Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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XVII. Kapitel.

Ein unglaubliches Kapitel; denn Ludwig Semper wird tatkräftig.

Der kleine Asmus sollte noch ein viel deutlicheres Gefühl von der Größe der Zeit bekommen. Eines Morgens ging er seinem Vater, der zum Fleischholen gegangen war, entgegen; es war ein wunderbar freundlicher Morgen. Da kam sein Vater mit seltsam großen Schritten daher, und als er wohl noch zwanzig Schritte entfernt war, warf er die Arme in die Luft und rief:

»Der Kaiser Napoleon ist gefangen und hunderttausend Franzosen sind gefangen, die Deutschen haben wieder einen großen Sieg errungen, der Krieg ist aus!«

Und heute war der Vater, wie er noch nie gewesen war. Er sprach ja sonst nur wenig, und er sprach mit Asmus nur, was dieser verstand; aber heute sprach er ununterbrochen; er erzählte seinem Söhnchen alles, was er beim Schlächter in der Zeitung gelesen hatte, Dinge, die höchstens Erwachsene begreifen konnten und auch die nur mit Auswahl; aber Ludwig Semper hatte doch keinen Erwachsenen bei der Hand, dem er sich mitteilen konnte, und da mußte eben sein Söhnchen so lange erwachsen sein. Und Asmus fand sich nach anfänglichem Erstaunen bald in seine Rolle; er erfühlte die Situation; er begriff seine Pflicht in dieser großen Stunde und nickte mit Würde und sagte mit vielem Verstande »hm!« Als sie aber an den Eingang des Holstenlochs gekommen waren, da hielt es ihn selbst an der Seite seines Vaters nicht mehr; er mußte vorausstürmen, die Tür aufreißen und rufen:

»Hunderttausend Franzosen sind gefangen und – und der Krieg ist gefangen und – Napoleon ist aus!«

Und in dieser wunderreichen Zeit geschah nun etwas, was beinahe noch unerhörter war als das Wunder bei Sedan. Ludwig Semper faßte einen Entschluß und führte ihn aus. Ob es die große Erregung der Zeit war, die seinen Willen so mächtig in Bewegung setzte, oder ob es einer jener seltenen Augenblicke war, in denen Arme von oben kommen und uns ohne unser Zutun über unsere eigene Kraft hinaufheben – wer kann es wissen? Wenn der Musketier Dubenfleth der Länge nach übers Turnpferd springen sollte, dann brachte er es immer nur so weit, daß er heftig mit dem Leib gegen das Hinterteil des Pferdes stieß, obwohl er sich anstrengte, daß ihm sämtliche Kopfadern schwollen. Und einmal, da nahm Dubenfleth wieder einen Anlauf, schlug beide Hände auf den Rücken des Pferdes und setzte elegant hinüber. Die ganze versammelte Mannschaft war außer sich, und der Leutnant rief: »Dubenfleth! Das waren Sie doch nicht? Noch mal, Dubenfleth!« Dubenfleth lief nochmals und nochmals und nochmals und stieß jedesmal mit dem Leib gegen des Pferdes Hinterteil, und der Leutnant rief: »Ich sag's ja, Dubenfleth, das sind Sie gar nicht gewesen!« Dubenfleth kam nie wieder hinüber.

So nahm Ludwig Semper einen Anlauf und beschloß, seinen Asmus in die Schule zu schicken, und er beschloß sogar noch ein Zweites, nämlich ihn zu jenem Zwecke taufen zu lassen. Ludwig Semper war in allen Dingen Freidenker; aber er machte öffentlich keinen Gebrauch davon, und seine Weltanschauung war nicht der Grund, weshalb er seinen Sohn bisher nicht hatte taufen lassen. Seine Religion bestand in dem Wunsche, ein guter Mensch zu sein, der andere gewähren ließ und den andere gewähren lassen, und in einer tiefen Abneigung gegen Flüche und Gotteslästerungen, die er durchaus nicht hören mochte. Aber seine Religion war auch nicht der Grund, weshalb er seinen Sohn taufen ließ. Taufen kostete Geld und einen Entschluß, und bisher war vielleicht niemals beides zugleich vorhanden gewesen, darum war Asmus ein Heide geblieben.

Nun glaubte der Vater seinen Jungen nicht ungetauft in die Schule schicken zu sollen, nun war in einem großen Augenblick Geld und Entschluß zugleich gekommen, und darum wurde Asmus Semper getauft.

Der Geistliche schien ein ganz ähnlicher Herr wie Ludwig Semper zu sein; es fiel ihm nicht bei, dem allgemein hochgeachteten Manne Vorhaltungen wegen unchristlicher Unterlassung zu machen. Der Fall einer so späten Taufe mochte auch in dem Dorfe, in dem es viele unkirchliche Ehen gab, nicht selten sein. Dem Knaben gefiel der freundliche Greis mit dem weißen Haarkranz ums Kinn sehr gut, und seine gütigen Reden machten auf ihn einen wohltuenden Eindruck, wenn er auch vom Inhalte wenig verstand und eigentlich so wenig wie ein Säugling begriff, warum er getauft wurde. Der Priester fragte die Zeugen etwas, worauf sie mit »Ja« antworteten, netzte dann das Haar des Knaben dreimal mit Wasser, und als Asmus glaubte, das seltsame und wunderbare Erlebnis werde nun bald kommen, da war die Zeremonie schon zu Ende. Immerhin kam Asmus sich an diesem Tage interessant vor, und er versäumte nicht, den Spielkameraden, die er traf, zu erzählen, daß er heute getauft worden sei.

Und das Unglaubliche geschah, Ludwig Semper machte auch seinen zweiten Entschluß zur Tat. An einem schönen Septembertage sagte er in einem ganz merkwürdigen Tone zu Asmus: »Morgen bring' ich dich in die Schule.«

Um 8 Uhr morgens sollte der Gang angetreten werden; um 7 Uhr stellte sich Asmus in voller Bereitschaft an die Tür, die Schiefertafel in der Linken und den Griffel in der Rechten wie Schild und Schwert. Eltern und Geschwister lachten ihn aus; er aber ließ sie lachen; er wollte den rechten Augenblick zum Eintritt ins neue Land nicht versäumen. Es mochte ein Viertel nach sieben sein, als er Tafel und Griffel in die rechte Hand nahm und die Linke auf den Türdrücker legte. Man mußte bereit sein. Er hatte keinen Hunger auf Brot und Milch; er hatte nur Hunger aufs Lernen. Ludwig Semper konnt' es endlich nicht mehr ansehen und machte sich früher auf den Weg als nötig. Er hatte aber kaum Miene gemacht, den Rock anzuziehen, als sein Sohn schon zur Tür hinausschoß und ohne Lebewohl davonrannte. Aber Ludwig Semper hatte einen gemessenen, würdevollen Gang; der »unanständige Gang« des Gerbers Kleon lag ganz außer seiner Natur, und der geflügelte Schritt vom 2. September wäre nur durch ein zweites Sedan zu erreichen gewesen. Asmus war immer wieder voraus und sah sich hundertmal um; sein Vater ging entsetzlich langsam. Aber endlich standen sie doch vor der Schule mit den hohen gotischen Fenstern, und nun klopfte dem Kleinen plötzlich das Herz. Er sah im Geiste den Lehrer, auf seinem Pulte sitzend, mit dem Rohrstock in der Rechten, wie ein gemalter Kaiser mit dem Szepter, und den zornigen, strengen Blick auf den neuen Ankömmling richtend. Unzählige Kinder strömten zur Schule hinein, lachend, lärmend, pfeifend und sich balgend. Es waren große Kerle darunter von 14, 15  Jahren, und Asmus dachte: Was müssen die schon alles gelernt haben! Die müssen schon ganz furchtbar klug sein!

Und dann standen sie vor dem Lehrer. Aber das war ein sehr freundlicher Mann mit einem hübschen braunen Vollbart, und er hieß Schulz. Er gab Ludwig Semper die Hand und sagte: »Chuten Tach, Herr Szemper!« und nahm dann die runden Backen des Asmus in die Hand und sagte: »Chuten Tach, mein Junge.«

»Na, kann er denn schon was?« fragte Herr Schulz.

»Ja, lesen kann er«, sagte der Vater.

»Na, das wollen wir chleich mal ßeh'n!« Und Herr Schulz schlug ein Buch auf. »Denn lies mal, mein Junge.«

Asmus las, als war's Kinderspiel:

»Der Spiegel.

Mathilde war sehr jähzornig. Ihre Mutter hatte sie schon oft . . .«

»Ist chut, mein Szohn, ich ßeh schon«, sagte der Lehrer. Dann sollte Asmus rechnen. Aber das ging nur soso. Ans Rechnen hatte Ludwig Semper nie gedacht. Und Schreiben? Ja, schreiben konnte er gar nicht.

»Na, dann ßetz dich nur da hin«, sagte Herr Schulz. Asmus bekam einen Platz ganz hinten an der Wand; Ludwig nickte ihm noch einmal zu, gab dem Lehrer die Hand und ging fort.


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