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Wie Asmus Herrn Bellièvre kennen lernte und danach ein Aufrührer und Räuber wurde.
Eines Tages fand er auf diesen Wegen einen Freund, und das war Christel Bellièvre. Christel Bellièvre war ein Cigarrenmacher von etwa fünfzig Jahren – ganz Oldensund saß voll von Cigarrenmachern. Er war ein Franzose aus dem Elsaß, hatte schwarzes, volles Lockenhaar, das nur wenig angegraut war, einen dicken schwarzen Schnurrbart und war überhaupt ein schöner Mann, wenn er auch jahraus, jahrein denselben Rock trug. Christel war nämlich ein Philosoph von der Art des Diogenes; er brauchte nichts als Brot, etwas Fleisch und Schnaps. Alles andere gab er mit Freuden hin für ein stillseliges Anschauen in der Natur. Er arbeitete regelmäßig und fleißig vier Tage in der Woche; an den übrigen Tagen ging er früh morgens, nachdem er eine große platte Flasche voll klaren Kümmels in seine blank umränderte Rocktasche versenkt hatte, barhaupt hinaus ins Feld, um erst am Abend mit einem schönen, großen Strauß von Blumen und Gräsern zurückzukehren. Ob er überhaupt einen Hut besaß, ließ sich nicht feststellen; die Schuljugend bezweifelte es und hatte ihn deshalb zuweilen zum Besten. Asmus fand das unerhört; er meinte, gegen einen Mann aus einem fremden Lande müsse man besonders freundlich sein; er betrachtete ihn mit neugieriger Ehrfurcht, wie ein ganz anderes, übermenschliches Wesen. Er hatte zu Hause gehört, die Franzosen wären ein sehr höfliches Volk. Nun will ich ihm zeigen, dachte Asmus, daß die Deutschen auch höflich sind, und eines Tages, als der Diogenes von Oldensund sinnend daherwandelte, faßte sich Asmus ein Herz und rief:
»Bonjour, monsieur!« Das hatte er von seinem Vater gelernt.
»Bonjour, monsieur!« erwiderte freundlich der wunderbare Mann, »est-ce que vous parlez français?«
Nein, das tat Asmus nicht, und die Unterhaltung mußte deutsch weitergeführt werden. Aber von jetzt ab rief Asmus jedesmal, wenn er den Philosophen daherkommen sah, schon von weitem:
»Bonjour, monsieur, comment allez-vous?«
»Fort bien, mon ami, fort bien!« rief dann jener zurück und winkte ihm lebhaft mit der Hand, und dann redeten sie deutsch miteinander. Christel Bellièvre wußte Vogelnester zu finden, und er hob seinen Freund in die Höhe und ließ ihn hineinsehen; im Sommer verstand er sich so gut auf Brombeeren, daß Asmus ganze Mützen voll nach Hause trug, und im Herbst zeigte er sich als Spezialist für Haselnüsse. Ueberhaupt lenkte er Asmussens Natursinn, der immer geflügelt über den Dingen dahinschwebte, auf die Realitäten der Natur; aber Asmus fand dennoch keine Vogelnester und keine Haselnüsse; höchstens brachte er's zu einigen Brombeeren, wenn sie ihm fast in den Mund hingen. Aber der Umgang hatte noch anderen Ertrag. Wenn der Franzose mit sinnigem Bedacht die gepflückten Blumen und Blätter zu einem mächtigen Strauße ordnete oder durch die hoffnungsgrüne Flasche zum Himmel hinaufblickte und »Kluck, kluck, kluck« machte, dann betrachtete Asmus ihn im stillen von der Seite. »Er hat auch fünf Finger an der Hand«, dachte er bei sich, »und gerade solche wie wir. Und wenn er schluckt, dann tanzt seine Gurgel auf und ab, genau wie bei uns. Solche Augen und solche Nase wie unsere hat er auch. Nur die Ohrmuscheln sind bei den Franzosen anders. Wenn aber Christel seine Flasche geleert hatte und sich zu langer, langer Ruhe ins Gras streckte, dann, unter der destillierenden Kraft der Mittagssonne, begann der Geist in ihm zu schwärmen, und er sprach einmal übers andere mit schwermütigem Pathos den Einleitungssatz des »Emile« vor sich hin:
»Tout est bien, sortant des mains de l'auteur des choses; tout dégénère entre les mains de l'homme.«
Asmus fragte ihn, was das heiße, und Christel sah ihn bedeutend an und sprach:
»Alles, mein Sohn, ist gut, wenn es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht; alles, das merke dir wohl, mein Sohn, alles entartet unter den Händen des Menschen.«
Asmus verstand es nicht so recht; aber er fand es sehr gut, weil es so gut klang, so entschieden und so kräftig. Und noch viel mehr Freude machte ihm die Marseillaise, von der er sich die ganze erste Strophe gemerkt hatte, ohne daß er ein Wort davon verstand. Ludwig Semper war nicht wenig überrascht, als sein Söhnchen eines Tages singend zur Tür hereinkam mit
Allons, enfants de la patrie, Le jour de gloire est arrivé |
aber als der Junge immer weiter sang. da blitzten die Ludwig Semperschen Augen hell aus, und Vater und Sohn sangen wie aus einem Munde:
Aux armes, citoyens! Formez vos bataillons! Marchons, marchons, Qu'un sang impure Abreuve nos sillons! |
und dann lachte Ludwig Semper von ganzem Herzen.
Aber Frau Rebekka verbot dem Knaben das Marseillaisesingen auf das entschiedenste. Wenn die Polizei das höre, dann stecke sie ihn ins Gefängnis, meinte sie. Vor der Polizei aber hatte Asmus als deutsches Kind einen mit Schauder untermischten Respekt. Im »Kurzen Elend« hatte er ein paar mal von weitem und mit Grausen Herrn Lüthje gesehen. Herr Lüthje war ein blau und roter Mann mit blanken Knöpfen, einem Säbel und einem dicken, eiergelben Bambusstock. Die Jugend von Oldensund hatte ihm in Verehrung einen Vierzeiler gewidmet, und der lautete also:
»Lüthje mit den Eiergeel Sleit de Kinner gar to veel; Alltoveel is ungesund, Lüthje is'n Schinnerhund.« |
Seit der Zeit stellte sich Asmus unter »Polizei« einen Mann vor, der auf die Straße geht und sucht, wo er Kinder hauen könne. Und vollends mit Entsetzen dachte er ans Gefängnis. Das war ein Haus mit eisernen Gittern vor den Fenstern, und Fritz Dorn, der Spaßvogel, hatte ihm erzählt, die Leute, die im Gefängnis säßen, kriegten nichts als vergiftete Klöße zu essen. Heimlich krochen seine Blicke seitwärts nach jedem vergitterten Kellerfenster, wenn er durch die Straßen von Altenberg ging, und mit kaltem Gruseln dachte er an den da drinnen geltenden immerwährenden Speisezettel.
Asmus hörte, daß die Marseillaise ein Revolutionslied sei, und Revolution – das hatte er schon gelegentlich einmal aufgefangen – Revolution, das war so etwas wie Krieg, wie Kampf mit Säbeln und mit Flinten. Also etwas großartig Schönes. Und er sollte bald Gelegenheit finden, seine Kampflust zu befriedigen. Das Holstenloch war eine geheimnisvolle Gegend: Hatte es an einem Ende eine leblose Färberei und einen bodenlosen Teich, so lag am andern eine ungeheure Gartenwirrnis mit zahllosen gänzlich verwilderten Obstbäumen, und in dem Garten, fast ganz verborgen, ein langgestrecktes düsteres Gebäude mit hohen Rundbogenfenstern, das ehemals eine Cichorienfabrik gewesen war, und nun aussah wie eine tote Kirche ohne Turm. Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß auf solchem Boden das Räuberwesen üppig gedieh. Und schon wenn die Rollen im Räuber- und Soldatenspiel verteilt wurden, flammten die Gemüter und brannten die Augen. Für eine Räuberstelle waren immer Bewerber da, für eine Soldatenstelle nie; zum Schergendienste mußte kommandiert werden. Der Geist der Auflehnung gegen die bürgerliche Weltordnung war schon in diesen Schwachen mächtig. Auch Asmus faßte eine tiefe Neigung zum Räuberberuf. Was konnte schöner sein, als verborgen und versteckt im Gezweige eines Baumes sitzen und der »toten Kirche« in die hohlen Augen zu starren oder verächtlich zu lachen über die dumme und feige Soldateska, die suchend auf dem Bauche durchs Buschwerk kroch, oder sich in der Fabrik zu verschanzen, bereit, die Freiheit bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen, und dann durch die Fensterhöhlen hinauszuschießen, während die Belagerer – kling, bumm, klirr! – durch die Scheiben hereinschossen? Und obwohl Asmus der Räuber allerkleinster war, so hielt er es doch für höchstes Gebot der Räuberehre, sich bis aufs äußerste zu wehren, und wenn die Söldner ihm dennoch nach kurzem Kampfe die Hände auf den Rücken banden, so empfand er das mit vollem Ernst als eine bittere Schande und knirschte in sich hinein. Einfach uneinnehmbar war aber das Haupt der Bande, ein fünfzehnjähriger, langer Schlingel, der mit seinen zwei Armen um sich schlug wie eine tobsüchtige Windmühle und sich lieber Jacke und Hemd vom Leibe reißen ließ, als daß er sich ergab. Er war das erhabene Vorbild aller und genoß eine tiefe Verehrung, auch um anderer Künste und Tugenden willen.
Er konnte fabelhaft rauchen. Eine großmächtige Deckelpfeife, wie sie die Jäger rauchen, nannt' er sein eigen, und wenn er nicht gerade als Räuberhauptmann aktiv war, so rauchte er sie ununterbrochen, ohne auch nur einen Augenblick zu erbleichen. Wenn der Kampf ausgetobt, die Gemüter sich beruhigt hatten und das schleierleichte Dunkel der Sommernacht hereinbrach, dann lagerten sich Räuber und Soldaten friedlich auf dem Boden im Schatten eines Bretterschauers oder Weißdornbusches und bildeten einen Kreis um den Patriarchen mit der Deckelpfeife. Was die Mittel dazu hatte, das rauchte, sei es nun Shag oder Portorico (petum optimum subter solem) Cigarren zu 2½ Pfennigen oder Cigaretten zu 1 Pfennig, Weißdornlaub oder ein Stück von einem Rohrstock. Ehrfurchtsvolles Schweigen beherrschte die Runde, wenn der Patriarch redete. Er erzählte furchtbare Geschichten von den Greueln, die hier und dort und da verwegene Räuberbanden verübt hatten, und ausnahmslos endeten diese Geschichten damit, daß die Verbrecher gefangen wurden, daß man ihnen den Rücken und dessen Verlängerung an hundert Stellen einkerbte und dann Salz und Pfeffer in die Wunden streute. Alle empfanden das als einen erfreulichen Sieg der Tugend und Gerechtigkeit; aber wenn es ans Spielen ging, fühlten doch alle wieder räuberisch. Es waren weihevolle Abende, und für Asmus war einer noch besonders schön, das war jener, wo er zum ersten Male eine vergessene halbe Cigarre seines Vaters zu Ende rauchte. Sie tat ihm nichts; er war wohl so mit den Säften und Düften des Tabaks durchtränkt, daß er gegen sein Gift immun war. Aufgeräumt und kühn trat er zu Hause an seine Mutter heran und erzählte ihr von seinen Heldentaten.
»Du verdrehter Junge«, rief Rebekka Semper laut, »du hast geraucht!«
»Ich? Nein – ich –«
Aber Frau Rebekka war ein prompter Jurist; sie pflegte Untersuchung, Anklage, Verhandlung, Urteil und Strafvollzug in einem Termin abzumachen und gab ihrem Söhnchen eins hinter die Ohren. Es tat nicht sehr weh, machte aber auf Asmus einen nachhaltigen Eindruck, und in Zukunft, wenn er aus dem Rate der Männer nach Hause kam, bewahrte er zwischen sich und der Mutter eine so große Distanz, daß sie seinen Atem nicht spürte.