Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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XXVI. Kapitel.

Alte Lieder wecken neues Glück: die Semperischen werden üppig, und der Seefahrer läuft wieder in den Hafen.

Asmussens Sturz von der Leiter war den Strelitzen doch in die Glieder gefahren; er hatte von nun an Ruhe vor ihnen. Nur Klaus Rampuhn, der geborene Anti-Asmus, zeigte schon nach vierzehn Tagen Neigung, wieder mit ihm anzubinden. Er streckte den Fuß vor, als Asmus vorüberlief, und dieser stolperte. Aber im selben Augenblicke erscholl das Geräusch von einer enormen Ohrfeige. Als Asmus aufblickte, stand der Sohn des Ewigkeitstischlers vor Klaus Rampuhn und sagte ruhig: »Wenn du dich jetzt noch einmal mausig machst, hast du blaue Augen.« Und dann sagte er zu Asmus: »Wenn er dich nicht in Ruhe läßt, sag' mir nur Bescheid.«

Klaus Rampuhn war vollständig verblüfft. Der Tischlerssohn schlug und raufte sonst nie; darum kam dieser Eingriff gänzlich überraschend. Er hatte gefunden, was den Rampuhnen imponiert, und von nun an wohnte der Tischlerssohn in Asmussens Herzen gleich hinter den Eltern.

Es währte nicht lange, so zogen selbst die Strelitzen den Verfemten zu ihren Spielen heran, und sie bemerkten mit Verwunderung, daß er ein munterer, lustiger Kamerad war und keinem von ihnen etwas nachtrug. Es war ein ganz anderer Mensch, als der, den sie bis dahin gekannt hatten. Sie kamen dahinter, daß er nur dann ein steifes Genick habe, wenn ihm Unrecht und Feindschaft widerfuhr, und von da ab hatte er bei ihnen herrliche Tage. Zwar nannten sie ihn auch fernerhin »Trudel«; aber wie sie es jetzt aussprachen, macht' es ihm Freude. Als sie in der Stunde vom ersten Triumvirat gehört hatten, spielten sie in der nächsten Pause Triumvirat. »Von den dreien«, hatte der Lehrer gesagt, »war Crassus der Reichste, Pompejus der Angesehenste und Cäsar der Klügste. Wer hat wohl zuletzt die Oberhand behalten?« »Der Reichste« hatten einige geraten; aber der Tischlerssohn hatte richtig geantwortet: »Der Klügste«. Der Tischlerssohn wurde Pompejus; der Sohn eines reichen Hausbesitzers Crassus, »und Trudel ist »Cäsar«, hatte der Tischler »Pompejus« gesagt, und die andern hatten zugestimmt, obwohl Klaus Rampuhn entschieden widersprach.

Auch daheim war sonnige Zeit. Der fleißige Johannes hatte es von der Gitarre zum Klavier gebracht. Dreißig Mark hatte er sich nach und nach aufgespart, und Ludwig Semper hatte nach vielen, vielen Jahren einen alten Bekannten getroffen, der ihm erzählte, daß er Cigarren mache, mit Klavieren handle und auf Wunsch auch den dazu nötigen Klavierunterricht erteile. Wenn das nicht eine Fügung des Himmels war –! Der alte Bekannte besorgte aus »Freundschaft« ein Klavier für dreißig Mark und verdiente vortrefflich dabei. Es war ein tafelförmiges von 5½ Oktaven und erinnerte in der Klangfarbe auffallend an das Organ des Cigarrenmachers Fritz »von« Dorn, der mit Tenorstimme durch die Nase sprach. Der alte Bekannte hatte sich auch erboten, dem Käufer für 7½ Schillinge die Stunde Unterricht zu erteilen; allein, als er eine Stunde gegeben und für mehrere Stunden Vorschuß empfangen hatte, kam er nicht wieder. Das war die erste Enttäuschung. Der eifrige Johannes wandte nun ein übriges auf und kaufte sich eine alte Klavierschule. In jeder Pause, die ihm die Arbeit gönnte, an jedem Abend, wenn er müde vom Cigarrenbrett aufstand, setzte er sich frisch und feurig an das altersschwache Instrument und machte Fingerübungen und spielte Tonleitern. Gar zu oft mußte er das an jähem Wechsel der Stimmung leidende Möbel ruhen lassen, bis der Stimmer die sinkenden Lebensgeister wieder hinaufgeschroben hatte, und der Stimmer erklärte obendrein, mit dem alten Kasten sei Johannes hineingelegt worden, der könne unmöglich noch Stimmung halten; er könne ihm aber ein »fast neues« Klavier für sechzig Mark überlassen. An sechzig Mark konnte aber Johannes nicht denken.

Und die Gerechtigkeit erheischt auch, zu sagen, daß aus dem wurmstichigen Dreißig-Mark-Kasten im Laufe der Tage und Monde mindestens für dreißigtausend Mark Freuden hervorquollen. Man hatte Musik im Hause, eigene Musik; an jedem Abend, und wann man wollte, konnte man selbst Musik machen!

Und es kam die Zeit, da unter den Fingern des Jünglings der alte Kasten aus seinen Jugendtagen das Lied sang:

»An Alexis send' ich dich,
Er wird, Rose, dich nun pflegen.
Leuchte freundlich ihm entgegen,
Daß ihm ist, als säh' er mich!«

Er sang es wehmütig und leise; denn er hatt' es vielleicht in seinen jungen, kraftvollen Tagen mit klingender Leidenschaft gesungen.

Und an einem Sonntagnachmittag, da sang er:

»Ob ich dich liebe, frage die Sterne,
Denen ich oft meine Leiden vertraut.
Ob ich dich liebe, frage die Rose,
Die ich dir sende, von Tränen betaut.«

und Ludwig und Rebekka Semper kamen dem Instrumente immer näher; denn – o wunderbar – mit dem alten Spinett war ihre ganze Kindheit und Jugend wieder ins Haus gekommen! Und bald spielte Johannes ein Lied – Rebekka konnte gar nicht anders, sie mußt' es mitsingen:

»Verblühn die Rosen deiner Wangen,
Die Lilien der reinen Brust,
Denk' an den Wechsel aller Dinge!
Erlosch einst meines Daseins Spur,
Ergrautes Mütterchen, dann singe
Die Lieder deines Freundes nur.«

Und dann sang Ludwig Semper mit seiner ritterlichen Begeisterung für die Frauen:

»Den Schönen Heil!
Den Schönen Heil: Beim frohen Becherklange
Sei ihrem Preis das beste Lied geweiht!«

Und Rebekka sang:

»Fahr' mich hinüber, junger Schiffer,
Nach dem Rialto fahre mich!«

Und Ludwig Semper sang:

»Wenn dieser Siegesmarsch in das Ohr mir schallt,
Kaum halt' ich da die Träne mir zurück mit Gewalt –«

Und dann sprach Asmus wohl: »Mutter, sing' mal wieder »Nach Sevilla, nach Sevilla«, und Johannes muß dazu spielen«, und Rebekka sang und Johannes spielte, und Asmus dachte daran, wie seine Mutter eines wolkenlosen Sonntags in ihrer munteren Weise durch Kammer und Küche hin- und hergelaufen war und dieses Lied gesungen hatte, und noch immer war ihm »Sevilla« ein freier Platz mit Häusern, auf den eine unendlich goldene Sonne und ein unendlich helles, unendlich stummes Feiertagsglück herabschien.

Zuletzt aber bekam die Sempersche Hausmusik einen höheren Schwung. Man hatte Bekanntschaft gemacht mit einer benachbarten Familie, und eine Tochter dieser Familie, eine Lehrerin, kam zuweilen herüber und spielte »Das Gebet einer Jungfrau« und die »Klosterglocken«. Dann ging man auch zu den Nachbarn hinüber, und dort war die Mutter der Lehrerin; die aber spielte Beethoven und Bach. Und wenn die vergrämte Frau, die nie das Haus verließ, am Klavier saß, dann saß daneben ihr Gatte und strickte Netze. Das war der Herr von Zäffingen, der einmal ein großes Gut besessen und alles, alles »verbraucht« hatte. Er strickte Netze, die ihm die Leute mehr aus Mitleid als des Bedarfs wegen abkauften; aber seine Frau verdiente mehr mit ihren Stickereien, und Herr von Zäffingen durfte daheim nur reden, wenn ihm das Wort erteilt wurde. So hielt er sich denn schadlos, wenn er bei den Semperischen auf Besuch war und mit Ludwig Semper von Wilhelm Kunst und von Henriette Sontag und von den alten Zeiten plauderte, wo alles besser, schöner und größer gewesen war, nicht nur die Rittergüter, sondern sogar die Schneeflocken. »Ich kann Ihnen saaagen, Herr Semper, ich habe Schneefälle erlebt – ich weiß noch, ich war einmal auf der Hasenjagd mit meinem alten prächtigen »Beppo« – hier schienen seine Augen zu schwimmen – »da schneite es doch – nun, was soll ich gleich saaagen – Schneeflocken wie diese Untertasse so groß!« Und Ludwig Semper hatte seine Freude daran, wie diese Schneeflocken mit der Zeit wuchsen. Anfangs waren sie so groß gewesen wie ein Achtschillingstück, dann wie Hühnereier, jetzt waren sie wie Untertassen. Er hoffte sie durch Geduld und Interesse noch auf die Größe von Wagenrädern zu bringen. Erst wenn Herr von Zäffingen gegangen war, sah man Ludwig Semper in sich hineinlachen, daß seine Schultern heftig auf und abgingen. Asmus aber saß mit stillem Behagen dabei, wenn Herr von Zäffingen erzählte, und seltsam – er mußte dabei immer an die Zeit denken, da er im »Düstern langen Balken« neben dem krummbeinigen Zwerge mit den knallroten Rundbacken gesessen und die Geschichten von jenem Manne gelesen hatte, der einem Hirsch einen Kirschkern in den Kopf schoß und ihn nach Jahren mit einem prächtigen Kirschbaum zwischen den Hörnern wiedererblickte.

Ja, so gut ging es den Semperischen um diese Zeit, daß sie sogar Gesellschaften gaben und die Familie von Zäffingen dazu einluden, Gesellschaften mit belegten Butterbröten und Punsch und – um den Leichtsinn auf die Spitze zu treiben – mit Apfelsinen zum Nachtisch. So konnte man denn auch dem Weihnachtsfeste mit froh erregten Sinnen entgegensehen. Johannes hatte mit geheimnisvollem Blick und Wesen einen Schatz gehäuft und ihn in einer prachtvollen Stehlampe angelegt, einer Lampe mit geblümter Milchglaskuppel, die die Form einer Tulpe hatte, und mit einem Fuße von schwarzem Marmor. Er hatte seit längerem das Amt, den Tannenbaum zu schmücken und anzuzünden, und als die Tür aufging, brannte neben dem Christbaum die neue Wunderlampe! Und allen Leuten, die je ins Haus kamen und die Lampe sahen, erzählte Rebekka Semper: »Die hat mir mein Sohn Johannes geschenkt. Der Fuß ist von schwarzem Marmor.« Es war dieselbe Lampe, die noch das Stübchen der achtzigjährigen Greisin erhellte und von der sie den Besuchern erzählte: »Die hat mir mein Sohn Johannes, der jetzt schon 25 Jahre in Amerika ist, zu Weihnachten geschenkt. Vor 33 Jahren! Der Fuß ist von schwarzem Marmor.«

Und wie die gute Zeit, kam auch diesmal so gegen Weihnachten Heinrich der Seefahrer von irgend einer Seefahrt zurück; er fuhr mit vollen Segeln in den Hafen der Semperischen ein, und beim Löschen zeigte sich, daß er für Asmus ein funkelnagelneues Buch geladen hatte. Er hatte aber auch einen Passagier an Bord, und das war wiederum kein anderer als Leonhard.


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