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Von dem Semperischen Glück, von der griechischen Königin und vielen anderen Seligkeiten.
Das nun folgende Jahr war ein unablässiges Schweben im Licht, ein Schweben mit ausgebreiteten Schwingen.
Nur einmal in der Woche ging er zu Herrn Bendemann und arbeitete mit ihm deutsche Sprache und Literatur. Herrn Bendemanns Wohnung war das rechte Gehäuse dieses Mannes: es standen ein Tisch, vier Stühle und ein Schrank im Zimmer; aber in ihr lebte die Poesie eines heiterreinen, der Pflicht geweihten Lebens. Immanuel Kant könnte in ihr gelebt haben, und dem poesiehungrigen Asmus schien es in diesem Raume stets so lieblich und wohnlich wie in einem guten Gewissen. Herr Bendemann ließ den Knaben selbstständig arbeiten und versuchte, was er ihm bieten dürfe. Er gab ihm auf, sechs Seiten durchzuarbeiten, dann acht, dann zwölf, zuletzt zwanzig. Er glaubte, Asmus habe die ganze Woche für diese Arbeit; aber er hatte nur einen halben Tag dazu; in der übrigen Zeit mußte er notgedrungen beim Tabak helfen, und des Abends lernte er Latein und Französisch. Nun schlief er nicht mehr ein; nun hatte sein Leben ein Steuer, nun hatte er Wind in den Segeln, nun ging es vom Bach in den Strom, vom Strom ins Meer, vom Meer in die Unendlichkeit. Nun saß er an der Quelle und trank und trank und wollte so lange trinken, bis sie leer war; er wollte alles lernen, alles, um dann, wenn er alles gelernt haben würde, glücklich zu sein. Er kam nicht mehr mit den Füßen auf die Erde; er flog nur und flog, und es wurde ihm so leicht, zu fliegen: er schlug nur zweimal, dreimal mit den Flügeln, dann konnte er wieder lange, lange mit unbewegten Flügeln dahinschweben durchs Licht.
Er fand noch Zeit zu Spaziergängen, und er ging zwischen heimlichen Hecken, an grünüberwachsenen Teichen, durch dörflichen Frieden dahin, und an seiner Seite gingen Schiller und Ossian, Aristoteles und Goethe, Voltaire und Klopstock, Gottsched und Bodmer. Er las alles, was sich ihm bot, sogar die Noachide von Bodmer und die Oden von Ramler. Am liebsten aber ging er den Hohlweg am »Halben Mond« hinunter, um seiner Elbe mit langen, stummen Blicken zu sagen, wie glücklich er sei. Dann schritt er stromauf und stieg bei »Martens Mühle« wieder ans Ufer hinauf, dorthin, wo auf einer umbuschten Wiese der Abend unter blühenden Malven lag. Dort legte er sich nieder mit seinem Buche und sah die Elbe unten vorüberfließen, groß und still, wie sie dahingewandelt war, als er auf Hörmanns Werft die Späne in den Sack gesammelt hatte. Und unter silbernen Segeln kamen mit dem Strome die Stunden seines vergangenen Lebens daher, stiegen ans Land, kamen zur Wiese herauf, traten aus den Büschen hervor, entwirrten rosig-silberne Schleier, die ins Abendrot hinüberschwanden, tanzten an ihm vorüber mit einem seligklagenden Zwiegesang, und verschwanden wieder in den Büschen, wie ein Gesang sich unter fernen, dunklen Bäumen zur Ruhe legt. Da kamen die Stunden, wie er mit Dierich Mattens auf dem Zaune saß und rauchte, wie er durchs Bodenfenster nach dem Lande sah, »wo milde Luft vom blauen Himmel weht«, wie er am Wintermorgen mit Elieser um Rebekka freite, wie Adolfine Moses ihm die Kriegserklärung überbrachte, wie er mit brennenden Augen in die Flammen der Feuersbrunst schaute, wie der Maurer mit dem Munde den Knall eines Pfropfens nachahmte, wie Klaus Rampuhn ihn von der Turnstange riß, daß er mit dem Kopfe auf die Erde schlug, wie er im weißen Kleidchen auf den Dielen saß und seine Mutter übers Treppengeländer hinweg mit einer Nachbarin sprach – in wundersamen Verschlingungen tanzten in neckischem Nah'n und Entfliehen die Stunden den träumeumwehten, -umklungenen Reigen. So schön war das Leben, daß selbst die Stunden des Leidens ihn freundlich ansahen, so traurig war das Leben, daß selbst die lachenden Augen der seligen Stunden von der Wehmut des Vergehens übertaut waren. Er mußte auch der Tage denken, da er »Doktor Krause« gespielt mit dem Konfirmationscylinder Leonhards, und der Tage, da er an der Leiche seines Bruders stand. Und er dachte: Wenn Leonhard so gute Lehrer gehabt hätte wie ich, und wenn ein Lehrer ihn entdeckt hätte wie mich, wenn er hätte lernen können – es wäre anders mit ihm gekommen – und alle meine Geschwister – wenn ihnen das Glück so hold gewesen wäre wie mir – und es ward ihm weh und bang in seinem Glücke.
Ueberhaupt war ihm bei allem Glück die Schwermut eine liebe Gefährtin, und wenn er nun dichtend am Ufer der Elbe hinschritt, so dichtete er mit Vorliebe in der sapphischen Odenstrophe, weil ihre letzte Zeile wie ein letzter Abendhauch über Grabesblumen weht. Er besang den Tod von treuen Freunden, die nie gelebt hatten, und die Treulosigkeit von Geliebten, die er nie gesehen hatte, und das war schade; denn sie waren ohne Ausnahme schön und engelgleich, nur treulos. Aber auch Lieder des Zornes und der Empörung gegen Tyrannenwut und Geistesknechtung atmete er mit wogender Brust dem Herbststurm entgegen, wenn er mit vorstürmendem Kopf und mit Schritten, die für seinen Körper viel zu lang waren, durch den Sand des Elbufers stampfte.
Ein Wort hatte sich ihm schon in früher Kindheit eingeprägt, das Wort: »Und sie bewegt sich doch!« Das mußte er einmal singen, und er sang es. Und es klang so:
Vor hohem Tribunale im heil'gen alten Rom, Da stand einst Galilei, der große Astronom. Dort wollte man ihn zwingen, die Wahrheit zu verdrehn; Dort sollt' er blind sich stellen, weil er zu klar gesehn. Man schleppt ihn in den Kerker, ein feucht, verpestet Loch; Er läßt hinaus sich führen ins liebe Sonnenlicht. Der Alte muß es schwören, die Hand aufs Buch gelegt: Doch wie er's hat geschworen, die Hand auf's Buch gelegt, Und wie einst Galilei der Nacht zum Opfer fiel, Drum Mut gefaßt, ihr Kämpfer: Die Wahrheit nimmer stirbt; |
Das ist dir gelungen, dachte Asmus. Freilich wenn er ganz ehrlich gegen sich selbst war, dann mußte er gestehen, daß es zuweilen verteufelte Kniffe gekostet habe, den verflixten Reim und die vertrackte Silbenzahl herauszukriegen; aber wenn man es recht stürmisch und wohlwollend deklamierte, dann merkte man nichts. Von hinten herum, auf dem Wege über seine Mutter erfuhr er, daß das Gedicht seinem Vater große Freude gemacht habe. Eines Tages nämlich war Johannes über seine Papiere geraten, hatte das Gedicht gefunden und es starr vor Begeisterung seinem Vater gezeigt.
Ja, Ludwig Semper konnte sich wieder freuen; seine Augen wurden wieder klar, sein Gang wieder rascher; sein qualvolles Leiden ließ von ihm ab. Es war, als ob der große Entschluß, seinen Sohn den Niederungen des Elends zu entreißen und ihn lichteren Sphären zurückzugewinnen, seinen Leib wie seine Seele verjüngt und die Ketten des Leides zerrissen hätte. Er konnte wieder lachen, ja singen sogar, und als er eines Tages deutlich merkte, daß es mit seinem Sohne vorwärts ging, wie er gehofft, da hob er den Kopf von seiner Arbeit, blickte gerade ins hellste Licht der Lampe hinein und rezitierte:
There is a tide in the affairs of men, Which taken at the flood leads on to fortune; Omitted, all the voyage of their life Is bound in shallows and in miseries. |
Und dann warf er ein Bein über das andere, lachte mit schütternden Schultern in sich hinein und machte wieder Cigarren.
Nach einem Jahre meldete Asmus sich zur Aufnahme in das Hamburger Lehrerseminar. Mit Zittern und Beben. Nun wird deine greuliche Unwissenheit ans Licht kommen, dachte er. Als er zum ersten Male in das Zimmer des Direktors trat, schnauzte der ihn an. Er wußte natürlich nicht, daß der Direktor zunächst immer schnauzte und doch ein herrlicher Mann war. Unter den Lehrern war einer mit einem ganz roten, ganz runden und breiten Kopfe, der durch abstehende Haarbüschel noch wesentlich verbreitert wurde, und dieser Mann machte ein Gesicht, als wollte er sagen: »Wer nicht ebenso gelehrt ist wie ich, den fress' ich innerhalb der nächsten fünf Minuten auf.«
Acht Tage währte die hochnotpeinliche Prüfung. Dann wurde Asmus aufgenommen.
Als er am Tage nach der Aufnahme in gehobenster Stimmung den Heimweg einschlug, gesellte sich ein Klassenkollege zu ihm, und an der andern Seite dieses Kollegen ging eine Bekannte des jungen Mannes, eine schlanke Dame von etwa siebzehn Jahren mit großen braunen Augen und einer ungeheuren Fülle braunen Haares. Sie trug eine Büchermappe und war offenbar eine Schülerin des nahegelegenen Lehrerinnen-Seminars. Sie hielt sich sehr stolz und gerade und hatte doch im Gesicht einen sanften, ja melancholischen Ausdruck. Sie sprach nur wenig. Als den Kollegen sein Weg seitab geführt hatte, ging Asmus noch eine Strecke mit ihr allein. Er kam sich so unglückselig und dumm vor wie noch nie: er konnte kein Wort hervorbringen. Endlich sagte er:
»Sind Sie bald zu Hause?«
»Nein«, sagte sie, »ich muß noch nach Eimsbüttel.«
»Wohnen Ihre Eltern in Eimsbüttel?« fragte er; denn unter den Zöglingen der Seminare waren manche, deren Eltern auswärts wohnten.
»Ich habe keine Eltern mehr«, sagte sie.
»Ach!« sagte er unwillkürlich und dachte im selben Augenblick: »Was bin ich für ein Glückspilz«. Jetzt erst bemerkte er auch, daß sie ganz in Schwarz gekleidet war. Ihr Kleid war von fast armseliger Einfachheit, zugleich aber von peinlichster Sauberkeit und Ordnung, und alles, was sie trug, stand ihr so fein und gut, daß man sie dennoch für eine vornehme Dame halten mußte. Asmus wollte noch mehr sprechen; aber alles, was ihm einfiel, kam ihm so ungeschickt und albern vor, daß er lieber gar nichts sagte. Endlich zog er plötzlich den Hut, machte etwas, was als eine höfliche Verbeugung gedacht war, und sagte »Guten Abend«. Sie erwiderte seinen Gruß mit einer graziösen Neigung des Kopfes, und ihre Wege trennten sich.
Er wußte nicht, daß die kleine griechische Königin neben ihm gegangen war, die »Königin der Mainotten«, die zwischen den Eisenbahndämmen vor dem Wirtshause gesessen hatte. Sie wußte nicht, daß es der kleine Junge war, der ihr den Glasmarmel geschenkt hatte, den Glasmarmel, den sie – sie wußte kaum warum – noch immer in ihrem Nähkästchen aufhob.
Acht Tage später rief der Ordinarius der Klasse, der aussah, wie die Rechtschaffenheit und die Geometrie in einer Person, den Präparanden Asmus Semper zu sich.
»Sie sind in die höhere Klasse versetzt«, sagte er.
Asmus wurde blaß. »Ich kann aber kein Englisch«, stieß er hervor.
»Das schadet nichts. Das holen Sie in vier Wochen nach. Sie sollen hier Ihre Zeit nicht verlieren. Sie erhalten auch ein Stipendium.«
Merkwürdig: auf dem Wege nach Hause begegnete Asmus lauter schönen Gesichtern. Und als er sich plötzlich in Oldensund sah, mußte er aufatmend stillstehen und sich umsehen: Wie war er denn nach Oldensund gekommen? Er war ja gar nicht gegangen! Er hatte ja gar nicht die Erde berührt! Seine Füße waren aus Gewohnheit nach Hause gelaufen, etwa wie ein Pferd auch ohne Reiter den Heimweg findet. Sein Kopf war hoch über den Füßen auf einer wogenden, schimmernden Flut geschwommen, und auf dieser Flut schwammen die Köpfe der ihm begegnenden Menschen wie Seerosen mit lieben, lachenden Gesichtern, und die nahen sahen aus, als ob sie fern, ganz fern wären, und die fernen, als wären sie zum Greifen nah.
»Ich bin in die höhere Klasse versetzt und ich kriege ein Stipendium!« hallte es durch das Haus der Semper, und dahinter erschien Asmus.
Frau Rebekka mußte es dreimal hören, ehe sie's begreifen und glauben konnte.
Ludwig aber sah seinen Sohn an, als wenn er ihn heute erst kennen lerne. Dann legte er ihm nach alter Gewohnheit die Hand auf den Kopf und rieb diesen Kopf in so langer und heftiger Freude, daß Asmus alle Haare wehtaten; aber er gab keinen Mucks von sich; er rührte keine Wimper, und ein Schauer rieselte ihm den Rücken hinunter. Sie waren in diesem Augenblick ein Mensch, Vater und Sohn, und blickten gemeinsam in ein neues Land. Dann aber warf Ludwig Semper plötzlich die Arme nach beiden Seiten, wie es keiner je von ihm gesehen, und rief: »Es geht wieder aufwärts mit den Sempern, es geht wieder aufwärts.«
Ende.