Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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XXVIII. Kapitel.

Wie Asmus Semper den Menschensohn kennen lernte.

Aber es sollte noch schlimmer werden; aus dem Dilemma sollte ein Trilemma werden. Sein Bruder Johannes nahm ihn an einem Sonntagmorgen mit nach Hamburg in die »Kunsthalle«. Da sah er den Diskoswerfer und den borghesischen Fechter, den sterbenden Gallier und den Farnesischen Stier, die melische und die mediceische und die knidische Venus, den Hermes mit dem Dionysosknaben und den belvederischen Apoll, den Oktavianus Augustus und die Nike des Paionios. Johannes blickte immer abwechselnd auf die Bildwerke und auf seinen Bruder; er erwartete Ausbrüche der Begeisterung und des Entzückens; aber Asmus war ganz wie diese steinernen Bilder; er konnte keinen Laut hervorbringen und lebte doch vom Scheitel bis zur Sohle ein hohes, feierliches Leben. Er war einmal mit seiner Mutter in der Kirche gewesen, und da war es gar feierlich gewesen; aber hier war es doch noch unendlich feierlicher. Von hier nahm er den Schimmer mit hinweg, das unsichtbare himmlische Gewand, in das er von nun an alles hüllte, was er aus dem Lande Griechenland vernahm, und die schmerzlich-süße Sehnsucht der Deutschen, die nach Hellas wie nach dem verlorenen Paradies der Formen zurückschaut.

Nein, solche Statuen schaffen können, das war doch etwas anderes als zur See fahren! Er warf den Seemann über Bord und erklärte Tags darauf vor versammelter Familie: »Ich will entweder Bildhauer oder Dichter werden.« Ein homerisches Gelächter war die Antwort. »Ja«, rief Ludwig Semper mit einem elegischen Lächeln, »wenn man das einfach so »wollen« könnte!« Man hielt es gar nicht für nötig, die ökonomische Seite der Frage zur Sprache zu bringen und die drollige Naivetät zu belächeln, die sich die Möglichkeit kostspieliger Studien erwartete in einem Hause, wo es einige Tage später schon wieder nach Hafersuppe roch! Freilich starb das Neugeborene schon nach wenigen Tagen; dennoch aber sprachen neunundneunzig von hundert Möglichkeiten dafür, daß Asmus Semper sich bei der edlen und billig zu erlernenden Kunst des »Pfeifendrehens« werde bescheiden müssen. Nicht einmal die drei- oder vierjährige Last einer Handwerkslehre durfte man auf sich nehmen.

Die Naivetät des guten Asmus ging aber noch viel weiter, als sie ahnten. Er hatte überhaupt nicht an Kosten gedacht. Was braucht' es denn weiter als das Werkzeug zum Hauen und den festen Willen, Bildhauer zu wenden? Es sollte sofort losgehen. Er verschaffte sich heimlich einen Hammer und einen Meißel, und bald bedeckte sich alles in seiner Umgebung, was Stein und Mauer hieß, mit den Spuren seiner Kunst. Aber bald fiel ihm auch bei, daß man eigentlich das, was man aushaue, erst müsse zeichnen können! Aber wo sollte er zeichnen lernen? Seine Schule kannte keinen Zeichenunterricht.

Was kannte überhaupt die Schule des Herrn Rösing! Asmus verbrachte jetzt seine Schultage wohl in Frieden, aber nicht in Freude; er tat, was er mußte, oder unterließ es, wie es ihm gerade gefiel; er ging gleichgültig hin und kam gleichgültig zurück und lebte während der Stunden sein eigenes Leben. Für den ungeheuren Diebstahl an Saat- und Pflanzzeit, der an ihm begangen wurde, hatte er keine Empfindung; denn Kinder glauben, auf der Welt gebe es Zeit wie Wasser, das sie auch verschwenden, in der Meinung, daß es nichts koste. Sie spielen mit der Zeit wie kleine Kinder mit dem Gelde; der Taler ist wie die Zeit ein hübsches, blitzendes und rollendes Rad, aber kein Wertgegenstand.

Das Beste an Herrn Rösings Schule waren noch seine Geschichten. Wenn seine Schüler ihn eine Zeitlang möglichst wenig bemüht und belästigt hatten, dann erzählte er ihnen zum Lohn eine Geschichte. Seine beste Geschichte war die von dem Reisenden, der in eine Räuberherberge im Walde geriet. Mit dieser Geschichte konnte er sogar die Prätorianer eine Zeitlang im Zügel halten. Ein hexenartig aussehendes altes Weib begrüßte nämlich freundlich den Reisenden und leuchtete ihm in sein Schlafgemach. Als er dieses betreten und die Tür sich wieder hinter der Alten geschlossen hatte, hörte er, wie ganz, ganz leise ein Riegel vorgeschoben wurde. Nanu, dachte er. Er untersuchte genau das Zimmer und sah unter dem Bette eine Leiche mit abgeschnittenem Kopfe liegen, die die Räuber und Mörder schlauer Weise dort hatten liegen lassen. Dieses erweckte ihm ein peinliches Gefühl. Er untersuchte das Zimmer noch genauer und bemerkte in der Decke die Umrisse einer viereckigen Luke. Aha, dachte er. Durch diese Luke lassen sie ein Beil herunterfallen, das den im Bette schlafenden Gast enthauptet. So haben sie es mit dem unterm Bette auch gemacht. Der Gast zeigt infolgedessen keine Spur von Müdigkeit; auch diese humane Todesart sagt ihm nicht zu.

»Was tut also unser Freund?« erzählte Herr Rösing. »Er legt die Leiche mit dem abgeschnittenen Kopfe in das Bett, zieht die Decke darüber, löscht das Licht und wartet. Stundenlang sitzt er da und wartet. Da endlich – um die Zeit der Mitternacht – da hört er über sich ein leises Geräusch. Er hört flüstern – und jetzt – jetzt öffnet sich oben ganz leise die Klappe und ein schmaler Lichtschein fällt hindurch . . . . . So, Jungens, das nächste Mal mehr«, schloß dann Herr Rösing.

»Oh, bitte, Herr Rösing, noch'n bißchen, Herr Rösing, bitte, bitte, Herr Rösing!« heulte flehend und lechzend der ganze Chor der Schüler; aber Herr Rösing war unerbittlich wie der Redakteur einer Romanzeitung und wie die Schere der Atropos; keine Silbe ließ er sich abhandeln. Und da diese »Geschichte für die Jugend« eine ganze Anzahl solcher »Abschnitte« hatte und schnellstens in vierzehntägigen Lieferungen erschien, so erzielte Herr Rösing auf Monate hinaus eine Art von Gesittung unter seinen Zöglingen. Asmus hatte sehr deutlich das Gefühl, daß dies eine ganz elende Geschichte sei, eine der Geschichten vom Schinderhannes, Rosza Sandor und Genossen, die in Zehnpfennigsheften auch bei seinen Eltern zuweilen in die Tür geworfen wurden und über die sein Vater immer Witze machte – aber famos waren diese Art Geschichten doch, das konnt' er nicht leugnen. Sie machten doch höllisches Vergnügen, wenn sie auch seine Hochachtung vor Herrn Rösing nicht erhöhten.

Und doch sollte Asmus gegen die Osterzeit von den Lippen dieses Lehrers eine Geschichte vernehmen, unter der des Knaben ganze Seele bebte wie eine Harfe, die der Sturm bewegt in einer Nacht wie sieben Nächte lang. Ja, von den Lippen des Lehrers; denn der Atem der Geschichte kam nicht aus seinem Innern; er kam aus einer heiligen, schaurigen Ferne, und auch der alte Mann schien wie der Knabe zu seinen Füßen stille zu halten dem erhabenen Wehen, das in seine Seele griff wie in ein tönendes Instrument. Der alte Lehrer erzählte nicht, er las, las aus einem biblischen Geschichtenbuche, las stundenlang mit halblauter Stimme, immer im gleichen, bangen Tone, der sich nicht zu erheben wagte und so traurig klang wie ein verborgenes Wasser in tiefer Felsenschlucht. Er las:

»Und da die Stunde kam, setzte er sich nieder, und die zwölf Apostel mit ihm. Und er sprach zu ihnen: Mich hat herzlich verlanget, dies Osterlamm mit Euch zu essen, ehe denn ich leide.«

Zum ersten Mal hörte Asmus von Anfang bis Ende die Tragödie des Menschensohnes. Und wie einst auf jener Talwiese zwischen den Eisenbahndämmen Bethlehem gewesen war, wie dort der Stern gestanden hatte und die Weisen aus dem Morgenlande gekommen waren, so war nun rings um das Schulhaus mit den hohen gotischen Fenstern Jerusalem, und das Schulhaus selbst war der Palast des Pontius Pilatus. Aber seltsam: ein langer Flur des Schulhauses war auch wieder der Saal, in dem der Herr den Zwölfen die Füße wusch und das Brot und den Kelch unter sie teilte. Und der kümmerliche kleine Garten an der Seite des Schulhauses war Gethsemane am Oelberge. Dort sprach er zu Petro: »Ehe denn der Hahn zweimal krähet, wirst du mich dreimal verleugnen!« und Petrus schwur, daß er eher sterben wolle, als ihn verleugnen; dort rang die junge starke Seele des Herrn mit den kommenden Leiden, daß sein Schweiß auf die Erde fiel wie Blutstropfen, und als er zu seinen Gefährten zurückkehrte, fand er sie schlafend! Tränen traten dem kleinen Semper in die Augen, als Jesus sprach: »Könnet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen?« Er hatte treue Jünger und Freunde; aber in seinen schweren Stunden war er allein, ganz allein. Und wieder in einem Zimmer der Schule war die Sitzung des hohen Rats. Da schlugen sie Jesum mit Fäusten, verhöhnten ihn und spieen aus in sein Angesicht. O, das verstand Asmus Semper, den Haß und die Roheit und die tobende Dummheit verstand er, wenn ihm auch nicht bewußt war, warum er sie verstand. Sein kindliches Herz war dem Frevel fern, bei den Leiden Jesu an seine eigenen zu denken; aber den Haß verstand er, er sah ihn, sah seine Augen, seine Zähne in greifbarer Deutlichkeit. Und er verstand es gut, daß Jesus endlich auf ihre Fragen schwieg. Er fühlte in seinem eigenen Halse, wie dem Gepeinigten Schmerz und Scham die Kehle zuschnürten. Asmus Semper wußte es: Was der Heiland auch sagen mochte: sie würden es gegen ihn wenden. Er begriff mit intuitiver Klarheit, daß alle Worte der Unschuld wie Stroh sind im Feuer des Hasses; sie nähren es, und seine rasenden Flammen streuen die Asche höhnend umher.

In der Vorhalle der Schule stand Petrus am Feuer der Kriegsknechte, und eine Magd rief: »Du bist auch einer von denen, deine Sprache verrät dich«, und Petrus fluchte und schwur: »Ich kenne den Menschen nicht«. Da krähte der Hahn zum dritten Male. Und Jesus wandte sich um und sah Petrus an. Das war der eifrigste von seinen Jüngern. Und der Blick des Verlassenen drang durch die Jahrtausende von Judäa her in die Augen des Oldensunder Kindes; noch immer stand Jesus von Nazareth da und sah Asmus Semper an, und seine großen Augen fragten: Hättest du mich nicht verlassen? Und dem Herzen des Knaben ward übel und bang – es konnte nicht »nein« sagen.

Vor dem Portal des Schulhauses aber wogte Getümmel des Volks und die tobende Menge schrie: »Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!« Und aus der großen Mitteltür trat Pontius Pilatus hervor und sprach: »Ich finde keine Schuld an ihm«. Da dankte ihm laut das klopfende Herz des Knaben, und dieses Herz sprang jubelnd der edlen Frau entgegen, die ihrem Gatten sagen ließ: »Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; ich habe im Traume viel gelitten um seinetwillen.«

Aber des Landpflegers Redlichkeit war ein schmaler Nachen auf tobendem Meer; eine Welle griff hinein und warf ihn um. Auf dem Platze vor der Schule, an der nördlichen Seite, war Golgatha, die Schädelstätte. Dort ragten in eine verklärte, schimmernde Luft hinein die drei Kreuze. Und der Heilige sprach in seinen Qualen das liebende Wort: »Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!« Das verstand Asmus nicht, daß er diesen Feinden vergeben konnte, das verstand er nicht. Aber das begriff er, daß der Sterbende die beiden Menschen, die ihm auf der Welt die liebsten gewesen, aneinanderschmiegte und zu ihnen sprach: »Weib, siehe, das ist dein Sohn – siehe, das ist deine Mutter.« Und als der schuldlos Leidende auf dem letzten einsamen Wege noch einen Gefährten fand, als der eine der Schächer sich zu dem Verhöhnten und Verschmähten bekannte – o, da begriff er es gut, daß Jesus mit überquellendem Jubel rief: »Wahrlich, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein!« Dann aber, als Jesus schrie: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!« da zerriß dieser Schrei auch das Herz des Knaben. Das war die furchtbarste Stunde des Gekreuzigten, das fühlte er. Nun glaubte er selbst nicht mehr an sich – nun glaubte er selbst nicht mehr, daß Gott mit ihm sei – nun hatte er das Schwerste erduldet und sein Leben hingegeben und wußte nicht wofür. Nun erst litt er am tiefsten, nun war er ganz allein . . . Das stumme Grauen des Kindes löste sich in mildes Weh, als der Heiland sprach: »Mich dürstet«. Daß er, der Hohe, Heilige, Göttliche, wie ein armes Kind sprach: Mich dürstet, das schüttelte dem Knaben das Herz und trieb ihm wieder Tränen in die starrenden Augen. Die Finsternis, die um die sechste Stunde übers ganze Land gekommen war, bekam einen bleichen Schein, als Christus sprach: »Es ist vollbracht«. Das Licht kam wieder. Aber noch einmal schrie Jesus laut, und es zerrte und riß wieder am Herzen des Knaben, daß der Milde, Stille, schweigend Leidende schrie! Und Jesus schrie: »Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!« und verschied. Da war es Asmus, als wäre die ganze Welt so still wie er, und die ganze Welt hätte nur ein Herz, und dieses Herz der Welt schlug langsam, dumpf und schwer.

»Und der Vorhang im Tempel zerriß von oben an bis unten auf.« Und im Herzen des Asmus Semper zerriß von oben bis unten der Vorhang vor einer neuen Welt: zum ersten Male erschien ihn. der Gedanke des Christentums in der reinen Majestät seines Stifters, mit den lebendigen, rührenden, bezwingenden Zügen des Nazareners, des ewigen Königs der Herzen.

»Es war aber an der Stätte, da er gekreuzigt ward, ein Garten, und im Garten ein neues Grab, in das niemand gelegt war.« Und wieder in dem schmalen, ärmlichen Kräutergarten an der Längsseite des Schulhauses war das Felsengrab, das Joseph von Arimathia sich hatte aushauen lassen, und dieser Joseph und Nikodemus und die Frauen kauften Salben und Spezereien und begruben dort den Herrn.

Wie schön ist die Treue der Wenigen, die in der Trauer um uns sind! Wie Licht, das noch am Abend zu uns kommt!

Und es heißt in der Bibel, daß sie den Sabbath über stille waren nach dem Gesetz. Einen so stillen Tag hatte Asmus noch nie empfunden wie diesen Sabbath. Eine ewige Stille liegt über diesem Tage, eine Ruhe, die Jahrtausende nicht wieder gesehen haben. Und seltsam: es ist nicht die schwere Stille des Schmerzes und Bangens; es ist heitere, leichte Stille, festliche Stille, Erwartungsstille, in der die toten Dinge unserer Umgebung leuchten und leise lächeln, eine gesellige Stille, in der alle Lippen schweigen und alle Herzen reden und alle Gedanken einander zunicken.

Und der Auferstehungsmorgen ist da. Weinend steht Maria vor dem leeren Grabe und meint, der Mann, der hinter ihr steht, wäre der Gärtner. Da spricht er zu ihr: »Maria«. – Da erkennt sie ihn. Mit solcher Liebe spricht nur er. Und über der ganzen Erzählung ist Licht, Licht, das auf allen Dingen liegt und doch an keinem Dinge haftet. Es ist ein springendes, fliegendes, jauchzendes Licht, bald ist es bei den Jüngern, bald bei den Frauen, bald im Grabe, bald bei den Priestern, bald in Jerusalem, bald in Galiläa. Aber am seligsten weilt es auf dem Wege nach Emmaus. Da schreiten zwei Jünger munter hindann, und mitten zwischen ihnen schreitet der Erstandene.

Eine Wolke von Licht umschwebt ihn, und ihre Herzen brennen von seiner Gegenwart; aber sie wissen nicht, von wannen diese Helle kommt. Mit ihnen wandelt selige Morgenschöne, himmlische Begeisterung, heilige Verklärung; aber sie merken nicht, woher die heimliche Freude strömt. Erst in der Herberge, da er das Brot mit ihnen bricht, erkennen sie ihn.

O selige Menschen, die je im Morgenlichte einen Gang nach Emmaus gegangen; den Frieden einer schönen Welt in den Augen, die Freude des heiligen Geistes im Herzen.

Nie in seinem Leben vergaß Asmus Semper den Sonnenschein, der auf dem Wege nach Emmaus lag.

Und immer, wenn er von der ewigen Seligkeit im Jenseits hörte, dachte er an die Seligkeit, in der die Erzählung von der Auferstehung glänzt, an das Licht, das vor dem Felsengrabe lag, als Jesus sprach: »Maria« und Maria, ihn erkennend, ausrief: »Rabbuni!« Die Seligkeit war ihm nicht ein Tun und nicht ein Besitzen; sie war ihm nichts als ein lautloses Leben und ewiges Schauen.

Selbst sein Lehrer erschien ihm nach diesen Geschichten in einem anderen Lichte. Er war durch die Macht und Größe dieser Darstellungen wieder geadelt worden; Asmus konnte ihn wieder mit Gefühlen der Ehrfurcht und der Zuneigung ansehen. Im zweiten Jahre seiner Studien bei Herrn Rösing geschah es aber, daß dieser krank gemeldet wurde und ein junger Lehrer in die Klasse trat, der ihn vertreten sollte. Es war ein langer, magerer, blonder junger Mann in grauem Anzug; er hatte unendlich ehrliche und gerade graue Augen, einen überhängenden rötlichen Schnurrbart und eine nicht sehr kräftige Stimme. Er sah aus, als wenn seine Vorfahren zwanzig Generationen hindurch preußische Beamte gewesen wären und als wenn sich sein Schnurrbart einmal zu einem richtigen greisen Soldatenschnauzbart entwickeln könne. Er las den Kindern den »Postillon« von Lenau vor, was sie sehr überraschte, weil es kein Choral war. Er las es mit bewegter Stimme. Nachdem er mit den Kindern über das Gedicht gesprochen und Asmus oft gefragt hatte, mußte Asmus Semper das ganze Gedicht laut vorlesen. Herr Bendemann – so hieß der junge Lehrer – sah ihn wohl zehn Sekunden lang sehr scharf an und sagte dann: »Das war gut«. Als die Stunde zu Ende war, rief er Asmus Semper zu sich, und es entwickelte sich folgendes Verhör:

»Wie heißt du?«

»Asmus Semper.«

»Wie alt bist du?«

»10¾.«

»Was ist dein Vater?«

»Cigarrenmacher.«

»Hast du Geschwister?«

»Ja, sieben.«

»Was willst du werden?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Nun, das hat ja auch noch Zeit. Setz dich!«

Asmus ging an seinen Platz und Herr Bendemann schritt zur Klasse hinaus.

»Was wollt' er von dir? Was hat er gefragt? Was sollst du?« fragten die Schüler durcheinander.

»Ich weiß es nicht«, sagte Asmus mit einem ziemlich dummen Gesichte.

Er wußte nicht, daß der Mann, hinter dem sich soeben die Tür geschlossen hatte, sein Schicksal war.


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