Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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IX. Kapitel.

Von einem Weihnachtsfeste und von einem traurigen Abschied.

Das hatte Asmus noch nicht erlebt. Er wollte aufschreien, mit seinem Vater laufen, bei ihm bleiben; aber er war starr; er konnte nichts tun und nichts sagen. Erst nach Stunden wagte er die Mutter anzureden:

»Kommt Vater bald wieder?«

»Ich weiß es nicht«, sagte die Mutter mit finsterem Gesicht.

»Kommt Vater überhaupt wieder?« fragte Asmus zitternd.

»Ja, ja, er kommt wieder!«

An diesem Tage gab es gar kein Mittagessen. Aber in der Dämmerung kam der Vater nach Hause. Asmus stürzte auf ihn zu und umklammerte sein Knie. Und Brot und Kaffee brachte Ludwig Semper mit! Arbeit hatte er nicht bekommen; aber ein befreundeter Cigarrenmacher hatte ihm einen Taler geliehen. Das war ein Glück! Und Glück über Glück: die Eltern sprachen wieder freundliche Worte miteinander!

Als sie beim Essen waren – und bei dem 18jährigen Leonhard und dem 16jährigen Johannes durfte man gewiß von »Essen« reden – da fuhr der Wolkenschieber herein. Er mußte mitessen und tat es gern; denn auch er zählte 18 Jahre. Es währte aber nur wenige Minuten, so rezitierte er die Zerstörung Trojas nach Schiller. Und als er nicht mehr konnte, legte Ludwig Semper den Kopf in die Hand und sprach:

»Infandum, regina, iubes renovare dolorem!« und er erzählte, wie der Dänenkönig Friedrich VII. einmal an einem sonnigen Morgen die Domschule zu Schleswig besuchte und wie Ludwig Semper vor dem König aus der Aeneis lesen und übersetzen mußte. Seine Augen leuchteten im Erinnerungsglanze, und der Abend war schön und sanft wie der Friede.

Aber der geborgte Taler schmolz schnell dahin; die Brüder verdienten wohl hier und da ein paar Schillinge; Ludwig Semper fand wohl noch hin und wieder einen, der ihm borgte; aber dauernde Arbeit fanden sie nicht, und eines Morgens kam der Bote vom Gericht mit der Klage des Bäckers. Asmus hörte von Pfändung reden, und dieses Wort machte ihm schwere Angst. Er hatte einmal in der »Gartenlaube« ein Bild gesehen: »Die Pfändung«. Gerichtsbeamte trugen die letzte Habe armer Leute hinaus; der Vater saß, dumpf vor sich hinbrütend, da, die Mutter weinte in die Schürze; die Kinder schauten dem Tun der fremden Männer mit starren Blicken zu. Das also würde nun auch bei ihnen geschehen. Ein Glück nur, dachte Asmus, daß bald Weihnachten ist, dann wird ja alles wieder anders. Dann brennt ja wieder der Tannenbaum, und Zuckersachen hängen daran, dann backt die Mutter wieder Apfelkuchen und mittags gibt es Beefsteak! Aber seltsam: Weihnachten kam immer näher, und Asmus merkte nichts von heimlichem Tuscheln und Kichern, nichts von einem stillen Leuchten in den Mienen. Die andern schienen gar nicht zu wissen, daß Weihnachten komme. Am Tage vor dem Feste faßte er sich endlich ein Herz und fragte seine Mutter: »Hat der Ruppert den Tannenbaum schon gebracht?«

»Ach Junge!« rief die Mutter fast unwirsch, »was du wohl meinst. Diesmal laß dir den Tannenbaum nur vergehen.«

Aber er glaubte ihr nicht. Das kannte er schon, das hatte sie früher auch gesagt. Freilich hatten sie es damals ganz anders gesagt, ganz anders . . .

Als er mit seinem Vater allein war, nahm er die Gelegenheit wahr. Er zwinkerte ihm zu und sagte: »Du, Mutter sagt, es gibt keinen Tannenbaum! Gibt es doch, nicht?«

Und Ludwig Semper sprang auf, strich dem Knaben hastig über den Kopf und sagte ebenso hastig: »Mal seh'n – mal seh'n!«

Und das Weihnachtsfest verlief auch diesmal nicht ohne Freude. Vater, Mutter und Johannes fanden gerade am 24. Dezember ein wenig Beschäftigung. Die übrigen saßen am Weihnachtsabend verlassen um einen ungedeckten Tisch. Leonhard trieb seine Lieblingsbeschäftigung: er zeichnete stolze Dreimastschiffe mit stramm gebauschten Segeln. Ein Tannenbaum war nicht aus dem Dunkel hervorgewachsen; aber auf dem Tische stand das große Schloß »El Escorial«. Das hatte Johannes freilich schon vor langer Zeit aus Modellierkarton und Gummi arabicum errichtet; heut aber hatte Alfred ein Lichtstümpfchen hineingesetzt, und alle Fenster des Schlosses strahlten in festlicher Beleuchtung von einem einzigen Talgstümpfchen. Asmus starrte so tief in das Licht, daß er endlich die Aermchen auf den Tisch legte und entschlief. So kam er sanft über den Weihnachtsabend hinüber.

Am anderen Tage konnte Frau Rebekka doch wenigstens eine kräftige Suppe kochen, und als der Duft des Fleisches und des Krautes weihevoll die Zimmer durchzog, da erschien Heinrich der Seefahrer – denn auch so wurde Heinrich Moldenhuber wegen seiner windgeschwellten Rockschöße von Ludwig Semper genannt – und brachte zwei alte Hefte einer illustrierten Zeitschrift, die er für einen Schilling an der Karre erstanden hatte, dem Asmus Semper zum Geschenk. Als dann gar noch von Mozarts »Don Juan« gesprochen wurde und Ludwig Semper mit seiner weichen Tenorstimme zu singen anhub:

»Tränen, vom Freunde getrocknet«

da fehlte wohl noch wenig an einem Weihnachtsfest. Es sollte aber noch viel schöner kommen.

Am zweiten Feiertage hüpfte ein kleiner dünner Mann mit einem lustig zwinkernden linken Auge herein und sagte mit einer Nasen und Schneiderstimme: »Guten Tag«. Auch er war ein Cigarrenmacher oder, wie es im plattdeutschen Zunftjargon hieß: ein »Piependreiher«, und wie allen »Pfeifendrehern« ging es ihm im allgemeinen schlecht und zu manchen Zeiten sehr schlecht. Aber wenn es ihm schlecht ging, machte er Witze, und wenn es besonders schlecht ging, machte er sogar gute Witze. Er hieß Fritz Dorn und hatte den Sinn seines Lebens in Verse gebracht, die er zu Zeiten rezitierte:

»Gott schuf in seinem Zorn
Den edlen Fritz von Dorn
Und sprach: Du sollst auf Erden
Ein Piependreiher werden!«

Eines Tages kam er zu Ludwig Semper hereingesprungen und rief: »Du, jetzt bin ich fein heraus! Mein Hauswirt ist Bäcker, jetzt nehm' ich Brot für die Miete!« und als er trotz dieses vorteilhaften Arrangements nach einiger Zeit, von einer Arbeitssuche heimkehrend, Weib und Kind und einen kleinen Rest seines Hausrats ausgesetzt und auf der Straße fand, da sagte er:

»Na? Wohnen wir jetzt hier?« und dann mit einem Blick nach dem Himmel: »'n bißchen hoch von Decke!«

Dieser Treffliche nun kam am zweiten Weihnachtstage und rief: »Du! Ich hab' mit Waldheim gesprochen! Er hat Arbeit für dich, so viel du willst!«

Wie Asmus das hörte, war sein erster Gedanke: »O wie schön! Nun kommt der Exekutor nicht!«

So wurde das Weihnachtsfest am letzten Ende noch ein ganz herrliches Weihnachtsfest.

Der edle Fritz »von« Dorn aber sprach nach einem nachdenklichen Schweigen: »Mensch, warum machst du eigentlich Cigarren? Das ist wohl für unser einen gut genug; aber wer so viel gelernt hat wie du –«

Damit hatte er Frau Rebekken an die Zunge gerührt. »Ja, Herr Dorn, das sagen Sie ihm nur! Der Mann ist so gelehrt: er kann Englisch und Französisch und Lateinisch und Griechisch und Hebräisch –«

»Na, na, na!« rief Ludwig Semper.

»Aber meinen Sie, daß ich den Mann dazu kriegen kann, mal was anderes zu versuchen? Wie oft habe ich zu ihm gesagt, wenn irgendwo 'ne Stelle frei war: Geh doch mal hin! Wissen Sie, was er mir zur Antwort gibt? Ach, warum soll ich da hingehen?«

Ja, warum sollte Ludwig Semper hingehen? Er trieb ja beim Cigarrenmachen in stummen Gedanken die herrlichsten Dinge! Wenn er heftig die Lippen bewegte oder sich auf die Unterlippe biß, wenn er die Augen gegen die Decke warf oder in jäher Bewegung ein Bein über das andere schlug, dann hielt er Predigten, die er gehalten hätte, wenn er Pastor gewesen wäre; er spielte den Faust, wie er ihn gespielt hätte, wenn er Schauspieler geworden wäre; er dirigierte die Leonorenouvertüre; er hielt im Parlament eine flammende Rede gegen die Unterdrücker oder er sprach als Arzt zu einem hoffnungslosen Kranken: Stehe auf und wandle! Wer wußte, ob er mit einer anderen Beschäftigung all diese edlen Berufe hätte vereinigen können! Er hatte sich wohl zwei- oder gar dreimal um eine Stellung bemüht; er hatte keinen Erfolg gehabt und hatte es aufgegeben. Und jetzt? Warum sollte er sich um etwas bemühen? Er hatte ja jetzt wieder Arbeit! Er las noch am selben Weihnachtsabend den Seinen mit heller Munterkeit »Wallensteins Lager« vor: als er die Stelle las:

»Es ist ein elend und erbärmlich Leben –
Möcht's doch nicht für ein andres geben!« –

da warf er den weißen, fünfundvierzigjährigen Kopf in Begeisterung empor, und Frau Rebekka hörte ihm mit andächtigem Stolze zu.

Aber es war auch hohe Zeit, daß Ludwig Semper endlich wieder Arbeit fand. Da Reinhold allmählich immer gebildeter wurde und das Schreien immer mehr aufgab, so erschien bald ein anderer, neuer Schreier mit noch ganz jungen, unverbrauchten Kräften. Er erhielt den Namen Adalbert, d. h. der durch Erbgut Glänzende, und war nun vorläufig der Jüngste.

Dem ältesten Sempersohne war die Ruhe nicht gut bekommen. Er hatte entdeckt, daß das Spazierengehen in freier frischer Luft erquicklicher ist als das Cigarrenmachen. Er entschloß sich jeden Morgen später, sich ans Cigarrenbrett zu setzen, und bald entschloß er sich ganze Montage und Dienstage überhaupt nicht dazu. Die Mutter machte ihm Vorstellungen genug, vielleicht sogar zu viel, jedenfalls verschlugen sie nichts.

Ludwig Semper sagte nichts. Als aber Frau Rebekka nun mit gutem Rechte ihrem Gatten zusetzte, da entschloß sich dieser zu einer Tat. Er nahm Leonhards einzigen Rock, verschloß ihn im Schrank und steckte den Schlüssel zu sich. Nun sollte Leonhard nur spazieren gehen. Und Leonhard tat es. Er warf heimlich den Rock seines Bruders Johannes zum Fenster hinaus, ging offen und ehrlich in Hemdärmeln hinaus und hinunter, zog unten den Rock an und wanderte fürbaß. Das war nun auch dem Vater zu viel. Als der leichte Sohn wieder ans Haus kam, gab es eine Scene, an deren Schlusse Ludwig Semper sagte, wenn er nicht arbeiten wolle, solle er machen, daß er zum Hause hinaus komme. Leonhard schwieg; aber am Abend ging er fort, und in der Nacht kam er nicht heim. Auch den folgenden Tag blieb er fort, auch die folgende Nacht. Die Mutter weinte, der Vater bewegte bei der Arbeit ununterbrochen die Lippen, und Asmus wagte nicht zu singen und nicht zu spielen. Wenn er die Mutter weinen sah, schlug sein Herz mit einem tiefen, dunklen Klange, wie wenn man zupfend die tiefste Saite einer Viola anschlägt. Endlich, am vierten Tage, erschien der Wolkenschieber und brachte Nachricht. Leonhard hatte bei einem andern Cigarrenmacher Arbeit genommen. Moldenhuber hatte ihn abends in einer Gastwirtschaft gesehen, war hineingegangen und hatte ihn begrüßt. Er war sehr vergnügt gewesen, hatte Billard gespielt und mit seinen Witzen bei den Anwesenden großen Beifall gefunden. Er war ein witziger Bursche, hatte eine hübsche Stimme und konnte mit der lebemännischen Eleganz des Herzogs von Mantua singen:

»Ha, wie so trügerisch
Sind Weiberherzen . . .«

Alles sei entzückt von ihm gewesen, berichtete der Seefahrer; es sei in einemfort gegangen: Semper hier und Semper da.

»Das war ja schon immer so: alle Leute mochten ihn leiden«, sagte Frau Rebekka, und sie lächelte fast glücklich dazu.

Aber ein Platz im Hause war leer und blieb leer. Und man mochte reden und denken, was man wollte: auf dem leeren Platz saß ein Gespenst. Leonhard Semper hatte seine traurige Laufbahn begonnen.


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