Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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XVIII. Kapitel.

Vom Morgenland im Abendlande und alten Liedern in neuer Zeit.

Asmus lernte gleich am ersten Tage eines der schwierigsten und wichtigsten Dinge, die man lernen kann, nämlich: wie die Welt eigentlich entstanden ist und wie die Menschen gemacht wurden. Der Lehrer machte es ganz deutlich vor; er nahm einen Jungen her und blies ihm in die Nase. So hatte es der liebe Gott gemacht. Asmus verschlang den Lehrer mit den Blicken und hörte zu, als müsse er's im nächsten Augenblick dem lieben Gott nachmachen. Dabei hielt er die Hände krampfhaft gefaltet auf dem Tische; denn Adolfine Moses hatte ihm gesagt: so müsse man in der Schule immerfort sitzen. Und Herr Schulz schilderte in lebhaften Farben die Freuden des Paradieses. Er sprang im Zimmer hin und her, schlug vor Bewunderung die Hände zusammen und stellte dar, wie Adam und Eva gejauchzt und gejubelt hätten:

»Szieh mal, die schönen Blumen! Und was für'n chroßer chrüner Baum! Und was für ßüße Aepfel! Und da kam auf einmal ein Löwe daher, aber er tat ihnen charnichts!« Und am Mittag hatte Asmus kaum die Schiefertafel und die Mütze abgelegt, als er seinen Eltern schon über die Schöpfung Bericht erstattete. Er setzte voraus, daß sie nie von diesem Ereignis gehört hätten. Er sprang in der Stube herum und zeigte, wie Adam und Eva sich gefreut hätten, und rief: »Szieh mal, was für'n schöner chrüner Baum! Und da auf einmal – was kommt daher? Junge, Junge, o weh! 'n Löwe! Aber meint Ihr, er tut ihnen was? Tut ihnen charnichts!«

Nur eines beunruhigte ihn: Gott hatte am ersten Tage das Licht geschaffen und erst am vierten Tage Sonne, Mond und Sterne! Woher war denn vorher das Licht gekommen? Darüber konnte er nicht ins Reine kommen; er sagte aber nichts.

Es folgte der Sündenfall der Menschen und Kains Brudermord, die Sündflut und der Turmbau zu Babel, Abrahams Berufung und Gehorsam und alle jene Geschichten, die trotz allen Dunkels und aller Seltsamkeit den Weg zum Kindesherzen finden, weil sie aus der Kindheit des Menschengeschlechts herüberklingen und träumevolle, ahnungsvolle, hoffnungsvolle Kindheit in ihnen selber ist. Der harte Winter des Kriegsjahres war angebrochen, und als die Semper eines Morgens zum Fenster hinaussahen, da war ihr kümmerliches Häuschen fast im Schnee vergraben. Der Brotmann stampfte keuchend in hohen Schaftstiefeln daher und klagte, daß ihm immer die Nasenlöcher zufrören, und dem Milchmann gefror die Milch in den Eimern. »Heute wollen wir die Kinder nur zu Hause lassen«, sagte Ludwig Semper. Da riß Asmus erschrocken die Augen auf und rief, er müsse zur Schule und als man ihn nicht ziehen lassen wollte, erhob er ein solch schmerzliches Jammern, Weinen und Bitten, daß man ihn endlich gewähren ließ. Durch die tief verschneite Winterwelt seines Dorfes trieb ihn ein sehnsüchtiges Verlangen nach dem sonnigen Lande Abrahams, der vor der Tür seiner Hütte saß, da der Tag am heißesten war, und den Herrn und seine Engel bewirtete. Aber Asmus besaß zu dieser Zeit gerade keine Stiefel und keine Handschuhe; die Schiefertafel entfiel seinen erstarrten Fingern, und der Schnee kroch ihm zwischen Holzpantoffel und Strumpf und benutzte die Wärme seines Fußes zum Schmelzen. Er war froh, als er die Schule erreicht hatte, und seine Augen weinten, ohne daß er's wollte. Der Lehrer hieß ihn seine Füße vom Schnee befreien, setzte ihn dann ganz dicht an den großen Ofen und empfahl ihm, die Füße auf die Bank zu ziehen und sich darauf zu setzen. Und an diesem Tage war es in der Schule ganz wundersam. Es waren nur 11 oder 12 Kinder gekommen, die anderen 50 oder 60 hatte das Wetter geschreckt. Eigentlich sollte gelesen und geschrieben werden; aber dazu war es viel zu dunkel; im Zimmer war's wie allererstes Morgengrauen. Und der Lehrer setzte sich mit den Zwölfen rund um den Ofen, stocherte die Glut empor, daß der rote Schein auf den Gesichtern spielte und begann zu erzählen. Und sieh, vor dem Ofen in der winterdunklen Stube blühte langsam die sonnenhelle Geschichte empor von Elieser, der für seines Herrn Sohn um Rebekka warb am Brunnen der Stadt Nahors. Und es war in dieser Geschichte stilles Leben der Hirten, das beim Pferchen der Schafe lange schweigend in den Himmel blickt und beim Weiden des Viehes geruhig nach den Bergen schaut, über die von zehn zu zehn Jahren Grüße der Freunde kommen, von zwanzig zu zwanzig Jahren liebe Verwandte herabsteigen. Die Augensterne des kleinen Semper machten mit der Karawane des Elieser die weite, weite Reise nach Mesopotamien, das sah man ihnen an, und als es hieß:

»da kam Rebekka, Bethuels Tochter, und trug einen Krug auf ihrer Achsel. Und sie war sehr schön von Angesicht.«

da wurde Asmussens Gesicht so schön, wie es nur werden konnte, und als sie auf Eliesers Bitte um einen Trunk eilends den Krug niederließ auf ihre Hand und sprach: »Trinke, Herr!« da neigte Asmus lächelnd und freundlich sein Haupt und ließ den treuen Diener Abrahams trinken, und da sie gesprochen hatte: »Ich will deine Kamele auch tränken« und mit lieblicher Geschäftigkeit zwischen Brunnen und Tränke hin- und widerlief, da wunderte er sich mit Elieser schweigend ihrer Anmut, und als der treue Knecht nun ausrief:

»Gelobet sei Gott, der mich den Weg geführt hat zu meines Bruders Hause!«

da atmete Asmus tief auf und dachte: »Ja, die mußte er nehmen!«

Er hätte nicht sagen können, warum ihm diese Geschichte so unsäglich gefiel; aber in der mild auftauenden Wärme und in der weichen Dämmerung des großen Raumes empfand er unbewußt, wie Menschheitsmorgenfrühe in dieser Erzählung ist, empfand er den gleichmäßigen Fluß eines Lebens, das auch die Vereinigung zweier Menschen betrachtet nach Hirtenweise und sie zusammengibt in schweigender Unterwerfung unter ein stummes, ewiges Naturgesetz.

Er wußte auch wohl, wo diese Geschichte sich zugetragen hatte. Am Rain, bei der tiefen Talwiese, wo es immer Sonntag gewesen war, zwischen den beiden Eisenbahndämmen, dort wo sie nach Westen und Norden weit auseinandergingen, da hatte sie sich zugetragen. Da war das Morgenland. Dort hatte auch Abraham gewandelt; am hohen Rande der Talwiese hatte er das Opfermesser erhoben über Isaak, dort auf der weiten Fläche war Lots Weib zur Salzsäule versteint, als sie nach den Flammen am Horizont zurückblickte. Und die Schöpfung hatte am »Düstern langen Balken« stattgefunden; dort hatte Gott über der ungeheuren Wiese geschwebt, als sie wüst und leer war, und hatte gesprochen: »Es werde Licht!« Im Holstenloch, dort, wo es einsam wurde, hatte sich der Wolf zu Rotkäppchen gesellt; die Mutter Schneewittchens hatte im »Kurzen Elend« am Fenster gesessen und sich in den Finger gestochen, und im »Langen Jammer« stand irgendwo in der Luft das Tor der Frau Holle, von dem der Hahn herabrief:

»Kikeriki!
Unsere goldene Jungfrau ist wieder hie!«

So gab er jeder Geschichte ihren Ort; aber die Geschichten, die in einem besonderen Lichte glänzten, die verlegte er alle in die Gegend der Talwiese zwischen den Eisenbahndämmen. Dort wurde auch das Christkind geboren.

Vom Christkinde sang auch das Lied, das Herr Schulz, der Lehrer nun anstimmen ließ. Er holte die Geige aus dem Schrank, und die Kinder riefen: »Aah!« Sie waren noch nicht verwöhnt. Das Lied hieß: »Der beste Freund« und lautete also:

»Der beste Freund ist in dem Himmel,
Auf Erden sind nicht Freunde viel,
Und in dem falschen Weltgetümmel
Ist Redlichkeit oft auf dem Spiel.
D'rum hab' ich's immer so gemeint:
Im Himmel ist der beste Freund.

Die Menschen sind wie eine Wiege:
Mein Jesus stehet felsenfest,
Daß. wenn ich gleich darniederliege,
Mich seine Freundschaft doch nicht läßt.
Er ist's, der mit mir lacht und weint:
Mein Jesus ist der beste Freund.

Mein Freund, der mir sein Herze gibet,
Mein Freund, der mein und ich bin sein;
Mein Freund, der mich beständig liebet,
Mein Freund bis in das Grab hinein.
Ach, hab' ich's nun nicht recht gemeint?
Mein Jesus ist der beste Freund.«

So sangen sie nach einer Volksweise, die wie ein Wiegenlied aus Urgroßvaters Tagen klang, den sanftäugigen Pietismus und die schlichte Herzenseinfalt des braven Schweidnitzer Pfarrers Benjamin Schmolcke, der jene treuherzigen Verse geschrieben im Jahre des Herrn 1704. Draußen in der Welt balgte sich das 10. Korps mit dem rechten Flügel der Loire-Armee bei Beaune la Rolande und halfen die Flinten und Säbel der Söhne Hamburgs bei Loigny den linken Flügel zurückwerfen und die Pläne Gambettas vernichten. Draußen in der Welt hörte man von Leuten, die sich »Sozialdemokraten« nannten, die gegen die Annexion Elsaß-Lothringens protestierten und die Bismarck in Gefangenschaft abführen ließ.


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