Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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XIV. Kapitel.

Von einem schweren Anfang und einem leichten, von Faulheit und Sonnenschein und von stillen Gesellschaften.

Bald nach Weihnachten gelang es Asmussen, seinem Vater wenigstens etwas Bildung abzuringen. Er wollte schreiben lernen, und Ludwig Semper verstand sich wirklich dazu, seinen Sohn zu unterrichten! Ein Schreibheft, Federn und Tinte wurden herbeigeschafft. Asmus zitterte vor freudiger Erregung. Aber auch sein Vater hatte nicht auf den Diesterweg studiert, und weil das Alphabet mit A anfängt, so eröffnete Ludwig den Schreibunterricht mit A, und noch dazu mit dem großen. Wenn nun schon aller Anfang schwer ist, so ist es der des Alphabets noch besonders, und das große A ist ein ganz hinterlistiges Institut! Ludwig Semper schrieb obendrein ein Schleswiger A aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts, das fing mit einer Art von Schneckenhaus an, in dem sich Augen und Fingerchen des kleinen Schülers wie in einem Labyrinth verirrten. Dabei empfand er es als eine besondere Niedertracht von der Stahlfeder, daß sie sich immer nur nach einer Seite bog und nicht nach allen Seiten wie ein Pinsel, und die Tinte kroch heimtückisch immer höher an seinen Fingern hinauf. Die ersten Reihen nahmen sich aus wie eine stattliche Menagerie von seltsamen Ungeheuern. Asmus forderte schüchtern das Urteil seines Lehrers; der schüttelte langsam und andauernd den Kopf und schrieb seinem Sohne nochmals ein schönes großes A vor. Aber daran, daß Ludwig Semper schreiben könne, war ja gar nicht zu zweifeln; die Sache war die, daß sein Sohn es darum noch immer nicht konnte. Asmus packte jetzt den Federhalter mit inbrünstiger Kraft, als wäre er ein eherner Griffel und das Schreibheft von Granit; die Feder fauchte und schrie und spuckte vor Wut nach allen Seiten schwarze Galle, und schließlich dachte sie: »So, nun mach' ich gar nichts mehr!«, sagte mit so einem recht impertinenten Ton »knacks!« und brach ab. Asmus erschrak nicht schlecht; denn so eine Feder kostete zwei Pfennige. Er nahm ganz heimlich eine neue, kniff die Feder mit ängstlicher Gewalt, daß sie sanft übers Papier fahre, und brachte denn auch endlich etwas zustande, was wie ein A dreinschaute. Alfred freilich machte sich lustig und rief:

»Haken un Staken
Kann ick wull maken,
Uhlen und Krei'n
Kann ick wull klei'n«. –

aber Ludwig Semper sagte lächelnd: »Na!« und ging zum großen B über.

Das kam nicht leicht vor, daß Ludwig Semper, wenn er A gesagt hatte, auch noch B sagte; so viel vermochte nur sein Sohn Asmus über ihn, und C sagte er auch in diesem Falle nicht. Er hatte auch gar zu viel andere Sorgen. Er mußte jetzt jeden Sonnabend seine Cigarren anderthalb Stunden weit tragen, und wenn er mit etwas Fleisch und Mehl und Kaffee und einem Bilderbogen für Asmus nach Hause kam, dann hatte er nicht viel Bares mehr zu schleppen. Gleichwohl machte er dann ein heiteres Gesicht; er sang und las abends im »Faust«, weil er für die nächsten drei Tage ohne Sorgen war; aber am Dienstag oder Mittwoch ging seine heitere, hoffnungshelle Miene allmählich in ein schwermütiges Sorgengesicht über. Und eines Tages fiel das schicksalsschwere Wort: »Asmus muß mit heran.« Die Mutter hatte schon oft gescholten: Warum eigentlich der dicke, gesunde Junge nicht auch mitarbeiten solle; die anderen Kinder hätten viel früher daranmüssen. Sie wisse gar nicht, was ihr Mann in dem Bengel sehe; er tue gerade, als wär' er 'n goldner Apfel.

Und Ludwig setzte endlich auch seinen Asmus an den Tabakstisch. Man konnte ihm ansehen, wie bitter schwer ihm das wurde. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er lieber noch so viel mehr gearbeitet, als die Hülfe des Kleinen ausmachte; aber es ging nicht. Der Graf Nevers und Wetter vom Strahl, Musikmacher und Spielkamerad des Frühlings, er mußte heran. Und natürlich ging er mit Vergnügen an die neue Unterhaltung. Er mußte die untere Hülle der Cigarre zurichten, d. h. er mußte die Mittelrippe der Tabakblätter in der Mitte mit dem Fingernagel durchschneiden, dann die untere Hälfte der Rippe herausziehen und die so präparierten Blätter sorgfältig aufeinanderbreiten. Das war in drei Minuten gelernt, und Asmus war nicht wenig stolz darauf, arbeiten zu dürfen, mit den Großen zusammen am Tisch sitzen zu dürfen und damit endgültig in die Reihe der Erwachsenen und Vernünftigen aufgenommen zu sein. Seltsam: hier war der Anfang so leicht, so kinderleicht, und der Fortgang – so schwer, ach, so schwer! Ein langer und bitterer Kampf hatte begonnen.

Das Tabakzurichten war sicherlich ein hübsches Vergnügen, wenn man es nicht übertrieb, wenn man vielleicht sieben Rippen herauszog, aber nicht siebenhundert, und »Arbeiter« sein war erst recht etwas Schönes, aber für einen Tag, doch nicht für alle Tage! Das Schlimmste bei der ganzen Sache war, daß die Stube Fenster hatte. Durch diese Fenster sah man dickbeschneite Büsche, und die Büsche standen so stillglücklich da in ihrem lieblichen Schmuck; sie rührten kein Zweiglein und keine Nadel, damit sie nur ja nichts von der kostbaren Last verlören, und Asmussens Augen schauten stille zu, wie sie stille standen, und seine Hände standen gerade so still wie die Büsche. Dann fuhr er plötzlich zusammen, weil die Mutter gerufen hatte: »Junge, rühr' dich!« und entrippte wieder mehrere Blätter, sechs, sieben oder gar acht. Dann sah er wieder durchs Fenster, über die Wipfel der Büsche hinweg, nach einer Stelle im leeren Raum, wo die Buben von Oldensund Schlittschuh liefen oder auf kleinen Schlitten, die sie Kreeken nannten, einen Abhang mit Geschrei hinuntersausten, daß ihnen der Dampf aus Mund und Nase stieg. Ach, er hatte keine Schlittschuhe; die waren märchenhaft teuer, er hatte nicht einmal eine Kreeke, die man doch aus drei Brettern zusammenschlagen konnte – wenn man Bretter hatte. Und er schaute dann so lange durchs Fenster nach Schlittschuhen aus, bis sein Vater sagte: »Geh' nur zu!« Und wenn Asmus noch so tief versunken war, diese Worte hörte er sofort, und wenn er sie gehört hatte, war er auch schon draußen. Ja, als er erkannt hatte, daß der Mensch durch Faulheit zur Freiheit gelange, da war er nichtswürdig genug, den Prozeß noch durch Trägheit zu beschleunigen.

Durch einförmige Handarbeit konnte man Asmus Sempern überhaupt die Stimmung gründlich verderben. Stiefel wichsen, Kartoffeln schälen, Messer und Gabeln putzen: gegen dergleichen hatte er eine angeborene Aversion. Nur beim Erbsenpaalen, Heidelbeerenauslesen, Abstreifen der Johannisbeeren und ähnlichen Dingen machte er eine Ausnahme, wenn er sie ohne kränkende Beaufsichtigung ausführen konnte. Wenn ihn nun aber gar noch jemand beim Messerputzen reizte, so konnte er schrecklich werden. Als Alfred es sich in solch einer kritischen Stunde einfallen ließ, ihn andauernd zu foppen, da stieg ihm nach der Theorie seiner Mutter das Blut ohne weiteres in den Kopf, und er schleuderte die Gabel, die er in der Hand hatte, nach seinem Bruder. Sie sollte ihn natürlich mit dem Stiele treffen; die Gabel verstand es aber anders und blieb mit den Zinken im Oberarm des Gegners hängen. Auf diese Zwangsimpfung antwortete Alfred, indem er einen eisernen Marmel nach seinem Bruder warf und ihm dadurch eine ansehnliche Schwellung an der Stirn beibrachte. Aber am Abend desselben Tages spielten sie schon wieder »Schwarzer Peter« miteinander.

Die wahre Natur des Tabakzurichtens sollte Asmus freilich erst erkennen, als der Sonnenstrom wieder frei wurde aus Wintersbanden und Tag für Tag am kleinen Fenster der Arbeitsstube vorbeirauschte. Sonnenschein, Frühlingssonnenschein! Dem Reichen ist er Vergoldung seines Goldes, dem Armen ist er all sein Gold; dem Glücklichen ist er Verklärung seines Glückes, dem Glücklosen ist er Glück. Die Reichen und die Glücklichen wissen eigentlich nicht, was der Sonnenschein ist; sie wissen nicht, daß er Nahrung, Kleidung und Wohnung ist, wenn er auch dem Hungernden keine Krume Brots gibt, daß er Freundschaft und Liebe ist. Der Sonnenschein legt sich warm um Nacken und Wange des Lebensmüden und spricht zu ihm: »Du bist nicht vergessen: Der Weltgeist kennt auch dich!«

»Sonnenschein, verschwiegener Erbarmer,
Großer Weltumarmer!
Du, ja du kamst mir zurück,
Sonnenschein, du letztes Menschenglück!«

hat ein Dichter gesungen, und das ist wahr: er ist des Aermsten und Verlassensten, dem das Leben nichts mehr gelassen hat, letztes, unverlierbares Glück, er schmachte denn im Kerker. Selbst vor dem Tode sind nicht alle Menschen gleich; aber vor dem Sonnenschein sind sie's. Darum ist Sonnenschein das höchste Fest der Armen.

Hatte der kleine Cigarrenmachergehülfe im Winter so still gesessen wie die beschneiten Büsche, so zappelte und zitterte er jetzt wie ein Blatt im Frühlingswinde, wie ein Sonnenstrahl im fließenden Wasser, und noch öfter als damals sagte Ludwig Semper mit einem Seufzer: »Geh nur zu! Geh nur zu!« Ganz leise schämte sich Asmus, seinen Vater so im Stich zu lassen; aber Frühling und Freiheit waren stärker als die Scham. Er sprang dieselben Wege entlang, auf denen er sich im Winter verirrt hatte; er stand wieder an dem unergründlichen Teiche und vor der verlassenen Färberei; aber nun bangte ihm gar nicht mehr; im Frühling und Sommer ist die Welt eine einzige helle Kammer. Und er schaute wieder Wiesen und Feld mit dem vertrauten Gefühl, das ihm von frühester Kindheit eigen war. Kein Fleckchen der Welt sah ihm aus wie das andere, jedes hatte sein eigenes Licht und seinen eigenen Klang. Er brauchte nur den Kopf ein klein wenig zu wenden, nur einen Schritt vorwärts zu gehen, so sah er eine neue Welt. Er sah Götter an den Wegen und Menschen am Himmel; in Wolken und Bäumen sah er Lieder und Geschichten. Hier sah er Josef und seine Brüder weiden, dort Aschenbrödel unterm Baume stehen; am fernen Horizont sah er aus vergangenen Jahren Herrn Schnede mit seinem geruhsamen Esel vorüberziehen, und jetzt stand er still und fühlte, wie Taminos Flötenspiel ihm lieblich das Herz umdrang. Er ging oft viertelstundenlang leise und behutsam dahin wie auf Socken, als fürchtete er, sich und die Welt zu erwecken, als fürchte er den Wolf und den Fuchs zu verjagen, die dort in eifriger Unterhaltung über die Pfannkuchen der Bäuerin den Feldrain entlang trabten.


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