Otto Ernst
Asmus Sempers Jugendland
Otto Ernst

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Zweites Buch.

XXI. Kapitel.

Vom Frankfurter Frieden und von der Offendorfer Schlacht, von neuer Liebschaft und vom süßen Kringel.

Um dieses Kapitel mit einer jener in Romanen so wohl angebrachten retrospektiv-geschichtsphilosophischen Betrachtungen zu beginnen:

Als die kriegführenden Mächte im »Weißen Schwan« zu Frankfurt Frieden schlossen, da ahnten sie wohl nicht, daß infolge dieses Friedens die Semperische Familie eines Tages ihr Mittagessen zwei Stunden zu spät bekommen werde. Und doch geschah es also. An diesem Tage nämlich sprach Frau Semper zu ihrem Asmus in munterer Laune:

»Trudel, lauf mal schnell nach Altenberg zu Maßmann und hol' mir ein halbes Pfund Sago zu Mittag!«

Von »schnell laufen« konnte nun schon um deswillen gar nicht die Rede sein, weil auf dem Wege zu Herrn Maßmann Herr Puttfarken wohnte. Das Haus des Herrn Puttfarken war vielleicht das poetischste in ganz Oldensund, obwohl »Puttfarken« in der Sprache der Gebildeten so viel heißt wie »Topfferkel« und das Haus ein viereckiger Steinkasten war, dessen Fenster vom frühen Morgen bis zum späten Abend durch Läden verschlossen blieben. Die Läden waren aber zuweilen nicht fest geschlossen, oder es waren Astlöcher und Rillen darin, und wenn man ausdauernd genug durch solche Löcher und Rillen in das Dunkel des Raumes hineinblickte, dann entdeckte man, daß der öde Steinkasten des Herrn Puttfarken nicht mehr und nicht weniger war als ein ungeheures Spielwarenlager. Da lagen die Pferde und Wagen und Trompeten und Trommeln in allen Größen und gleich zu Dutzenden; dagegen sah oder hörte man nur selten Menschen, geheimnisvoll auftauchende und plötzlich verschwundene Menschen in diesen Räumen, und Asmus neigte sehr zu der Anschauung, daß man es hier mit einer der Niederlagen des Weihnachtsmannes zu tun habe, und wahrscheinlich war der reiche Herr Puttfarken, den kein Mensch jemals in Oldensund gesehen hatte, kein anderer als der Knecht Ruprecht. Auch heute bohrte Asmus seine Augen wieder in das wunderträchtige Dunkel und untersuchte lange, ob die berittenen Soldaten dort bei der Festung Kavallerie oder Artillerie wären. Er kam zu keinem Resultat und ging endlich seinen Weg weiter. Er kaufte den Sago und wählte der Abwechslung wegen einen anderen, einen Umweg, zur Rückkehr. Als er aber an den Bahnhof kam, da riß er die Augen auf. Da waren Soldaten, unzählige Soldaten in blanken Helmen; hier standen sie Gewehr bei Fuß, und dort präsentierten sie, und dort hatten sie die Gewehre zusammengestellt, sich in Gruppen gelagert, um zu schwatzen und zu lachen und belegte Butterbröte zu essen und Bier zu trinken und zu rauchen. Sie hatten Helm und Brust mit Eichenlaub geschmückt. Das neunte Armeekorps unter General von Manstein war aus Frankreich zurückgekehrt. Asmus traf einen Schulkameraden, der zeigte ihm einen Hauptmann, der vor seiner Kompagnie auf und abspazierte, und sagte: »Ich glaub', das ist der General von Manstein.« Asmus glaubte es auch und dachte: »Das ist ein General. So sieht ein General aus. Ja, man sieht es gleich; die andern müssen ihm alle gehorchen.« Aber bald sah er einen, der hatte Fransen an den Schultern, da dachte er: das ist gewiß der General; dann kam einer daher, der hatte eine silberne Schärpe um den Leib und lange, silberne Quasten am Degen: nun war er gewiß, den General erwischt zu haben; aber dann gab es immer noch Schönere, und nach und nach sah er wohl an die fünfzig Generäle, und Soldaten sah er immer neue, je weiter er ging; an derselben Stelle, wo er vor dreiviertel Jahren Kanonen, Kanonen, schwarze Kanonen gesehen hatte, da sah er jetzt Soldaten, Soldaten, lachende, fröhliche, geschmückte Soldaten unter einer heißen, goldenen Mittagssonne, und die gepreßte Sagotüte in seiner heißen Hand wurde immer wärmer und weicher, und nun bemerkte er, daß ein paar Soldaten über ihn lachten, und einer fragte ihn im treuherzigsten Holsteiner Platt:

»Na, min Jung, seiest du Klümp (säest du Klöße)?«

Und erst da ward er inne, daß er ein Loch in die Tüte gedrückt hatte und daß ein dünner, weißer Streifen seinen Spuren folgte. Mit einer zweistündigen Verspätung kam er im Elternhause an, und als eine weitere, von Bismarck nicht bedachte Folge des Frankfurter Friedens ergab sich, daß Asmus von der bis obenhin mit Blut angefüllten Rebekka Semper einen sehr gut gemeinten und exekutierten Schlag an den Hals bekam.

Eine fernere Folge des Friedens war die Mobilmachung in Oldensund. In einer strohdachüberhangenen Kathe lebte ein jugendliches Talent, das aus Pappe und buntem Papier vorzügliche Tschakos und Säbelscheiden machen konnte, und dieses Talent bewaffnete die Jugend von Oldensund. Die Ausrüstung eines Gemeinen kostete einen Schilling, die eines Offiziers zwei – also eine militärische Simonie in schlimmster Form. Da er die Scheiden und Helme klebte, so reservierte er sich auch die Stelle des obersten Kriegsherrn und Generals, und weil er eine Trommel besaß, die er nicht herausrücken, sondern gern selbst schlagen mochte, so versah er zugleich die Stelle des Tambours. Asmus, der nur einen Schilling aufbringen konnte, wurde linker Flügelmann der Gemeinen; sein Bruder Alfred brachte es mit 1½ Schillingen wenigstens zum Sergeanten. Jeden Abend fanden Uebungen mit leidenschaftlichem Trommeln und Pfeifen statt. Man wußte noch nicht, gegen wen es gehen werde; aber es lag wie eine Ahnung in der Luft, daß es wieder gelten werde, gegen den alten Erbfeind, die benachbarten Offendorfer zu marschieren. Und richtig: eines Sonntags vernahm Asmus irgendwoher aus der Luft – er wußte später selbst nicht, woher –, daß sich bei der Rolandsmühle Offendorfer gezeigt hätten. Wie ein Lauffeuer rannte Asmus durchs ganze Dorf und alarmierte die Oldensunder Armee. Er war tief davon durchdrungen, eine heilige Sache zu verfechten, und war tief empört über diese schändlichen Offendorfer, die die Frechheit besessen hatten, sich bei der Rolandsmühle zu zeigen. Das Heer rückte aus, und bei der Rolandskuhle, auf hügeligem Gelände, tobte die Schlacht. Der Ausgang war der, daß die Offendorfer wichen und Asmus, tapfer bis zur Besinnungslosigkeit, von einem großen Stein über dem rechten Auge getroffen wurde. Er kam mit einem gänzlich verschwollenen Auge heim, während der General Pappenheim, der, wie es sich für einen Strategen schickt, den ganzen Kampf von einem entfernten Posten aus geleitet hatte, als unbeschädigter Sieger zurückkehrte.

Als diese Dinge sich begaben, wohnten die Sempers schon wieder anderswo, und zwar hatten sie diesmal wieder drei nette Stuben und eine richtige Küche bezogen, die ganz in der Nähe des Holstenloches in einer richtigen Straße lagen. Denn jetzt, als alle Gewerbe infolge des glücklichen Krieges einen schnellen Aufschwung nahmen, kam auch für Ludwig Semper und die Seinen eine Periode – man möchte fast sagen: des Reichtums. Ihre Ueppigkeit gedieh so weit, daß sie sich ein altes Sofa und einen alten Spiegel zulegten, die in der Familie und bei den Nachbarn allgemeine Bewunderung erregten, und daß sich Johannes, der nun richtigen Gesellenlohn bekam, eine Guitarre kaufte samt einer Schule, aus der er das köstliche Spiel erlernen wollte. Und für Ludwig Semper kam eine Zeit, die mit Ausnahme der Steuer- und Mietetermine beinahe sorgenlos war, eine Zeit wonnevoller Morgenstunden. In unbegreiflichem Widerspruche zu seiner ganzen Lebensauffassung war Ludwig ein konsequenter Frühaufsteher, und je älter er wurde, desto früher erhob er sich von seinem ärmlichen Lager, Bett genannt. Dann braute er sich selbst den Kaffee, goß die große Tasse so voll, daß der duftende Trank in die Untertasse lief, erfreute sich innig an diesem Bilde des Ueberflusses, aß eine knusprige Semmel mit Butter dazu, brannte sich eine Cigarre an und lehnte dann eine halbe Stunde im offenen Fenster und schwieg andächtig in den Morgen hinaus. Eine halbe Stunde lang sah er dem Morgen ins ewig junge Angesicht, und Ludwig Semper und der Morgen schwiegen einander an und waren voll göttlichen Friedens.

Je wohler er sich fühlte, desto tiefer liebte Ludwig Semper zu schweigen. Oft zur Verzweiflung Rebekkens. Sie war durchaus keine Freundin vom Schweigen und klagte Kindern und Freunden ihre Not. »Wozu hat der Mann nun so viel gelernt!« rief sie aus. »Den ganzen Abend sitzt er einem gegenüber und bewegt die Lippen und rollt die Augen und sagt kein Wort. Und er kann doch wahrhaftig sprechen. Der Mann kann Englisch und Griechisch und Spanisch –«

»Na, na!« rief der Gepriesene dazwischen; »es ist nur halb so schlimm.« –

Es war ein Glück, daß die Brunnenstraße so nah' beim Holstenloch lag. Denn im Holstenloch wohnte seit einigen Wochen die neunjährige Christiane, und Asmussens Herz lag wieder einmal in zarten Fesseln. Sie war schlank und zierlich, und das gefiel Asmus um so mehr, als er dick und rund war und sich selbst durchaus nicht gefiel. Anfangs hatte sie ihn ausgelacht und ihn geneckt; aber als sie einmal mit ihm gespielt hatte, wollte sie immer mit ihm spielen oder mit ihm plaudern. Einmal balgten sie sich im Scherz, und als er ihre Handgelenke umklammert hatte und ihre Hände in die Höhe zwang, da durchzuckte ihn plötzlich ein Gefühl, das er noch nie empfunden hatte. Mit einem Male fühlte er: sie ist ein Mädchen – sie ist ein anderer Mensch als du. Er verband nicht die blasseste Vorstellung mit diesem Gefühl; es war nichts als Gefühl. Er hatte sie plötzlich losgelassen, war ganz rot geworden und stand da und wußte nicht, was er mit sich anfangen sollte. Sie wollte die Balgerei fortsetzen; aber er ließ die Arme am Leibe herunterhängen und lächelte einfältig. Und von nun an wagte er nie wieder, sie anders als an den Händen zu berühren; aber er war eifrig bemüht, sich vor ihr in glänzendem Lichte zu zeigen. Wenn sie zugegen war, gab er sich als Raufbold, wozu er sonst gar keine Anlage besaß, und es sollte eine Huldigung für sie sein, als er sieben Fuß hoch von der Stellage eines Neubaues heruntersprang. Aber auch durch die feineren Reize der Gelehrsamkeit suchte er ihr zu imponieren. Er hatte in der neuen Klasse, in die er versetzt worden war, die Sonntage der Passionszeit gelernt und sagte sie ihr mit großen Erwartungen her: »Invocavit, Reminiscere, Oculi, Laetare, Judica, Palmarum.« Aber sie rief geringschätzig: »Ach, das kann ich auch!« und fuhr fort mit den Sonntagen aus den fünfzig Tagen der Fröhlichkeit: »Quasimodogeniti, Misericordias domini, Jubilate, Cantate, Rogate, Exaudi.« Er fühlte sich tief gedrückt; die sechs Sonntage waren das Feinste, was er ihr zu bieten hatte. Aber er kehrte jeden Abend zu ihr zurück, und als er ihr mit »Emilia Galotti« und mit der »Entführung aus dem Serail« kam, da hatte er Ueberwasser, da ging ihr die Luft aus, und sie sah mit Bewunderung zu ihm empor.

Um dieselbe Zeit war es, daß ihn eines Sonntags ein männlicher Spielkamerad einlud, nach dem »Süßen Kringel« mitzukommen.

»Komm mit nach 'm »Süßen Kringel«, sagte er, »da ist Tanzmusik, wir wollen . . . .«, und er schloß den Satz mit einer groben Zote.

Hocherfreut sprang Asmus hinauf zu seiner Mutter.

»Mutter, darf ich mit Ferdinand nach dem »Süßen Kringel«? Da ist heute Tanz –« und er hatte die Unflätigkeit seines Spielgenossen so wenig verstanden, daß er sie offenen Angesichts seiner Mutter wiederholen wollte, als diese schon rief:

»Nein, dazu ist es zu spät; wir wollen gleich Abendbrot essen.«

Wäre er dazu gekommen, jene Worte auszusprechen, so würde Rebekka Semper auf eine tiefe Verdorbenheit ihres Kindes geschlossen haben.


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