Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIX. Kapitel.

Wie Asmus Semper ein Streber wurde und sich Ruhm und Gold und einen Rosinenkloß und die Masern wünschte.

Aber in der Klasse des Herrn Schulz ging es nicht immer so ruhig zu wie an diesem eingeschneiten Morgen. Herr Schulz war für Leben, und Asmus überzeugte sich bald, daß er mit dem Stillsitzen mit gefalteten Händen gänzlich allein blieb. Alle Stunden des Herrn Schulz waren zugleich Turnstunden. Wenn nämlich seine Schüler etwas wußten, dann sprangen sie auf die Füße und streckten weit den Finger vor; wenn sie es genau wußten, sprangen sie auf die Bank; wußten sie es ganz genau, dann stiegen sie auf die Tische; wenn sie aber etwas ganz Seltenes und Schwieriges wußten, dann kamen sie aus den Bänken herauf und stürmten Herrn Schulz; sie bohrten ihm fast ihre Fingerchen ins Auge und schrien: »Ich, Herr Schulz, ich ich ich!«, daß es aussah und sich an hörte, als wenn siebenunddreißig Küken nach Futter piepen. Wenn es auf Lebhaftigkeit ankam, ließ sich nun Asmus Semper niemals lumpen, darin war er der Sohn seiner Mutter, und eines Tages drang er so weit vor, daß der Lehrer rief: »Junge, du ßtichst mich ja mit dem Finger in die Naaße!« Aber er durfte die Antwort geben, und als er seine Brust erleichtert hatte, turnte er über Tisch und Bänke und über die Köpfe der anderen zurück nach der letzten Bank hinten an der Wand.

Herr Schulz hatte aber noch ein anderes Mittel, um Bewegung in die Massen zu bringen. Er versetzte seine Schüler nach ihren Fähigkeiten nicht halbjährlich oder vierteljährlich, sondern minütlich. Wenn Meyer nicht wußte, wie der Sohn des Königs Saul hieß, so fragte Herr Schulz den nächstsitzenden Petersen; wenn der versagte, den nun folgenden Schmidt usw. usw., und wenn der Siebente »Jonathan« schrie und etwa Jansen hieß, dann sagte Herr Schulz: »Jansen, ßieben Plätze höher!« und Jansen raffte schleunigst Tafel, Bücher, Schwamm und Griffel zusammen und stieg mitten in der Religion über die gebeugten Nacken der sieben Unterworfenen hinweg mit Siegerlächeln an seinen neuen Platz. Aber er durfte sich nicht in Sicherheit wiegen; denn wenn er durch den einen Jonathan sieben Staffeln des Ruhmes erklommen hatte, so konnte er schon im nächsten Augenblick durch Isboseth um dreizehn Stufen wieder hinunterstürzen. So glich die Klasse des Herrn Schulz einem ewig summenden Bienenstock, in dem alles in unablässiger Bewegung war, um das Wachs der Bildung und den Honigseim des Ruhmes einzutragen. Nur Asmus Semper blieb monatelang hinten an der Wand sitzen; denn die andern Schüler sogen ja alle schon länger an den Brüsten der Weisheit und waren im Rechnen und Schreiben wohlgenährt, während Asmus in diesen Dingen durch besonders heftiges Saugen alles nachzuholen hatte.

An einem Nachmittage in der Schreibstunde nahm Herr Schulz das Heft des kleinen Semper in die Hand und zeigte es der Klasse. »O weh«, dachte Asmus. Und Herr Schulz sprach:

»Szeht euch mal diese Schrift an! Als Asmus Szemper zur Schule kam, konnte er überhaupt nicht schreiben, und jetzt schreibt er am besten von allen. Nehmt euch ein Beißpiel dran! Szetz dich fünf Bänke höher, mein Szohn!«

Wer am meisten überrascht war, das war Asmus Semper. Er hatte seine Schrift bis dahin immer noch für trostlos schlecht gehalten und sie stets mit schmerzlichem Ingrimm betrachtet – und jetzt war's die beste! Er war so verblüfft, daß er gar nicht dazu kam, sich zu freuen, und auf seinem hohen Platze fühlte er sich fremd und beklommen. Hinten an der Wand, im Halbdunkel war es so traulich gewesen. Im halbdunklen Anfang der Bildung ist es immer traulich.

Als er daheim von seinem Avancement erzählte, erhob Rebekka Semper großen Jubel; Ludwig Semper sagte nichts, aber er lächelte. Und von diesem Lächeln an dachte Asmus oft und öfter: »Könnt ich's nur machen, daß er bald einmal wieder so lacht.« Von diesem Lächeln datiert Asmus Sempers Ehrgeiz.

Schon nach einigen Tagen gelangte Asmus durch einige sehr gesunde Anschauungen über Leben, Taten und Bedeutung des Rindes auf die erste Bank. Als er das seinem Vater berichtete, stellte er sich vor ihm hin und sah ihm stramm ins Gesicht. Und richtig: Ludwig Semper lächelte noch herrlicher als das erste Mal, und dann zog er die Augenbrauen hoch und machte die Augen so groß, wie sie noch nie gewesen waren, und sagte:

»Wenn du der Erste in der Klasse wirst, bekommst du von mir vier Schillinge.«

Es kann nicht wunder nehmen, daß die Entwicklung des kleinen Asmus jetzt etwas ungesunde Formen annahm. Zu dem Durst nach Ruhm kam jetzt der Hunger nach Gold, und zugleich empfand er tief die schwindelnde Höhe des gesteckten Ziels. Der Erste in der Klasse werden – das wäre immerhin möglich erschienen; aber wie konnte ein kleiner Junge von acht Jahren vier Schillinge erringen! An dieser ungeheuerlichen Summe ermaß er so recht die Vermessenheit des Unterfangens. Indessen – es mußte gelingen, und Asmus Semper wurde Streber.

Bald aber sollte er inne werden, daß der Weg zum Ruhme nicht in gerader Linie aufwärts geht. Herr Schulz stellte ihm die verfängliche Frage:

»Wenn du eine Chans hast, die neun Pfund wiegt, und sie für acht Schilling das Pfund verkaufst, wieviel Cheld bekommst du dann dafür?«

Asmus, von Gold und Ruhmbegierde erregt, rechnete statt der acht Schillinge die vier Schillinge, die ihm sein Vater versprochen hatte, und rief:

»36 Schillinge!«

Und für diese Uneigennützigkeit kam er einen Platz herunter.

Was war das? Er kam herunter? Asmus Semper »rutschte«? Das war ihm noch nicht widerfahren. Es war ein Glück, daß die Schule gleich darauf aus war; er raffte wie ein Dieb seine Siebensachen zusammen, stahl sich ohne Aufblicken schnell hinaus und fing sofort, als er allein war, an zu weinen. Er wußte sicherlich noch nicht, was man unter eines Menschen Ehre versteht; aber er hatte in ganzer Schwere und mit ganzem, schneidendem Schmerze das Gefühl eines Menschen, der seine Ehre verloren hat. Heruntergekommen, gepurzelt, gerutscht – welch' eine Schmach! Er konnte ja gar nicht wieder in die Schule gehen! Wie sollt' er das zu Hause erzählen! Seine Mutter würde schelten, und sein Vater –! Sein Vater würde nicht lächeln, nein, ein trauriges, ein sehr trauriges Gesicht würde er machen – wenn er daran dachte, dann jammerte er laut auf, und in die Tränenbäche auf beiden Wangen stürzten neue Zuflüsse. Er weinte sich nach Hause, und dort angekommen, setzte er sich auf den kleinen Vorplatz an den Herd und weinte. Eine Nachbarin kam darüber zu und fragte: »Junge, was fehlt dir? Warum weinst du so schrecklich?« Da weinte Asmus noch viel schrecklicher. Und die Nachbarin rief: »Frau Semper, was fehlt Ihrem Sohn? Er sitzt hier und weint Tränen, so groß wie Taubeneier.« Da mußte er hinein und bekennen; tropfenweise entwand sich ihm das furchtbare Geständnis, und auf jeden Tropfen Geständnis kam ein Meer von Tränen.

»Ich – huu – bin einen – huu – gerutscht – huuu . . . .!«

Rebekka Semper fand dies nun auch recht schlimm; die Nachbarin lachte laut auf, und Ludwig Semper lachte still in sich hinein, daß seine Schultern auf und abwippten. Aber es war nicht das Lächeln von neulich, das sah Asmus, der ihn durch eine große Träne hindurch genau fixierte, ganz genau.

»Deshalb sei nur ruhig«, sagte sein Vater, »darum kriegst du die vier Schillinge doch!«

Das Vermögen war also gerettet. Fehlte nur noch die Ehre.

Aber Asmus Semper war leider durchaus kein konsequenter Streber. Am andern Morgen erfuhr er, daß es mittags einen großen Mehlkloß mit Rosinen und süßer Specksauce geben werde. Das entzückte ihn so, daß er den ganzen Morgen in der Schule in gehobener Stimmung verbrachte. Und als die Mittagstunde herannahte, wurde er übermütig. Die Schüler schrieben auf ihre Tafeln und der Lehrer saß am Pult und schrieb auch. Da fragte Asmus seinen Nachbar: »Kannst du mit'm Fuß auf'n Tisch hauen?« »Nee«, sagte der Nachbar, »kannst du das?« Statt aller Antwort hob Asmus das Bein und schlug »bums« mit der Hacke auf den Tisch. Das war so zu sagen ein notwendiges Naturereignis: er mußte seiner Freude Luft machen. Herr Schulz schien von der Notwendigkeit weniger überzeugt zu sein; er rief:

»Asmus Szemper, komm mal her!«

Asmus kam, erhielt einen Backenstreich und kam auf die zweite Bank. Er würde wohl auch diese neue Schande in einen Strom von Tränen gebadet haben, wenn nicht die mittägliche Verheißung gewesen wäre. Im Gedanken an einen Rosinenkloß konnte er beim besten Willen nicht weinen, und gegen Speck und Syrupsauce ist Ruhm eine Wassersuppe.

Am folgenden Tage fehlten in der Schule fünf Kinder; es hieß, sie hätten die Masern. Am nächsten fehlten weitere elf; Grund: die Masern. Am dritten vermißte Herr Schulz nicht weniger als 31 von seinen Schülern. Asmus fand es riesig interessant, in der Schule wegen Krankheit zu fehlen; er hörte, die Masern bekomme jedes Kind einmal, und er empfand es als eine Zurücksetzung, daß er noch immer nicht drankam. Er schämte sich schließlich, daß er so langweilig gesund jeden Tag zur Schule kam, und sagte mit renommistischer Miene zu seinem Nachbar:

»Morgen kannst du dich nur auf meinen Platz setzen; ich krieg auch die Masern.«

Aber er kam den folgenden und auch den nächstfolgenden und auch den dritten Tag mit geradezu blamablem Wohlsein zur Schule. Da – am Abend des vierten Tages – da kam etwas, aber nicht die Masern. Er saß bei seiner Schularbeit und machte beim großen »G« eine ganz ungeheure Schleife, die weit übers Ziel hinausging, und es war ihm ganz gleichgültig, wie weit sie ging. Und dann war es ihm noch gleichgültiger, wie weit der nächste Buchstabe in den Himmel hinaufstieg, und dann ließ er die Feder aufs Papier fallen. Er fühlte sich unendlich matt und schlief auf seiner Arbeit ein. Aber nach einigen Sekunden fuhr er heftig empor; es war ihm, als wäre er tief hinabgestürzt. Nun umspannte ihm ein dumpfer Schmerz den Kopf und ihn fror entsetzlich. Als die Mutter ihn auf sein Bitten zu Bett brachte, flog er am ganzen Leibe, daß die alte, kleine, wurmstichige Bettstelle knackte, und dann kam ein heftiges Erbrechen. Darauf schlief er ein. Folgenden Tages lag er den ganzen Tag schweigend in seinem Bett; aber abends begann er zu fiebern. Einen Arzt zu befragen, kostete Geld, und da Rebekka Semper im Kieler Krankenhause eine ganze Menge Medizin studiert hatte, so sagte sie: »Er kriegt die Masern« und gab ihm Lindenblütentee. Aber es war nicht das Richtige. Er fieberte am nächsten Tage stärker, und am dritten phantasierte er. Da wurde der Arzt Doktor Ollsen geholt, der verordnete kühles Zimmer, kalte Bäder und etwas, was sehr bitter schmeckte. Am Tage darauf klagte Asmus, er könne nicht schlucken und die Augen täten ihm so weh, und in seinem Gesicht zeigten sich rote Knötchen und Flecke. »Ja, er kriegt die Masern«, sagte Frau Semper; als aber der Arzt kam, da sagte er: »Es sind die Pocken.«


 << zurück weiter >>