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Wie Asmus betete und wie ihm eine Königin erschien. Wie er von der Leiter fiel und dabei ein Dichter wurde.
Als er an diesem Tage nach Hause kam, ging er leise ins Schlafzimmer und machte die Tür behutsam hinter sich zu. Er hatte noch nie gebetet; in seinem Hause betete man nicht; in der Schule geschah es nur hin und wieder, und dann tat es Herr Rösing. Er faltete fest die Hände ineinander und sprach:
»Lieber Gott, laß sie mich doch nicht mehr so schrecklich quälen! Ich kann es nicht mehr aushalten. Ich will auch ganz gewiß immer gut und fleißig sein. Mach doch, daß sie mich nicht mehr quälen, oder sonst mach' mich lieber tot; ich kann es nicht mehr aushalten. Ich hab' ihnen doch nie etwas getan! Warum sind sie denn immer so schlecht gegen mich? Ich habe ganz gewiß nicht angefangen . . . .«
Da brach er plötzlich ab und starrte vor sich hin. Er sah plötzlich Herrn Bunger, wie er ihm nachgerufen hatte:
»Herr Bunger, Haben Sie Hunger?« |
und wie der Verhöhnte sich nach ihm umdrehte, wie er so langsam den Kopf schüttelte und so große, traurige Augen dabei machte. Und Asmus schlich leise von Gott hinaus und machte die Tür zu. Er fühlte sich unendlich elend.
Er empfand die furchtbare Gerechtigkeit des Schicksals, wenn er sie auch nicht in einem Gedanken fassen konnte. Das Schicksal hält sich meistens nicht an unsere Schuld; es straft uns, wo wir unschuldig sind, ja, wo wir Gutes getan, und fügt so zur Strafe die Schrecken der Verwirrung.
Aber in das Dunkel dieser Tage sollte doch ein mildes Licht fallen, ein mildes und seltsam starkes Licht. An einem schulfreien Morgen breitete sich plötzlich vor seinem Geiste mit einem unnennbaren Dufte die Talwiese aus, die Talwiese zwischen den Eisenbahndämmen, die er nicht wieder gesehen, seit sie die Wohnung »Am Rain« verlassen hatten. Eine plötzliche Sehnsucht ergriff ihn nach jener Wiese und nach dem Lande, wo Abraham vor Gott gewandelt, wo Elieser Rebekka fand und wo die Engel auf der Strahlenleiter hinabgestiegen zu Rebekkens Sohne, wo auch die Karawane zog, zu der sich Orbasan, der Herr der Wüste, gesellte, und wo sie alle Märchen erlebte von Kalif Storch bis zum falschen Prinzen. Ein unwiderstehlicher Drang trieb ihn dorthin; sich überstürzend lief er davon, und als er am Ziele war, fand er noch alles, wie es einst gewesen. Eine Stunde lang tat er nichts anderes, als daß er hier im Grase saß oder dort am Wege stand, mit träumender Hand über einen Zweig hinstrich oder in die Ferne sah und lächelte. Als er wieder heim wollte, mußte er an dem Wirtshause vorbei, das dort lag, wo der eine Eisenbahndamm sich in zwei Dämme gabelte, und als er an dem Hause vorüberging, saß da auf dem Beischlag der steinernen Freitreppe ein wundersames Mädchen.
Sie war kein rund- und flachsköpfiges, rot und weißes Kind von holsteinischer Art; sie sah ganz anders aus. Sie hatte Augen und Haare von tiefem Braun, und auch ihr längliches, schmales Gesicht war gebräunt wie dasjenige – Asmus dachte nach, wer doch auch solche Farben gehabt habe – richtig: Christel Bellièvre hatte ähnlich ausgesehen. Französisch sieht sie aus, dachte er. Sie rührte sich nicht, als er sie anstarrte; sie erwiderte mit großen, unbewegten Augen seinen Blick. Ihre langen, schmalen Hände lagen im Schoße gefaltet, und alles in ihrer Haltung schien aus eine frühgewohnte Traurigkeit zu deuten.
»Hast du dich verlaufen?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf und sagte »nein«.
»Du bist nur müde, nicht?«
»Nein, ich warte auf meinen Papa.«
Die Tür der Schenke stand offen und mau hörte eben ein überlautes Gelächter, bei dem die Kleine ihre langen, dunklen Brauen zusammenzog, als ob es ihr wehtäte.
»Magst du drinnen nicht sein?« fragte Asmus.
Statt aller Antwort schüttelte sie sich mit leisem Schauder.
»Ich mag gern in einer Wirtschaft sein«, sagte Asmus: »Einmal, da nahm mein Vater mich mit in die Wirtschaft und da kriegte ich ein ganzes Glas voll Selters mit Himbeeressig, das schmeckt famos.«
Sie sah ihn fest und forschend an.
»Ist dein Papa gut gegen dich?« fragte sie.
Asmus lachte auf. »Natürlich!« rief er. »Mein Vater ist der beste Mann auf der ganzen Welt.«
Sie zog wieder die Brauen zusammen, sah an ihm vorbei und schwieg.
»Das ist wunderhübsch«, sagte er nach einer Weile und zeigte auf eine feingeschnitzte Brosche, die ihr ärmliches Kleidchen am Halse zusammenheftete.
Nun wurde sie lebendig. »Das ist eine Gemme«, sprach sie, »die ist von meinem Onkel in Griechenland.«
Asmus machte große Augen. »Du hast einen Onkel in Griechenland?« rief er.
»Ja«, nickte sie lebhaft. »Mein Onkel in Griechenland ist ein großer Mann. Wenn er uns wieder besucht, will er mir eine Puppe mitbringen, so groß wie ich selbst, und wenn ich größer bin, will er nur mich heiraten, und dann soll ich seine Königin werden.«
»Seine Königin?«
»Ja. Mein Onkel heißt »der König der Mainotten«. Er hat viele hohe Marmorberge, und da kann er alles tun, was er will. Und da ist so schöne warme Luft, und dann nehm' ich meine Mama mit, und dann wird sie gesund.«
»Ist deine Mutter krank?«
»Ja. Schon drei Jahre«, sagte sie ganz leise.
»Aber deinen Vater nimmst du doch auch mit, nicht?«
»Nein!« Sie stieß das Nein so heftig hervor, daß Asmus Mund und Augen aufriß. Eine ganze Weile stand er stumm und verlegen vor ihr, sie bald anschauend, bald in die Ferne blickend. Es ging ihr nicht gut, das fühlte er. Endlich griff er in die Hosentasche und sagte:
»Ich will dir was schenken«, und er drückte ihr einen großen Glasmarmel in die Hand, seinen vielbewunderten Glasmarmel, in dessen Innern man eine geflügelte Gestalt sah.
»Mädchen spielen ja gar nicht mit Marmeln,« sagte sie und lächelte dabei, und weil sie ein so ernstes Gesicht hatte, sah ihr Lächeln ganz unendlich schön aus.
»Das macht nichts, behalt ihn nur, behalt ihn nur!« rief er hastig mit der Hand abwinkend. Er trat zurück, damit sie ihm den Marmel nicht wiedergeben könne. »Danke«, sagte sie dann und steckte den Marmel in die Tasche.
Asmus wollte gerade fragen: »Kommst du immer hierher?« als ein großer, breitschulteriger und höchst wohlgenährter Mann, vom Wirte geleitet, aus der Schenke hervortrat. Er war ein »Stadtreisender« und trug seinen Warenkoffer in der Hand.
»Da sitzt sie nun wieder, die verrückte Deern«, rief er dem Wirt zu. »Sie will immer nich mit 'rein; das is ihr nich »fein« genug. Jää, ich hab 'ne ganz feine Tochter, die is übergeschnappt!« Er tippte dabei mit dem Finger an seine Stirn und lachte breit und ergiebig. Dann übergab er ihr den Koffer, der ihr ersichtlich schwer wurde, und ging davon mit der Miene eines Mannes, dem es gut geschmeckt hat. Als sie unter dem Tunnel waren, setzte das Mädchen den Koffer nieder und schaute sich nach Asmus um und nickte ihm zu. Asmus nickte wohl siebenmal in einer Sekunde zurück. Dann raffte das schlanke Kind seine Bürde hastig auf und verschwand um die Ecke.
Wo war die neunjährige Christiane, die die Sonntage der Fröhlichkeit hersagen konnte – wo war Pauline, die Balletteuse – wo war Mathilde und Fanny – wo war das heilige Kind von Mariannens Herrschaften – wo war selbst Fräulein Johanna, die ihm im »Kurzen Elend« immer seine Laterne angezündet und ihn dazu geküßt hatte? – Sie waren mit einem Male weit, weit zurückgeschwebt ins Schattenreich, und der ganze Asmus Semper war angefüllt von der dunklen Lichtgestalt der kleinen Königin. Ein weiches, sanftes Licht war über seine ganze Seele gekommen, und ein Stolz, als habe er eine Blume gefunden, die nur alle hundert Jahre ein Auserwählter findet. Am nächsten Tage ging er wieder nach der Wirtschaft; er wollte – er wußte nicht einmal ihren Namen! – er wollte dem braunen Mädchen sagen: »Wenn du nach Griechenland gehst, nimm mich mit!« aber sie kam nicht. Drei Wochen lang ging er jeden Tag, an dem er sich irgend freimachen konnte, nach dem Wirtshause; aber das Kind kam nicht wieder. Dann gab er es auf, aber nicht ohne ein blindes Vertrauen in die Zukunft, daß er ihr einmal wieder begegnen werde.
Mit einer fast erhabenen Gelassenheit und Heiterkeit ging er nun in die Schule und seinen täglichen Leiden entgegen. Mochten sie ihn nun verhöhnen und quälen – in seinem Innern war ein beständiges Lächeln; er hatte seine Freundschaft anderswo; er hatte etwas, was sie nicht erreichen konnten, woran sie nicht rühren konnten, wovon sie nichts ahnten; er war der Vertraute einer Königin, mit der er einst nach Griechenland ging.
Und bald sollten auch seine Schülerleiden einen drastischen Abschluß finden. Er turnte auf dem Schulhofe mit einigen neutralen Genossen an der schrägen Leiter, und als er gerade am Gerät hing und sich ziemlich hoch »hinaufgehangelt« hatte, kam Klaus Rampuhn daher und riß ihn an den Füßen herunter, daß er wie eine Keule mit dem Kopfe auf den Erdboden schlug und bewußtlos liegen blieb. Er erhob sich bald wieder, im ganzen Gesicht so blaß wie Kreide; dann mußte er erbrechen. Er klagte über Ohrensausen und mußte nach Hause gebracht werden.
Herrn Rösing ward es seltsam weichlich und schwül ums Herz. Er fand tief entrüstete Worte über die an dem kleinen Semper verübten Roheiten und warnte ernstlich vor Wiederholungen. Klaus Rampuhn blickte ihm dabei kalt ins Gesicht mit dem Ausdruck: Ich pfeif auf alles. Die übrigen Prätorianer fühlten sich in ihrer diesmaligen Unschuld unendlich wohl.
Asmus hatte seine Begleiter vor der Tür seines Hauses verabschiedet und zu seiner Mutter gesagt, ihm sei in der Schule unwohl geworden, er möchte zu Bett gehen. Besorgt fragte ihn Rebekka, wie denn das gekommen wäre; aber er erklärte achselzuckend, das wisse er nicht. Er konnte es nicht über sich gewinnen, seinen Eltern zu sagen, daß er in der Klasse so viele Feinde habe. Was sollten sie von ihm denken? Er konnt' es ja auch gar nicht beschreiben, wie diese Feindschaft war, woher sie kam, wie er sie fühlte und wie die andern sie fühlten – er wußt' es ja eigentlich selber nicht. Und er schwieg nach der Gewohnheit seines Vaters; er zerdrückte, zerrieb, zerknetete die in ihm wogenden Massen, bis alles wieder im Gleichgewichte lag. –
Uebrigens schlief er die nächsten Tage fast ununterbrochen, und nach fünf Tagen hatte er sich wieder zurechtgeschlafen. Erst Jahre nachher erfuhren die Eltern, wie ihr Sohn zu dieser Krankheit gekommen war und daß er eine leichte Gehirnerschütterung überstanden hatte. Die Ansichten über die Folgen dieser Erschütterung waren geteilt. Asmus selbst und seine Angehörigen waren der Meinung, daß sie ohne alle Folgen verlaufen sei; eine Tante aber sagte um die Zeit, als Asmus seine ersten Verse machte und sie achtlos in der Schublade herumliegen ließ: »Was ich dir sage, Rebekka, das hat er daher, wie er von der Leiter herabgestürzt ist.«