Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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XVI. Kapitel.

Warum Asmus so viel Zeit zum Einholen brauchte, warum die Eisenbahn Kanonen brachte und inwiefern es 1848 anders war als 1870.

Denn den Lockungen der Weltfreuden widerstand Asmus auch nach jener Ohrfeige nur mit mangelhafter Festigkeit, besonders auf den Einkaufgängen, die er für die Mutter zu tun hatte. Die Kinder von Oldensund mußten nach dem benachbarten Altenberg einkaufen gehen; denn zwischen den beiden Ortschaften lag die mit Gendarmen besetzte Zollgrenze, und jenseits dieser Grenze war alles um die Zollpfennige billiger. Geringe Mengen durfte man zollfrei herübertragen, und der Zollgendarm, der die geladene Flinte neben sich stehen hatte, untersuchte jeden Korb und jedes Bündel und machte ein Gesicht dazu, als wisse er gar nicht, wie viel geschmuggelt werde. Unter den Krämern von Altenberg war ein Sanguiniker, der jedem kaufenden Kinde einen Bonbon oder zwei gab, ein Phlegmatiker, der nur gab, wenn es ihm paßte, und ein Rheumatiker, der nie etwas gab. Zu dem gingen sie nur, wenn sie mußten. Rebekka Semper schickte am liebsten ihren Asmus zum Einholen aus; denn sie konnte ihm zwölf Aufträge geben, ohne daß er einen einzigen vergaß. Der sanguinische Krämer sah ihm immer fest in die Augen, wenn er seine Zucker-, Kaffee-, Sago-, Reismehl-, Graupen-, Pflaumen-, Pfeffer-, Salz-, Kaneel- und Syrup-Litanei mit Preis und Gewichtangabe herunterbetete, und wenn die Reihe besonders lang und schwierig gewesen war, schenkte ihm der kleine, schmucke Mann, der in seinem Laden herumhüpfte, wie ein Zeisig im Bauer, eine Schillerstange. Das war eine Stange aus zähem, elastischem Zucker; wenn zwei Kinder sie an beiden Enden in den Mund nahmen, dann konnten sie zwanzig Schritte weit auseinandergehen, ohne daß sie zerriß. Die Stangen waren bei der Jugend allgemein beliebt, und wenn sie nicht aus diesem Grunde Schillerstangen hießen, so gab es keinen Grund dafür. Schon ein Stück von einer solchen Stange war ein so zähes Glück, daß man sich den ganzen Heimweg damit kürzen konnte; ein Bonbon jedoch ist bald dahingeschwunden. Und wenn er in Nichts zerflossen ist wie eine Arie des Lyonel, dann wenden sich die Gedanken von selbst ins Innere des Korbes, um den Inhalt der Tüten in Erwägung zu ziehen. Die Krämer besaßen im Schließen der Tüten eine verdammenswerte Kunstfertigkeit, die unendlich schwer nachzuahmen war. Unberührtheit, wenn sie einmal dahin ist, ist immer schwer wiederherzustellen, auch bei einer Zuckertüte, und Rebekka Semper hatte einen eigentümlich scharfen Blick für Tüten mit naschbarem Inhalt. Erst nach langer Uebung gelang es Asmussen, den Krämern ihre Papierkniffe abzulauschen. In dieser Hinsicht war der Syrup ein Gegenstand von großem Entgegenkommen. Wenn man den Zeigefinger hineintauchte und ihn in der Mitte über dem Topfe mehrmals herumdrehte, dann riß der Syrupfaden ab, und man konnte den Finger ohne alle Gewissensbisse ablecken; denn nach wenigen Minuten hatte sich der Syrupspiegel wieder geglättet und lag so eben da wie ein Waldsee bei Windstille. Dagegen hatte der Syrup eine höchst fatale Eigenschaft. Wenn man an Oberon und Titania dachte oder an den stillen Entenpfuhl im »Kurzen Elend« und langsam die Hand mit dem Topfe sinken ließ, dann floß der Syrup unbekümmert um Oberon und Entenpfuhl auf die Erde.

Und auf dem langen Wege gab es wahrhaftig genug zum Gucken und Träumen. Da war gleich der prächtige Harbeckische Bauernhof mit all dem stillen Leben des blinzelnden Hofhundes, der watschelnden Gänse, der brummenden Kühe, der stampfenden Pferde, der klappernden Eimer und der gemächlich an der Wand lehnenden Mistforke, und mit dem Storchenpaar auf dem Dache, das bald auf einem, bald auf zwei Beinen stand und einen oft erst lange warten ließ, bis es klapperte; dann die Schule mit ihrer gotischen Front, die ein so kirchliches Ansehen hatte, daß man glauben mußte, der Pastor regiere darin, und vor der Asmus immer wieder mit scheuer Sehnsucht und wundergläubiger Hoffnung stehen blieb; dann wieder ein ganz vernachlässigter Bauernhof, auf dem alles in Mistjauche schwamm, der aber doch sehr hübsch anzusehen war, ja den man besonders lange anschauen mochte – dann das kleine, ganz kleine Häuschen mit der quergeteilten Tür, in dem die greuliche Hexe wohnte, die einmal in der Abenddämmerung über die untere Halbtür gelehnt und ihn angegrinst hatte wie die Hexe vom Kuchenhaus; dann das Gehöft mit dem unheimlichen Knechte, der immer aussah, als habe er das Schlimmste im Sinn, und der einmal ohne allen Grund den Hofhund auf ihn gehetzt hatte; dann der Judenfriedhof mit dem ganz zerfallenen, bemoosten Bretterzaun, durch dessen Löcher man, wenn man sich bückte, all die alten Gräber mit den seltsamen Inschriften sehen konnte; dann in der engen, holperigen Gasse das Barbierbecken, das ihn als zweijährigen Knaben erfreut hatte und das einen ewigen Lichtpunkt in seiner Vergangenheit bildete; dann der Porzellanmaler im Keller, der die Teller und Tassen auf einer Drehscheibe kreisen ließ und mit dem feinen Pinsel darüber hinfuhr und dem Asmus so oft und so lange zusah, bis er davon überzeugt war, daß er jetzt auch Porzellan malen könne, und dann – ja, die war das letzte, aber lange nicht das schlechteste: die Eisenbahn, die auf dem Damme an der Zollgrenze vorüberfuhr! Die brachte jedesmal etwas Neues: Dann hatte sie drei Wagen und dann dreißig, gewissenhaft gezählt, dann brachte sie Holz und Tierhäute, dann Kühe und Schweine, und dann Menschen. Zuweilen ging die Lokomotive vorwärts und zuweilen macht' es ihr Spaß, rückwärts zu laufen, zuweilen kreischte sie ganz kurz auf wie eine Frau, der eine Maus ans Knie springt, zuweilen schrie sie ganz lange und jammervoll, als wenn man ihr ein zehn Ellen langes Messer zehn Ellen tief ins Herz stieße und sie riefe: »Huuuuuuuuch, nun bin ich tot!« und mitunter juchte sie wie eine Bauerndirne: »Huiii, nun bin ich da und nun macht Platz, sonst fahr' ich alles zu Grus und Mus!« Ach ja, auf dem langen Wege gab es viel zu schauen und zu sinnen, und das Land vom Holstenloch bis zum Krämerladen in Altenberg war zu den Kinderzeiten des Asmus Semper ein gelobtes Land, wo an hohen Tagen Milch und Syrup floß.

Eines Tages im heißen Juli aber brachte die Eisenbahn etwas ganz besonders Wunderbares und Interessantes. und das waren Kanonen. Asmus stand mit seinem Korb am Arm und staunte zu dem Damme hinauf: da kamen Kanonen – Kanonen – Kanonen.

Er glaubte, nun wären sie gleich alle; aber es folgten Kanonen – Kanonen – Kanonen.

Als er vom Krämer zurückkam, sah er zwanzig Schritt vor sich seine mütterliche Freundin Adolfine Moses in größter Eile dahinwatscheln.

»Adolfine!« rief er, »Adolfine! Nimm mich mit!«

Adolfine stand still und wandte ihm ein ganz verstörtes Gesicht zu.

»O Gott, Djunge, kamm schnell, o Gott, o Gott, was hab' ich for'n Angst!«

»Warum denn?« fragte Asmus.

»O Gott, Djunge, weißt du denn noch gar nix? Frankreich hat uns den Krieg erklärt, un die Franzosen sind all' in Kiel, un nu kommen sie bei uns, o Gott, o Gott. Komm man bloß schnell mit nach Hause, vielleicht sind sie all' da! O Gott, o Gott, o Gott!«

Also darum die Kanonen, dachte Asmus. Aber er faßte die Weltlage viel optimistischer auf als Adolfine; wenn die Deutschen so viele Kanonen hatten, dann wollten sie mit den Franzosen schon fertig werden, Adolfine erzählte jedoch so viele schlimme Geschichten von den Franzosen, die 1813 in Hamburg gewesen waren, und erzählte sie mit einer Gewißheit, als wenn sie selbst dabei gewesen wäre, daß Asmus doch mit einiger Beklemmung nach Hause kam. Auch zu Hause fand er eine gedrückte Stimmung. Zwar wurde niemand in der Familie von dem Unglück unmittelbar getroffen, Ludwig Semper war zu alt für den Krieg und seine Söhne zu jung; aber Ludwig Semper hatte eine romantische Vorstellung von der Größe und Gewalt der Franzosen. In seiner Jugend war es den Deutschen noch natürlich gewesen, ihre Begeisterung an der Seine oder am Piräus oder an der Weichsel zu tränken. Die großen Geistes- und Kriegstaten der Franzosen hatten ihn von jeher mit Bewunderung erfüllt; er hatte als Knabe mit Lord Byron und allen Hellenen gefühlt; die Namen Kosciuszko und Ostrolenka hörte man im Hause Semper nur mit heiliger Ehrfurcht nennen, und wenn Ludwig das Lied sang:

»Fordre niemand, mein Schicksal zu hören« –

dann klang es wahrhaft wie ein Trauergesang um ein verlorenes Leben. Carsten Semper hatte seinem Ludwig den größten Teil seiner Napoleonvergötterung vererbt, und Ludwig Semper war nun einmal ein gefesselter Poet: ein großer Mann mußte ihm in allen Dingen groß und herrlich und gut sein. Ein Wort wie das Heinesche: »Britannien, dein Meer ist groß; aber es ist nicht groß genug, die Schande abzuwaschen, die der große Tote dir sterbend vermacht hat«, konnte sein Herz entflammen, und wenn er erzählte, was der letzte Wille Napoleons gewesen:

»Je veux que mes cendres reposent aux bords de la Seine, au milieu de ce peuple français, que j'ai tant aimé.«

dann fehlte wenig, daß ihm die Augen feucht geworden wären. Und Frankreich war ihm noch immer Napoleon, und Napoleon war ihm Frankreich, und daß die armen Deutschen gegen diese ruhmreichen Gewalten aufzukommen vermöchten, das wies er mit hoffnungslosem Lächeln von sich.

Asmus hatte sich anfangs den Krieg so vorgestellt, daß die feindlichen Soldaten in jede Stadt, in jedes Dorf und jedes Haus kämen, alles wegnähmen, alles in Brand steckten und alles tot machten, was lebendig wäre. Als er merkte, daß trotz des Krieges der Brotmann und der Milchmann ruhig ihren gewohnten Gang gingen, die Kinder wie zu allen Zeiten Ringelreihen und Abo-Bibo spielten und der Nachtwächter zu gewohnter Stunde seine Knarre tönen ließ, um die Diebe rechtzeitig zu warnen, da beruhigte er sich bald, und den großen, nationalpolitischen Fragen maß sein siebenjähriges Herz durchaus keine Bedeutung bei. Ja, der Krieg brachte für ihn eine höchst interessante und ausgesprochen idyllische Beschäftigung mit sich. Der Bauer Harbeck hatte seinen Sohn und Großknecht zu den Dragonern hergeben müssen, und nun mußte Asmus ihn in der Wirtschaft ersetzen helfen. Die mannhafte Jugend stand im Felde; Knechte und Tagelöhner waren schwer zu bekommen, und so warb sich der Bauer seine Helfer unter der Schuljugend, die ihm die Kühe zur Weide trieb, die Pferde in die Schwemme ritt, das Heu zusammenrechte und wieder auseinanderstreute. Asmussens Tätigkeit beschränkte sich nun freilich in der Hauptsache auf Dabeistehen, Nebenherlaufen und »Hö-! Hü-! Ho!«-Schreien, wenn eine Kuh den Pfad der Pflicht verließ; aber immerhin nützte er dem Bauer Harbeck noch mehr als seinem Vater, dem er alles zu Liebe tat, wenn es nicht Tabakstreifen war. So mochte es geschehen sein, daß Asmus dem Schimmelwallach »Jochen« freundschaftlich die Weichen klopfte, als die dritte Armee mit 1500 Toten und Verwundeten den Geisberg und Weißenburg erkaufte, daß er »Greten«, der buntscheckigen Milchkuh, heftige Vorwürfe über ihren Wandel machte, als die Brigade François den Roten Berg bei Spichern erstürmte und ihr Führer den Heldentod starb, und daß das dritte und zehnte preußische Korps unter der blutqualmenden Sonne von Vionville mit dem Tode selbst um den Sieg rang, während der kleine Semper in einem Heuhaufen lag und herzensstill in die Sonne von Oldensund blinzelte, die so ruhig dahinzog über einer schönen Welt.

Aber ganz allmählich erwuchs in ihm eine leise Ahnung von der Bedeutung der Dinge, die dort hinten in weiter Ferne vorgehen sollten, und diese Ahnung las er vom Gesicht seines Vaters. Zu einer Zeitung reichten die Semperschen Mittel nicht; aber jeden Tag, an dem es Fleisch gab, holte Ludwig Semper nach alter Familiensitte das Fleisch vom Schlächter. Und von dort brachte er Nachrichten mit; er trug sie im Kopfe und auf dem Gesicht. Weißenburg – Wörth – Spicherer Höhen – Mars la Tour – ein immer größeres Wundern – ein immer größeres Staunen, eine frohe Verblüffung, wie sie sich auf den Gesichtern der Israeliten gezeigt haben muß, als David den Goliath bezwang. Das deutsche Herz des Ludwig Semper hatte den Franzosenschwärmer schon bei Weißenburg in die Flucht geschlagen. Und nun wurden eigene Kriegserinnerungen in ihm lebendig, Erinnerungen von 1848, 49, 50. Freilich, mit dem Völkerringen dort unten war das nicht zu vergleichen! Dagegen war es 48 beinah' ein Idyll gewesen. Lustige, behagliche Geschichten erzählte Ludwig aus diesem Kriege. Einmal hatte er auf einem Hügel Vorposten gestanden, und drüben auf einer anderen Anhöhe hatte ein dänischer Posten gestanden. Da hatte Ludwig Semper seinen Tschako aufs Gewehr gestülpt und ihn hoch in der Luft hin und hergeschwenkt, und da hatte der Däne dasselbe mit seinem Käppi getan. Und ein anderes Mal, als Semper in bitterkalter Weihnachtsnacht wieder aus Posten stand, da war etwas hinter ihm durchs Gebüsch gekrochen, und als er gerufen: »Wer da?«, da hatt's geantwortet: »Gruben in Bottermelk!« und sieh da, da war ein lachender Kamerad mit einer großen Schüssel heißer Graupen in Buttermilch aufgetaucht, dem Durchfrorenen zu köstlicher Labung. Aber blaue Bohnen hatt' es freilich auch gegeben; sie waren ebenso an den Ohren vorbeigepfiffen, wie jetzt, und die Granaten hatten gesungen wie heute.

»Hast du auch welche totgeschossen?« fragte Asmus seinen Vater.

»Ich weiß nicht«, antwortete Ludwig, schüttelte den Kopf und sprach von etwas anderem.


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