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Von dem Apparat in Asmussens Augen, von seinen landwirtschaftlichen Studien bei Dierich Mattens und von seinen Ansichten über das Heiraten.
Frau Rebekka konnte die Wohnung an der Brunnenstraße nicht mehr ausstehen. Wenn sie zwei oder drei Jahre an einer Stelle gewohnt hatte, so konnte sie sie nie mehr ausstehen. Auch das hing wahrscheinlich auf irgend eine Weise mit ihrem Blut zusammen.
»Ich halt's in dem Loch nicht mehr aus!« rief sie dann.
»Du hast es doch selbst halben wollen«, sagte dann ihr Gatte.
»Was? Ich hab' diese Wohnung haben wollen?« rief sie dann entrüstet. »Na, nu wird's Tag!«
»Was? Du hast sie nicht haben wollen?« versetzte dann Ludwig mit ironischem Lächeln. »Na, die Geschichte ist nicht übel!«
Dieser Dialog wiederholte sich vor jedem Wohnungswechsel, und Frau Rebekka Semper war jedesmal fest davon überzeugt, daß es ihr nie vorher eingefallen sei, zum Umzug zu drängen. Und doch schützten Ludwig Sempers Temperament und Philosophie ihn vor jedem Verdacht des Nomadentums. Eine landläufige Weisheit sagt, daß drei mal umziehen so viel sei wie einmal abbrennen. Nach dieser Berechnung waren die Semper seit ihrer Vermählung viermal abgebrannt, ein Luxus, den sie sich wohl gestatten konnten. Rebekka vertrat freilich das rechnende und zusammenhaltende Element in der Familie und sie war stark in der Sparsamkeit; aber ihr Blut war doch immer stärker als ihre Oekonomie.
Wo lag denn die neue Wohnung, nach der Rebekka so heiß begehrte? Sie lag dort, wo einst die ungeheure Gartenwirrnis mit den zahllosen, gänzlich verwilderten Obstbäumen gelegen, durch deren Gezweige die hohen Rundbogenfenster der »toten Kirche« lugten, dort lag sie, wo Asmus einst als Räuber gewirkt hatte, wo er, zwischen den Aesten kauernd, der toten Kirche in die hohlen Augen gestarrt und verächtlich auf die feilen Schergen der Justiz hinabgeblickt hatte. Aber ach, die Bäume rauschten nicht mehr; sie waren alle gefallen, und was an ihrer Stelle stand, das rauschte nicht, das konnte überhaupt nichts sagen, das glotzte stumm und dumm in die Welt wie ein Steinhaufen mit Löchern und war eine lange, breite Mietskaserne. Und ach, die »tote Kirche« war lebendig geworden; an die Stelle ihres geheimnisvoll raunenden, sagenreichen Todes war ein inhaltloses Leben getreten; eine Tischlerwerkstatt hatte man dort eingerichtet, ein Bierlager und andere Niederlagen mehr. Nein, nein, das Quecksilber der Frau Rebekka hatte diesmal nicht den richtigen Weg genommen. Gegenüber der Semperschen Wohnung lag ein niedliches kleines Gefängnis mit vier Mauern, einem Dach und drei vergitterten Fensterchen, daran schloß sich die lange Reihe der Armenhäuser; außerdem gab es in der Straße noch eine Tabakfabrik, eine Eisengießerei, noch eine Tabakfabrik, eine Brauerei und noch eine Eisengießerei, die alle kräftig rauchten. Daß sie sich einem Gefängnis gegenüber eingemietet hatte, das sollte Rebekka Semper noch genug bereuen: Tag für Tag mußte sie sich darüber ärgern, wie ein furchtbar dicker Polizist einen Bettler und Vagabunden nach dem andern gefesselt vorüberführte, und regelmäßig fühlte sie mit dem »armen Teufel« von Gefangenen und gegen das hypertrophische Organ der Obrigkeit, ausnahmslos empörte sie sich über den neuen, offenbaren Justizmord, und ihr Sohn Asmus teilte ihre Anschauung vollkommen. Die Zeiten sind inzwischen milder geworden; an zarteren Fesseln führen heute die Menschen einander hinein in jenes kleine würfelförmige Gebäude; denn das Gefängnis ist nun ein Standesamt, und die Fenster sind entgittert worden.
Wie Namen so falsch und trügerisch sind, das kann man so recht daraus ersehen, daß diese Gegend den Namen »am Born« führte. Der liebliche Klang dieses Namens zaubert dem vertrauensseligen Hörer ein sinnendes Dorfidyll an einem lachenden Wässerlein vor die Sinne; es hatte auch ehemals einen Teich an dieser Stelle gegeben; aber er war längst verschwunden. Ob das ein Schaden oder ein Gewinn für die Gegend war, mag dahingestellt bleiben; jedenfalls aber war das naiv anmutende Gesichtchen, das der Name zeigte, der reinste Schwindel, und von der Poesie, die es heuchlerisch versprach, hielt die Wirklichkeit wenig oder nichts.
Man mußte denn schon über den Apparat, den winzig kleinen Apparat verfügen, den Asmus Semper seit elf Jahren im Auge mit sich herumtrug. Durch diesen Apparat gesehen, bekam freilich selbst das auf dem Hofe der Eisengießerei verstreute Wirrsal der Stangen, Hämmer, Bolzen, Schrauben, Zangen, Nägel, Schienen, Karren und Modelle nach und nach ein redendes Leben, bekam, wenn die großen Türen des Eisenwerks offen standen, das weite, undurchdringliche Innere das Ansehen einer finsteren Höhle, in der unerkennbare Menschengestalten in Gemeinschaft mit riesigen Schatten feurige Eimer schwangen, in der weißglühender Brei in zischende, qualmende, lüstern züngelnde Mäuler sich ergoß, baumlange Schattenarme an den Wänden und an der Decke herumhaschten, griffen, langten und grapsten und plötzlich aus dem schwärzesten Dunkel in greller Glut Köpfe ohne Leiber, Köpfe mit weiß glitzernden Augen aufleuchteten und verschwanden. O ja, wenn man länger mit ihnen verkehrte, mit diesen Fabriken und ihren Winden, Luken, Fenstern und Schornsteinen, dann wurden selbst sie allmählich zutraulich und gesprächig. Solch ein schwarzes, bestaubtes, halb zertrümmertes Fabrikfenster konnte herschauen wie ein Menschenauge, wie ein boshaft drohendes oder wie ein ernstes, trübsinniges Auge. Besonders, wenn die Abendsonne darin funkelte, dann konnt' es aussehen wie ein düsteres Auge, das in eine ferne Hoffnung blickt.
Und dann – ja alles was recht ist, und die Wahrheit über alles – dann gab es in dieser Gegend doch auch zwei kleine Punkte, an denen man die Poesie nicht erst lange zu suchen brauchte. Das waren an einem Ende der Straße die Schmiede, in deren dunklem Raume immerdar zum lustigen Klingklang und Singsang der Hämmer die roten Flammen sprangen und die weißen Funken flogen, wo alle Tage andere Pferdecharaktere vor der Tür beschlagen wurden und wo sich Asmus manche liebe Stunde vom Tabakstreifen erholte – und am andern Ende das kleine Bauerngehöfte von Dierich Mattens.
Der annähernd sieben Fuß hohe Dierich Mattens hieß eigentlich Dietrich Martens; aber er würde es für eine alberne Geziertheit und einen ganz lächerlichen Kraftaufwand gehalten haben, diese Konsonantenhäufungen auszusprechen. So nannte er sich Dierich Mattens, und diese Art der Aussprache gehörte so untrennbar zu seinem Wesen, daß ihn auch die andern Leute niemals anders nannten als Dierich Mattens; vertraute Freunde wie Asmus Semper aber sagten ganz in seinem Sinne nichts weiter als »Dierich«. Dierich ließ allen Dingen ihren Gang, seinen Pferden sowohl wie seinem Leben; es fiel ihm nicht im Traume ein, seine Pferde oder sein Leben durch übertriebenen Kraftverbrauch in schnelleren Gang zu bringen. Er besaß nur wenig Ackerland und nur eine Kuh, dazu zwei Pferde, mehrere Schweine und Hühner, und als ein wahrer Bauerndiogenes wußte er mit seiner Berechnung seine Arbeit so abzumessen, daß er gerade so viel Klöße, Speck und Tabak verdiente, wie er für sich, seine alte Mutter und neuerdings für seinen besten Freund Asmus Semper bedurfte. Ehrgeiz, Gewinnsucht und Seife waren seinem ganzen Wesen fremd. Asmus setzte seine landwirtschaftlichen Studien, die er im Jahre des großen Krieges bei dem Schimmelwallach »Jochen« und bei der buntscheckigen Milchkuh »Greten« begonnen hatte, bei den beiden dänischen Stuten »Stine« und »Süten« fort, und in dieser Periode seines Lebens hätte er schwerlich zu sagen vermocht, was schöner wäre, den »Don Carlos« zu lesen oder den Pferdestall zu reinigen und »Süten« und »Stine« verständnisvoll die Weichen zu klopfen. Und dabei war es fast noch schöner, bei Mutter Mattens Klöße mit Speck zu essen oder mit Dierich auf einem Lattenzaun im Kohlgarten zu sitzen und Kalkpfeife zu rauchen. Dierich genügte das einfache Verfahren des Rauchens nicht; er kaute gleichzeitig Cavendish. Das ist ein mit süßer Sauce zubereiteter, kuchenförmig gepreßter Kautabak, der genau wie das Laster anfangs sehr süß schmeckt, dann aber sengt und brennt wie sein Namensvetter, der Amerikafahrer und Seeräuber. Wenn Dierich einen neuen »Prüntje« abgebissen hatte, verfehlte er nie, den Kuchen seinem Freunde zu reichen, und auch Asmus biß ab mit der Miene des Kenners und Gewohnheitskauers. Heimlich spuckte er dann freilich das scheußliche Produkt wieder aus; aber es abzulehnen, würde er für unmännlich gehalten haben. Allerdings war es ihm dafür auch versagt, wie Dierich mehrere Meter weit spucken zu können. Dierich hatte sonst gewiß nichts Elegantes an sich; aber das Ausspucken vollführte er mit unnachahmlicher Eleganz. indessen eine höhere Stufe der Bildung erklomm Asmus nach heißem Bemühen dennoch: er lernte es, den Rauch durch die Nase auszustoßen.
Wenn so der sieben Fuß lange Dierich und der drei Käs' hohe Asmus nebeneinander auf dem Zaun saßen und rauchten, dann schwiegen sie entweder mit philosophischen Gesichtern, oder sie unterhielten sich ernst und würdig nach Männerart.
»Se hett mi all wedder 'n Predig holl'n«, sagte zum Beispiel Dierich.
»Wer? Din Mudder?«
»Jo.«
»Worum denn?«
»Na, dat kanns di jo denken.«
»Wedder von wegen Heiroten?«
»Jo.« (Längeres Schweigen.)
»Wen salls du denn nu wedder heiroten?« fragte Asmus.
»Markmann sin Deern.«
»De schrubenlose?«
»Jo.«
»Dor lot di man nich op in.«
»Nee, fallt mi jo gorni in.« (Längeres Schweigen.)
»Geld hett se noog«, begann Dierich wieder.
»Djä, wat doo ik dormit!« rief Asmus. »Was Reichtum auch verspricht, die Liebe kauft man nicht.«
»Dor heß du rech.«
»Un denn, wenn ji noher verheirot sünd, denn smitt se di vor, dat du nix hatt heß.«
»Jo, dat deiht se ook.« (Langes Schweigen.)
»Ick verheirot mi öberhaup nich«, sagte Dierich. »Wat sechs du?«
»Djä, dat weet ick nich. Wenn ick groot bin, ick verheirot mi.«
»Nee, ick nich. Ick bin all to old. För 'n Junge bin ick to old, un 'n ole mag ick nich.«
»Dat kann 'k di nich verdenken«, sagte Asmus. (Langes Schweigen.)
»Ick weet gorni, wat de Olsch (Alte) will! Wi hebbt dat so doch gans gemütli, nich?«
»Jo, dat hebbt wi.«
»Jä, un wer weet, wie dat noher ward, nich? Wer weet, wat ick dor for'n Zilla in't Hus krieg!«
»Dat stimmt«, sagte Asmus, »man weet nie, wat man kriegt. Heiroten is 'n Lotteriespeel.« –
Einige Tage nach diesem Gespräch lachte Dierich seinem Busenfreunde schon von weitem entgegen, als dieser, über verschiedene Pfützen springend, auf den Hof kam.
»Du, hüt hev ick de Olsch ober fühnsch (zornig) mokt!« rief Dierich.
»So?«
»Jo. Se fung all wedder an vun Heiroten.«
»Aha.«
»Weeß, wat ick to ehr seggt hev?«
»Na?«
»Heirot du doch! (Se's nämli jetz fivunsöbenti, muß du weten.) Minsch, harrs mol sehn sullt, wie se dull wor! Mit'n Bessenstöhl is se mi to Liv gohn!«
»Hett se di haut?« fragte Asmus.
»Jo, dat deiht jo nich weh!« lachte Dierich und zeigte all seine prachtvollen Zähne.
»Se mag di ober doch banni geern liden«, versicherte Asmus treuherzig.
»Minsch, dat weet ick jo!« rief Dierich. »Un wenn ick nu so'n Langhoorige in't Hus krieg, un de behannelt ehr womeugli slecht, – djä, is nich wohr?«
»Djo«, machte Asmus, indem er den Mund vorschob und die Schultern hochzog.
Daß seine Mutter auch eine »Langhaarige« war, daran dachte Dierich offenbar nicht. Er hatte viel zu viel Ehrfurcht vor ihr, um sie für ein Weib zu halten. Sie war eben seine Mutter.
Aber nicht nur in den Fragen der Liebe und Ehe holte Dierich den Rat seines Freundes ein; auch in haus-, land- und gartenwirtschaftlichen Angelegenheiten tat er kaum noch etwas ohne Asmussens Zustimmung, deren er übrigens immer gewiß sein durfte. Halbe und ganze Tage verbrachte Asmus auf dem kümmerlichen und doch so friedevollen Gehöfte, und bald ward es ihm zum Asyl, zum ultimum refugium gegen die Drohungen des Tabaks und die Feuerzange seiner Mutter. Wenn ein Bote vom Hause kam, um ihn zu suchen, dann log Dierich mit einer so bodenlosen Redlichkeit, daß man wohl auf die Meinung kommen konnte, die Lüge sei eigentlich das Tugendhafte und die Wahrhaftigkeit ein abscheuliches Laster, und wenn der Bote wieder gegangen war, dann pfiff Dierich und rief: »De Luff is rein!« und der Kopf des Asmus Semper tauchte aus dem Stachelbeergebüsche wieder hervor.