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Von Shakespeare zur Bleipistole, von dieser zum Erlanger Bier und weiteren Genußsüchten und zur schließlich unausbleiblichen Katastrophe.
O, es war eine wunderschöne Zeit für Asmus Semper, besonders wenn man bedenkt, daß er in der freien Zeit, die er nicht bei Dierich Mattens verbrachte, auf das innigste mit einem andern Manne verkehrte, der William Shakespeare hieß. Er las den Shakespeare von einem Ende bis zum andern, er las ihn wie ein prachtvolles Geschichtenbuch voll wunderbarer Abenteuer und prangend bunter Bilder. O eine schöne Zeit, da sein Geist hin- und herwandelte zwischen Dierichs Tenne und Macbeths Schloß, zwischen seines Freundes Roggenfeld und der Heide des armen Thoms, zwischen Mutter Martens Geranienfenstern und Juliens Balkon! Er las alles mit demselben andachtoffenen Aug' und Herzen: die sinnlichen Schwüre der Liebenden wie die Gedankenflüge Hamlets, die Zoten Falstaffs wie die meuchelmörderischen Greuel des Macbeth; alles war heilige Feier und Gottesdienst; denn alles verbrannte auf dem Altare seines Herzens zu einer Flamme höheren Lebens. O ihr kurzsichtigen Toren, die ihr die Kunst fürchtet um der Tugend willen! Hättet ihr hineinblicken können in das Herz dieses lesenden Knaben, ihr hättet verstanden, daß die Kunst unschuldig ist wie das Kind.
Ein merkwürdiger Zufall wollt' es, daß er um dieselbe Zeit über einen Jahrgang einer schlechten Zeitschrift geriet, in der der Prozeß gegen die Mörder des Advokaten Fualdès zu einem »Roman« verarbeitet war. Das Machwerk war ausgiebig illustriert, und so sah man auch ein Bild, wo bei nächtlichem Dunkel das geknebelte und gefesselte Opfer auf einem Tische ausgestreckt lag und ein scheußliches altes Weib ihm ins Gesicht leuchtete, während mehrere Kerle von wüstem und brutalem Aussehen sich zur Abschlachtung des Gefesselten anschickten. Dieses gräßliche Bild verfolgte ihn viele Monate hindurch. Er brauchte nur irgendwo im Dunkeln allein zu sein – sogleich war das Bild da mit der widrigen Alten und dem grellen Lichtschein auf dem weißen Antlitz des Opfers. Ja, nach Jahren noch taucht' es gelegentlich vor ihm auf. Er fühlte deutlich zwei Willen in sich: der eine wollte das Bild nicht sehen, der andere, stärkere, wollte es sehen trotz allen Ekels und Grauens, und auch dieser andere Wille war sein Wille. Der eine Wille sagte: Ich will an etwas anderes denken, an den nächsten Jahrmarkt oder an sonst etwas Schönes, und es gelang ihm auch vortrefflich; aber mitten im Lärmen und Läuten der Kuchenbuden und Karussells rief plötzlich der andere Wille: Ich will es doch sehen, und das häßliche Bild war wieder da. Seltsam: er hatte schon so manches Bild von Mord und Totschlag gesehen, er hatte auch die Mordnacht im Schloß zu Inverneß mit allem Blut und allem schleichenden tastenden Grausen geschaut; aber diese Bilder waren furchtbar und schrecklich, nicht peinigend und ekelhaft; hinter ihrem Schrecken erhob sich wunderbar beruhigend die Majestät einer höheren und ewigen Welt. Asmus Semper empfand, ohne es zu wissen, den Unterschied zwischen Kunst und gemeiner Sensation.
Aber einen wie großen Platz auch Dierich Mattens und William Shakespeare im Herzen des Asmus Semper einnahmen: zwei Wünsche vermochten sie doch nicht daraus zu verdrängen: den Wunsch nach einer kleinen Bleipistole mit knallenden Zündblättchen und den Wunsch nach einem jener Gummiballons, die die hineingeblasene Luft durch ein Röhrchen treiben und ein gespanntes Häutchen in Schwingung versetzen, so daß es angeblich »Mama – Papaaaa!« ruft. Für einen 11½jährigen Shakespearekenner waren diese Wünsche freilich ein wenig kindlich; aber es waren zurückgestellte Wünsche, die er schon auf mehreren Jahrmärkten mit traurigen Blicken spazieren geführt hatte, die aber immer wegen finanzieller Schwierigkeiten unerfüllt geblieben waren. Er hatte wohl einen Schilling gehabt; aber dafür fuhr man natürlich Karussell, das war ja seit Anbeginn der Welt so. Nun endlich schien seine Sehnsucht über alles Erwarten in Erfüllung gehen zu sollen. Zwei Groschen hatte er schon – denn die neuen Zehnpfennigstücke nannte man Groschen – als er eines Tages beim Tabakstreifen zufällig fleißig gewesen war, schenkte ihm sein Vater einen dritten. Asmus entpuppte sich nun plötzlich als ein Virtuos im Tabakzurichten; er vollbrachte Wunder der Emsigkeit und brachte es zum vierten, fünften, sechsten Groschen! Und Herr Germer, der Arbeiter, der ihm einmal ein Buch hatte schenken wollen, gab ihm gar zwei Groschen, da warens acht! Und das ging so weiter, bis er endlich achtzehn Groschen hatte. Achtzehn Groschen! Ihm war zu Mute wie dem Schulmeister im Wildschütz. als er die Arie singt: »Fünftausend Taler! Träum' oder wach ich? Wein' oder lach ich?« Achtzehn Groschen besaß er, und niemand wußte darum. Denn daß der Sohn Ludwig Sempers sparen werde, konnte kein Mensch annehmen. Und nun entwarf er einen wohldurchdachten und genau ausgeführten Plan. Zuerst für 20 Pfennige eine Pistole mit Zündblättchen, dann für 10 Pfennige einen Gummiballon mit Musik, dann für 20 Pfennige Karussellfahren, dann für 10 Pfennige drei Schüsse in der Schießbude, dann für 50 Pfennige ein Butterbrot mit Lachs, dazu für 25 Pfennige ein Seidel Erlanger usw. usw. und endlich für 10 Pfennige drei Cigarren bei Frau Föllmer an der Papenecke. Lauter heimliche, zurückgestaute Wünsche! Lauter jahrelang gehegte und gepflegte Sehnsüchte! Und in einem Nachmittag sollten die 18 Groschen verjubelt werden, das hatt' er sich vorgenommen. Er wollte einmal leben wie ein reicher Herr, wie ein Fürst, das war sein Traum. Wie er wohl gelegentlich alle Rosinen seiner Suppe bis zum letzten Augenblick an den Rand schob, um sie dann alle zugleich in einem Löffel voll zu genießen, so wollte er alle Freuden der Welt einmal mit einem einzigen Löffel zum Munde führen.
Der Jahrmarkt kam, und das Programm wickelte sich glatt ab. Nur war es ein Fehler, daß Asmus seinen kleinen Bruder Reinhold an dem Vergnügen teilnehmen ließ, und daß er die Cigarren bei Frau Föllmer kaufte. Diese brave und gewissenhafte Frau hielt es – die schändliche Verräterin! – für ihre Pflicht, Frau Rebekka Semper noch nach vier Wochen zu fragen, warum sie denn Cigarren kaufen lasse, da sie deren doch genug im Hause habe. Asmus hörte, wie seine Mutter im anstoßenden Zimmer mit lauter Stimme das Ungeheure berichtete. Es war ein heißer Sommermittag, und der Inkulpat legte sich so lang, wie er war, auf den Fußboden und stellte sich schlafend. Der Schlaf, dachte er, wird ihnen heilig sein. Aber das Unerhörte geschah: Ludwig Semper-Macbeth mordete den Schlaf; er rief: »Sieh' da, er schläft den Schlaf des Ungerechten! Tu nur nicht, als wenn du schliefest, mein Sohn; steh' nur auf!« und nun geschah das Allerunglaublichste: Ludwig Semper gab seinem Sohne einen Schlag an den Kopf.
Asmus war starr. Es war nur ein leichter, kaum schmerzhafter Schlag gewesen; aber er tat unendlich weh; er durchfuhr den ganzen Körper des Knaben. Seltsam: wenn seine Mutter ihn mit einem Ellenmaß oder einem Kochlöffel geschlagen hatte, dann hatte sie nur seinen Rücken oder seine Schulter oder auch seinen Kopf getroffen, und er hatte diese Schläge bald und oft genug mit einem Lächeln abgeschüttelt – sein Vater hatte den ganzen Menschen getroffen, und diesen einen, leichten Schlag konnte man nicht abschütteln; er blieb sitzen, und er saß im Herzen. Er empfand ihn wohl als eine große Schande; aber viel mehr noch fühlte er ihn als einen tiefen Schmerz. Und er dachte lange nach: Warum hat er mich geschlagen? Asmus wußte zwar, daß sein Vater vom Rauchen der Kinder durchaus nichts wissen wollte und es entschieden verboten hatte –, aber das genügte sicherlich nicht, um Ludwig Semper dahin zu bringen, daß er schlug. daß er seinen »goldenen Apfel« schlug! Dahinter mußte noch eine andere Ursache stecken! Und bald genug sollte Asmus auch diese andere Ursache erfahren.
Vorläufig war die Reihe der Enthüllungen noch nicht erschöpft. Als der siebenjährige Reinhold hörte, daß die drei Cigarren an den Tag gekommen waren, da fühlte er sich wohlig angeregt, auch von den anderen Genüssen zu erzählen, und nun wuchs alles wieder aus dem Grabe der Vergangenheit hervor: Die Pistole, der Lachs, der Ballon, das Bier usw. usw. Jetzt sagte Ludwig Semper nichts, er sah seinen Sohn nur eine Weile schweigend an. Johannes und Alfred konnten sich gar nicht genugtun mit vortrefflichen Witzen. »Ja«, hieß es, »die Arbeit schmeckt dir wohl nicht; du nähmst vielleicht lieber ein Rundstück mit Lachs?«, oder sie riefen: »Ein Glas Erlanger gefällig?« oder »Mein Herr, wollen Sie mal schießen?« und so ins Unendliche. Wer sich aber gar nicht vom Schreck erholen konnte, das war Rebekka. »Achtzehn Groschen!« rief sie dann einmal laut, und dann wieder sagte sie es leise vor sich hin. »Achtzehn Groschen! In einem Nachmittag vertan! Davon hätten wir beinah zwei Tage leben können!« Alles das setzte dem Knaben solchermaßen zu, daß er endlich mitten in einer Nacht mit einem furchtbaren Schrei aus dem Bette sprang und in fliegender Angst immer wieder ausrief: »O Gott, ich verbrauch' es, o Gott, ich verbrauch' es!« Erst als sich die tief erschrockenen Eltern und Geschwister um ihn bemühten, erwachte er aus seinem Traum; aber es währte noch lange, bis er sich wieder beruhigte. Damit war die Achtzehngroschenschuld getilgt; Asmus hörte nie wieder ein Wort davon.
Doch sollte er bald von seinem Vater wieder etwas Befremdliches erfahren. Asmus saß wie gewöhnlich am Arbeitstisch und schien zu überlegen, ob das nächste Tabaksblatt ihn auch wohl beißen werde, wenn er es anfasse – in Wirklichkeit ging er in den Felsentempeln von Ellora spazieren, von denen sein Lehrer Herr Cremer erzählt hatte. Da rief Ludwig Semper plötzlich in einem gereizten, bitteren Tone, den sein Liebling noch nie von ihm vernommen hatte:
»Steh auf und mach', daß du wegkommst – ich mag es nicht mehr mit ansehen!«
Dieser Ton schnitt dem Knaben so ins Herz, daß er wie gebannt auf seinem Stuhle sitzen blieb und mit ängstlicher, bittender Stimme sprach: »Laß mich, bitte, hierbleiben; ich will lieber arbeiten.«
»Nein, nein!« rief sein Vater, »geh weg, geh weg, ich will es selbst tun.« Und Asmus schien es, als ob in seiner Stimme Verachtung läge. Er durfte sich nicht mehr sträuben; er mußte hinaus aus der Tabakstube, und er schlich hinaus.
Er ging nicht zu Dierich Mattens, nicht auf die Straße zu seinen Spielkameraden; er setzte sich im Hausflur auf die Treppe und weinte bitterlich darüber, daß er so faul war und daß er doch beim besten Willen nicht fleißig sein konnte und daß er überhaupt ein so schrecklich unglücklicher Mensch war. Wie mocht' es nur kommen, daß sein Vater so anders sprach und so anders aussah als sonst. Vielleicht ist er krank, dachte er.
Und in der Tat: Ludwig Semper war krank. Asmus hörte bald, daß er ganze Nächte nicht schlafe, daß er dann im Bett aufrecht sitze und wache, weil er nicht liegen könne vor Erstickungsangst. Ein Arzt, der gerufen wurde, nannte die Krankheit Asthma und verschrieb ein Mittel, das nichts verschlug. Er wurde wieder und wieder gerufen und verschrieb anderes, das ebensowenig nützte. »Der weiß genau so viel wie ich«, sagte Ludwig, »es gibt kein Mittel dagegen«, und er beschränkte sich von nun an darauf, zu leiden und zu schweigen. Wenn ihn am Tage ein Anfall packte, dann ging er in einen Raum, wo er sich allein wußte. Aber Asmus sah ihn doch zuweilen, wie er vornübergebeugt, die Arme auf den Tisch oder die Fensterbank stemmend, schweigend dastand: die Brust heftig auf- und abgehend, die Augen groß und feucht geradeaus starrend und die hohe, breite Stirn blinkend von Angstschweiß.
Asmus sah ein, daß er anders werden mußte. Und wenn die Täler und Höhen seiner Träume noch so schön waren – er mußte anders werden, er mußte sie meiden und sich mit zusammengebissenen Zähnen festhalten im Tabakgefängnis. Und er wurde anders.
Er arbeitete mit so fanatischem Fleiße, daß selbst Frau Rebekka ihm gelegentlich sagen mußte, nun sei es genug, er möge hinausgehen und spielen. Dann allerdings, als sein Vater ein paar Wochen ohne Anfall gewesen war, und als Herr Cremer von Aegypten gesprochen hatte, da war es eines Tages doch wieder so weit, daß er mit einem träumenden Tabaksblatte in der Hand durch gewundene Gänge in das Innere einer Pyramide hinabstieg. Aber da hatte er ein Erlebnis, ein seltsames Erlebnis.