittel der allgemeinen Sündhaftigkeit verwendet, indem etwa Heldentum, Staatsgesinnung, Treue und Aufopferung in diesem Kriege zunächst dazu dienen, den Pöbel, welcher die herrschende Klasse dieses Zeitalters ist, weiter zu bereichern und ihn in angenehmere Lebenszustände zu versetzen. Das Bewußtsein des Zeitalters aber wird durch die jedesmaligen Literaten ausgedrückt, soweit dieselben nicht rein albern sind. Dieses Bewußtsein muß naturgemäß der organischen Dichtung verständnislos gegenüberstehen.

In unserer klassischen Zeit waren zwar viel weniger Elemente des künftigen Vernunftreiches im Volk vorhanden; aber hauptsächlich wohl durch die überkommene Frömmigkeit aus den Zeiten unserer Altvorderen und durch die pietistische Bewegung war doch im Bewußtsein der Masse, also auch in den Literaten, noch ein Rest des Verständnisses für Dinge, die über die Gemeinheit hinausgehen; deshalb haben unsere Klassiker nicht ganz so einsam leben müssen, wie die Dichter nach ihnen. Die Literaten aber haben es heute im wesentlichen zu entscheiden, ob ein Dichter ins Volk kommt, wie es etwa im 18. Jahrhundert die Schulmeister hatten.

Durch meine theoretischen Arbeiten nun scheine ich die Schwierigkeit des Verständnisses auch für die Bessergesinnten noch erhöht zu haben; denn da die Ansicht eines gemeinen Zeitalters natürlich sein muß, daß der Dichter sozusagen lediglich seine Funktion ist, indem es selber für ihn denkt und fühlt, so wirkt natürlich die Erscheinung eines Dichters gänzlich verwirrend, der bewußt selbständig das allgemein Menschliche aufsuchen muß, da das Zeitalter nichts Seelisches zu bieten hat. Ich habe deshalb wörtlich dasselbe Geschwätz von den Literaten anzuhören, das seiner Zeit Hebbel anhören mußte.

Ich möchte aber ausdrücklich betonen: Ich war immer nach meiner ganzen Gemütsart Dichter, und ich habe weder eine Begabung für theoretische Untersuchungen – mir ist ganz klar, daß meine theoretischen Arbeiten nur unbehilflich gestammelte Selbstbekenntnisse sind mit allen Unklarheiten und Widersprüchen der nicht durch höheres Denken gereinigten Natur – noch habe ich von Hause aus Neigung zu solchen Arbeiten. Ich habe, gegen meine Natur, zweifeln müssen; aber ich sehnte mich immer nach einem Glauben, durch den mir ein Weg gewiesen wurde für mein Handeln: denn der Dichter ist ein durchaus handelnder Mansch, er hängt rein praktisch am Leben, er ist das gerade Gegenteil der Denkernatur.

Ich dachte nun den Glauben für mich in einer solchen neukantischen Auffassung der Sozialdemokratie gefunden zu haben. Die geschichtliche Entwicklung, durch überpersönliche Kräfte geführt, war zu einem Punkt gelangt, wo ich in das ungeheure Räderwerk einspringen konnte und durch meine Kraft einen Vorgang, wenn auch nur wenig, fördern, welcher die politische Herrschaft des Proletariats erzeugte und damit die Möglichkeit einer Gesellschaftsordnung, die auf sittlichen Grundlagen ruhte und Sittlichkeit als gesellschaftliche Folge haben mußte, während die heute noch bestehende Gesellschaftsordnung unsittliche Grundlagen hat und gesellschaftlich unsittlich wirkt, nur dem seelisch besonders begabten Einzelnen die immer schwerer werdende Möglichkeit eines sittlichen Lebens lassend.

Diesen Glauben kann man als Religion bezeichnen. Das Handeln hatte scheinbar rein sinnliche, wirtschaftlich-politische Ziele; aber was gemeint war, das war das Aufgehen des Einzelnen in eine Menschheit, welche nicht die vorhandene, sondern eine künftige, nicht die sinnliche, sondern eine geistige war, eine Gemeinschaft der Heiligen. Unsere heutige Zeit kann sich Gott immer nur immanent denken, die Unsterblichkeit als die Zeitlosigkeit des seelischen Seins, die Freiheit als den Glauben an sie; so war mit dieser Gemeinschaft der Heiligen denn das gleiche gemeint, was die alten Christen meinten, und der Glaube an sie war Religion.

Dieser Glaube brach bei mir völlig zusammen. An seiner Stelle war nichts.

Meine erste Tragödie, welche ich drucken ließ, »Demetrios«, ist eigentlich eine ziemlich wenig umgesetzte Darstellung dieses Erlebnisses. In den folgenden Werken wurde es, tragisch wie komisch, immer mehr vertieft und dadurch immer mehr künstlerische Form, bis mir endlich in »Brunhild« die Tragödie wirklich gelang.

»Die Tragödie« habe ich gesagt, denn ich glaube, daß ein Dichter immer nur eine Tragödie dichten kann. Die seelische Entwicklung steht nicht still; die Tragödie ist ein Punkt in ihr; kommen alle Glücksumstände zusammen (die allgemeinen Zeitumstände, das persönliche Erleben, Talent, geistige Reife, glückliches Motiv), dann schreibt sie der Dichter; fehlt etwas an den Glücksumständen, so mißlingt sie; aber seine Entwicklung geht dann sicher weiter. Auch ich bin zum Erlösungsdrama gekommen; der Punkt wurde bei mir in »Ariadne« erreicht.

Man kann den links stehenden Kantianer doch wohl als subjektiven Nihilisten bezeichnen, wenn ihm wenigstens die gänzliche Unhaltbarkeit der Kantischen Moralphilosophie klar geworden ist. Als der Glaube an die Sozialdemokratie zusammengebrochen war und an ein künftiges Vernunftreich etwa in der Art von Fichtes vierter Epoche der Menschheit, da war ich auch objektiver Nihilist geworden. Mein seelischer Zustand glich völlig dem des antiken Tragikers, der an den Göttern verzweifelt, weil er einsieht, daß sie Dämonen sind. Die Tragödie bejaht den Zustand: wenn die Vernichtung denn der Sinn des Lebens ist, so wird sie freiwillig aufgesucht; die Tragödie stellt diesen Gang dar, und der Mensch, welcher den Gang tut, ist der Held.

Aber wir Heutigen leben nicht mehr in der sinnlichen Anschauung der Alten; seit das Christentum in der Welt ist, und es ist in die Welt gekommen zum großen Teil durch die alten Tragiker, können wir Seele nur noch durch Seele darstellen, nicht mehr durch sinnliche Natur, kann der tragische Kampf nicht mehr sittlich gleichgültig sein, indem einfach ein allgemein menschlicher Vorgang dargestellt wird, sondern muß er sich auf dem Gebiet des Sittlichen abspielen. Form und Inhalt der Tragödie ist heute nur noch als die enge Idee möglich: die Guten müssen zugrunde gehen, weil sie die Guten sind.

Wenn auf diese Tragödie nun das Erlösungsdrama folgt, so muß auch dieses auf das enge Gebiet des Sittlichen beschränkt sein. Der Held tritt im Erlösungsdrama zurück vor dem Gott. Während er in der Tragödie als die Idee des Menschen erscheint und dadurch für die Empfindung der Zuschauer in die Nähe der Gottheit gerückt wird, erscheint er nun als gerade durch sein Heldsein menschlich beschränkt. In der Tragödie drückt sich der menschliche Stolz aus; in »Ariadne« zeigt es sich, daß Theseus, der doch den Wert von Siegfried und Brunhild oder von Demetrios hat, so tief unter dem Gott steht, daß man ihn als verwandt fühlt mit dem Priester. Es war also nur ein trügerischer Glaube in der Tragödie gewesen, daß der Held in der Nähe des Gottes stehe. Durch diese Einsicht wird die Verzweiflung gehoben, aus der die Tragödie hervorwächst. Es zeigt sich, daß diese Verzweiflung entsteht, wenn man den Menschen als Mittelpunkt der Welt faßt. Aber er steht in Wirklichkeit an der Peripherie, und im Mittelpunkt steht Gott. Wer einen Punkt der Peripherie für den Mittelpunkt hält, der muß eben eine »falsche« Übersicht über den Kreis haben, alle Linien müssen sich ihm verschieben und sinnlos werden.

In »Kassandra«, meinem letzten Werk, ist die Entwicklung wieder einen Schritt weiter gegangen; ich finde aber nicht die Worte, mit denen ich das begrifflich darstellen könnte. Hier ist auch der Held verschwunden, und die scheinbare Irrationalität des Gottes ist allein geblieben.


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