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Der Sinn des Christentums

(1930)

Am 24. Dezember feiern wir die Geburt unseres Heilands. Was ist das: unser Heiland. Wir haben in der zusammenbrechenden Welt von heute alle Ursache, uns das recht klarzumachen und nicht mit Selbstlügen, wie wir das gewohnt sind, uns über den furchtbaren Sinn dieses Wortes hinwegzutäuschen.

Wir nehmen herkömmlich eine Anzahl sogenannter Weltreligionen an, zu denen wir auch das Christentum zählen. Diese Weltreligionen entsprechen alle mehr oder weniger einem mehr oder weniger hohen gesunden Menschenverstand. Das Christentum entspricht ihm offenbar nicht.

Das Judentum nimmt einen Gott an, der nach der Form des Menschen geschaffen ist. Von dieser Annahme aus wird richtig weitergedacht, werden gewisse Vorschriften gegeben. An diese Vorschriften werden Verheißungen geknüpft. Kein Mensch kann leugnen, daß diese Verheißungen erfüllt werden. Das jüdische Volk hat nur durch seine Religion jahrtausendelang gelebt, während alle anderen Völker zugrunde gegangen sind. Die Einzelnen in ihm haben in den denkbar schwierigsten Lagen sehr häufig zu einer sehr guten Stellung kommen können. Es ist den heutigen Juden klar, daß die eigentliche Gefahr, in der sie sich heute befinden, durch die Abtrünnigkeit eines großen Teils ihrer Volksgenossen von ihrer Religion kommt.

Die Anhänger Mohammeds haben einen ähnlich verständigen und lebensnützlichen Glauben. Mit ihm haben sie die Welt erobert, und so lange der Glaube lebendig war, haben sie die Eroberung auch gehalten. Die Anhänger Buddhas stehen auf einer geistig wesentlich höheren Stufe. Ihre Grundannahme ist nicht mit wenigen Worten so einfach mitzuteilen. Auch bei ihnen ist es so, daß aus der einen Grundannahme alles andere verstandesmäßig richtig sich ergibt. Wollen wir noch die chinesischen Lehren als Religion bezeichnen, so finden wir, daß hier überhaupt keine Grundannahme vorliegt, sondern mit einem ungeheuren und nüchternen Verstand der ganze Umfang der Lebensaufgaben des Menschen geordnet ist, und daß diese Ordnungen, wenn sie innegehalten werden, notwendig das Volk wie die Einzelnen am Leben erhalten müssen.

Die christliche Religion ist grundsätzlich verschieden von allen diesen Religionen. Man kann sagen, daß sie in ihrer reinsten Ausprägung überhaupt keine Grundannahme hat; daß alles in ihr unverständig ist; daß sie überhaupt nicht den Anspruch erhebt, den Gesetzen des Verstandes zu gehorchen; es klingt wohl sonderbar, wenn ich das sage: sie hat eine nähere Verwandtschaft mit den religiösen Anschauungen der alten Griechen oder der vorbuddhistischen Inder als mit den Anschauungen der übrigen sogenannten Weltreligionen.

Daraus ergibt sich ihre Schwierigkeit für das Leben. Es hat gewiß viele Juden, Mohammedaner, auch Buddhisten und sehr viele Chinesen gegeben, welche die Ansprüche ihrer Religion erfüllt haben. Die Ansprüche der christlichen Religion sind nicht zu erfüllen. Niemand, der gegen sich selber ehrlich ist, darf sagen, daß er ein Christ ist. Heute, im Untergang der gesitteten Welt, dürfen wir uns nicht weiter belügen wollen: nur Einer ist ein Christ gewesen, und das ist unser Heiland selber. Er hat von sich gesagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Verstehen wir das oft nachgeschwatzte Wort richtig: Ich bin der Weg. Ich bin die Wahrheit. Ich bin das Leben. Ich, der Heiland, bin das, nicht ein Gedankengespinst theologischer oder philosophischer oder gar moralischer Art. Daß er der Weg ist, hat er besonders betont. Er hat sich in anderem Bild als Führer hingestellt, dem man nachfolgen soll, nachfolgen soll – wohin?

Das zu verstehen, ist ungeheuer leicht und ungeheuer schwer. In der kirchlichen Ausdrucksweise spricht man von der Gnade, welche den Menschen erleuchtet. Damit ist das gemeint, daß ein solches Wort ungeheuer leicht zu verstehen ist. Wem das Verständnis wurde, der kann sich in der Tat wohl gar nicht anders ausdrücken, als daß er da von einer göttlichen Gnade spricht. Alles, was den Menschen sonst wichtig ist, das ist nun von ihm abgefallen. Er kann nicht beschreiben, wie das gekommen ist. Das ist nun da.

Aber Christus ist auch ungeheuer schwer zu verstehen. Von zwei Seiten lauert eine Gefahr des Mißverstehens. Erstens: Unser Heiland gleicht einem tiefen Brunnen, in welchen die Menschen hineinsehen müssen. Was sehen sie da? Ihr eigenes Gesicht. In ihrem eigenen Gesicht aber steht geschrieben, was sie alles gern möchten. Das Kind glaubt an das Christkind, das mit dem brennenden Christbaum vom Himmel herniederfliegt in die elterliche Stube, und an dem Christbaum hängt alles, was es sich wünscht, vom Zuckerzeug bis zum Schaukelpferd. Das Kind muß nur artig sein, dann kommt das Christkind ganz bestimmt. Vielleicht äußert sich die höhere oder geringere religiöse Begabung bereits darin, wie leicht es dem Kind fällt, sich für artig zu halten. Der weitaus größte Teil der Menschen, die sich als gläubige Christen bezeichnen, bleiben auf diesem Standpunkt des Kindes stehen und bezweifeln auch nicht, daß ein Schaukelpferd an einem Christbaum hängen kann.

Höher gestimmte Menschen kommen aus diesem Kinderzustand heraus durch die Einsicht in die Notwendigkeit der Sünde. Die Notwendigkeit der Sünde wird in der kirchlichen Lehre am schönsten in dem Bild des Sündenfalls dargestellt. Der Mensch muß eben in der Welt leben, und ist aus dem Garten Eden vertrieben. Hier setzt nun der Gedankengang ein, den Luther von Paulus übernommen hat, der bei Luther etwas ganz anderes bedeutet als bei Paulus, weil er ein anderer Mensch ist; denn jeder Gedanke bedeutet bei einem Menschen das, was er nach der Art dieses Menschen bedeuten muß. Ich könnte mir denken, daß noch eine andere Art möglich wäre, aus dem Zwiespalt herauszukommen.

Wir müssen uns klarmachen: wie frühere Zeiten sich diese Geheimnisse durch Mythen klarmachten, so suchen wir Heutigen, sie uns durch das theologische Denken klarzumachen. Beide Mittel sind mangelhaft. Ich glaube, daß das Mittel des Denkens das mangelhaftere ist. Und hier komme ich auf die zweite Gefahr eines Mißverständnisses, die Gefahr, welche uns Heutigen näher liegt als den Manschen irgendeiner andern Zeit. Die heutige Menschheit ist durch die geistige Vorherrschaft der Wissenschaft daran gewöhnt, an alle geistigen Aufgaben mit dem Mittel des Denkens zu gehen. So ist auch im religiösen Leben der Mythos zurückgedrängt, und das Denken herrscht fast ausschließlich. Das ist aber eine ganz bestimmte Art von Denken, welche herrscht. Es ist die Art, welche vor dreihundert Jahren durch die großen Physiker und Astronomen aufgekommen ist. Innerhalb seiner Grenzen wirkt dieses Denken immer richtig. Aber diese Grenzen kannte man nicht. Man nahm etwa an, daß man die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit so evident machen könne wie den Lehrsatz des Pythagoras. Schon Kant hat den Geltungsbereich dieses Denkens eingeschränkt. Die neuere Mathematik hat gezeigt, daß die Grenzen noch enger gezogen werden müssen. Die gedankliche Formung des religiösen Lebens bedeutet nicht einen Gran mehr als die mythische Form. Diese Einsicht ist aber auch heute immer noch wenig verbreitet, selbst bei Leuten, welche die Kantische Kritik durchdacht haben und welche wissen, daß synthetische Urteile a priori überhaupt unmöglich sind, daß das Denken nur ordnen und nicht schaffen kann. Wenn das Denken nur ein Mittel in der Religion sein kann, und zwar ein unzulängliches, und bei der heutigen Verfassung der Menschen ein sehr gefährliches, dann sollte man überhaupt darauf verzichten, das, was man so Erkenntnis nennen kann, überhaupt von der Religion zu verlangen. Die Religion ist mehr. Wir können Gott nie erkennen. Wir können den Heiland nie erkennen, und es gibt nichts Lächerlicheres als die Frage, ob Jesus Christus eine geschichtliche Persönlichkeit gewesen ist. Wem diese Frage wichtig ist, der zeigt damit, daß er auf dem Standpunkt der aufgeklärten Plattheit steht.

Religion ist Weg und ist Leben, und insofern, nicht weil sie Erkenntnisse gibt, ist sie Wahrheit.

Wir leben im Jenseits, kommen zum Bewußtsein aber im Diesseits. Das ist die ungeheure Schwierigkeit für uns, wenn wir zu Gott kommen wollen. Gott ist jenseitig, und wir sind durch unser Leben aufs innigste mit ihm verbunden. Christus hat gesagt: »Niemand kommt zu dem Vater, denn durch den Sohn.« Der Sohn aber ist der Weg und das Leben und insofern die Wahrheit. Nur wer den Weg geht, kann zu Gott kommen. Es ergibt sich, daß die übrigen sogenannten Weltreligionen eine Gottesvorstellung haben, die einem niedrigeren geistigen Stand entspricht. Das ist selbst im Buddhismus der Fall, bei dem ganz folgerichtig Gott zuletzt überhaupt sich auflöst.

Es ergibt sich, daß das Christentum mit Recht unverständig ist. Wenn wir versuchen wollen, seinen religiösen Gehalt gedanklich kurz darzustellen, dann müssen wir sagen: Das Christentum ist die tragische Religion. Nun, es gibt nichts Unverständigeres als die Tragödie, nichts Unverständigeres als das Herrenwort: Wer sein Leben fortwirft, der wird es gewinnen.

Wie die Menschheit aus dem gegenwärtigen Zustand der tiefsten geistigen und seelischen Entwürdigung wieder herauskommen wird, wie insbesondere unser unglückliches Vaterland in künftige Zeiten eingehen wird, das können wir nicht wissen. Jedenfalls ist das sicher: Voraussetzung ist, daß die Menschen erst wieder verstehen, was das Christentum ist: nicht Salbaderei eines sanften Menschenfreundes oder so etwas Ähnliches. Das Kind in der Krippe wird einst die furchtbare Wahrheit sagen: Wer sein Leben fortwirft, der wird es gewinnen. Dasjenige Volk, welches diese Wahrheit des Heilands in sich aufnehmen wird, wird die heutige Vernichtung überleben.


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