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Dritter Abschnitt.
Wie einen alte Bekannte überraschen können

Als Gretchen wieder nach Haus kam, erzählte ihr die Mutter ganz wunderbare Dinge von Tante Glegg. In den Tagen, wo Gretchen verschollen gewesen, hatte Frau Glegg die Läden halb geschlossen und die Vorhänge herniedergelassen; sie glaubte bestimmt, Gretchen sei ertrunken; das war ihr viel wahrscheinlicher, als daß ihre Nichte und theilweise Erbin etwas gethan haben sollte, was die Ehre der Familie in ihrem zartesten Punkte verwundete. Als sie dann endlich von Tom den wirklichen Sachverhalt und ihre Rückkehr erfuhr, erging sie sich in den heftigsten Vorwürfen gegen ihn, daß er von seiner Schwester gleich ohne Noth das schlimmste glaube. Wenn man nicht zu seiner »Verwandtschaft« stehen wolle, so lange noch ein Fetzen Ehre daran sei, zu wem solle man denn stehen?! Von einem Verwandten leichthin böse Nachrede zu glauben, meinte sie, sei niemals Dodson'sche Art gewesen, und obschon sie immer vorausgesagt habe, an Gretchen würden sie noch mal was erleben, – ehrlich Spiel müsse sein, und ihre eigenen Freunde dürften ihr nicht den guten Namen rauben helfen und sie aus dem Schutze der Familie in die böse Welt verstoßen, so lange sie nicht ganz unzweifelhaft ihnen zur Schande gereiche. So etwas hatte freilich weder Frau Glegg selbst je erlebt noch war es unter den Dodson's sonst je vorgekommen, aber es war ein Fall, wo die angeborne Gradheit und Tüchtigkeit ihres Charakters mit ihren Grundanschauungen von Verwandtschaft Hand in Hand ging. Sie zankte mit ihrem Manne, der aus lauter Mitleid mit Lucie über Gretchen so hart urtheilte, wie Deane selbst, wüthete gegen Schwester Tulliver, daß sie nicht sofort bei ihr Rath und Hülfe suchte, und schloß sich mit Baxters »Ruhe der Heiligen« den ganzen Tag in ihrem Zimmer ein, bis ihr Mann die Nachricht von Stephan's Brief brachte; da fühlte sie sich jedem Angriff gewachsen, legte die »Ruhe der Heiligen« beiseit und erwartete was etwa an Feinden sich zeigen möchte. Während die gute Frau Pullet nichts that als den Kopf schütteln und weinen und ausrufen: wenn doch Vetter Abbot gestorben wäre und wer sonst noch wolle, lieber als daß sie dies erleben müßte, was noch nie bei ihnen erlebt sei, so daß man gar nicht wisse, was man thun solle, und in der Stadt könnte sie sich nie wieder sehen lassen, weil alle Bekannten drum wüßten – währenddem meinte Frau Glegg, sie hoffe nur, die Nachbarin so und so und die und die würden mit ihrem Klatsch zu ihr kommen; denen wollte sie schon gehörig dienen.

Mit Tom hatte sie noch einmal eine tüchtige Scene, die um so heftiger war, als sie sich jetzt in einer so viel günstigeren Position befand. Aber Tom schien wie alle unbeweglichen Dinge in der Welt nur um so hartnäckiger fest zu sein, je mehr man an ihm rüttelte. Der arme Tom! Sein Urtheil ging, so weit und so tief er sehen konnte, und für ihn selbst war es peinlich genug. Aus jahrelanger Beobachtung glaubte er die Gewißheit seiner eigenen – wie er meinte – unantastbar zuverlässigen Augen zu haben, daß Gretchen äußerst unzuverlässig und zu tief mit bösen Neigungen behaftet sei, als daß man gegen sie milde sein dürfe; nach dieser Gewißheit wollte er um jeden Preis handeln, aber der Gedanke daran verbitterte ihm jede Stunde seiner Tage. Gleich uns allen lag Tom in den Banden seiner eigenen Natur, und was er an Erziehung gehabt hatte, war nur eben mit fast unmerklicher Wirkung über ihn weggeglitten; wer hart sein will gegen seine Härte, der bedenke, daß Duldung von denen gefordert wird, die den weitesten Blick haben. Eine Abneigung gegen Gretchen war in Tom aufgestiegen, deren Stärke grade aus der innigen Liebe der Kinderjahre sich erklärte, wo sie noch ihre kleinen Händchen in einander verschlungen hatten, und aus der späteren Gemeinschaft in Noth und Kindespflicht. So fand denn Tante Glegg in diesem Sproß der Dodsons eine stärkere Natur als sie selbst war – eine Natur, in der der Familiensinn den Charakter der Stammverwandtschaft verloren und die tiefere Färbung des persönlichen Stolzes angenommen hatte. Daß Gretchen Strafe verdiente, leugnete Frau Glegg nicht – dazu war sie wahrlich nicht die Frau und wußte zu gut, was sich schickte, aber die Strafe sollte im Verhältniß zu den erwiesenen Thatsachen stehen, nicht zu dem, was andere Leute ihr nachsagten, vielleicht nur nachsagten, um ihre eigene Familie in ein besseres Licht zu stellen.

»Schwester Glegg hat mich so fürchterlich ausgescholten, Kind«, sagte die arme Frau Tulliver bei der Rückkehr, »daß ich sie nicht gleich aufgesucht habe; sie meinte, sie solle doch wohl nicht zuerst kommen. Aber recht wie eine Schwester hat sie gesprochen; rechthaberisch ist sie wohl immer gewesen und schwer zu befriedigen – das weiß der liebe Himmel! – aber über Dich hat sie so freundlich gesprochen, wie was sein kann. Sie machte zwar nicht gern Umstände, meinte sie, und gäbe nicht gern mehr Löffel heraus und alles, aber ihr Haus stände Dir offen, wenn Du ordentlich zu ihr kämest, und gegen die fremden Leute wollte sie Dir schon beistehen. Und als ich ihr sagte, ich glaubte nicht, daß Du außer mir jemand sehen und sprechen möchtest, so hätte Dich die unglückliche Geschichte angegriffen, da meinte sie: »Von mir soll sie kein böses Wort hören; die kriegt sie schon genug von andern Leuten; blos guten Rath will ich ihr geben, und demüthig muß sie sein«. Es ist ganz wunderbar von Hannchen; mir hat sie früher immer alles vorgeworfen, wenn was nicht recht war – ob's der Johannisbeerwein war, wenn er mal nicht so gut ausfiel, oder wenn die Pasteten zu heiß waren, oder 's mochte sonst was sein.«

Das arme Gretchen bebte vor dem bloßen Gedanken an jede Berührung ihres kranken Gemüthes zurück und erwiderte daher: »Ach, Mutter! sag' der Tante lieber, ich wäre ihr recht dankbar – ich will sie auch besuchen, sobald ich kann, aber jetzt kann ich noch keinen Menschen sehen, außer Pastor Kenn. Eben bin ich bei ihm gewesen; er will mir rathen und helfen, daß ich Beschäftigung finde. Bei andern wohnen mag ich nicht; ich will unabhängig bleiben – das sag' der Tante; ich muß mir selbst mein Brod verdienen. Aber, Mutter, hast Du nichts von Philipp gehört – von Philipp Wakem? hat Dir keiner was von ihm gesagt?«

»Nein, Kind; aber bei Deane's bin ich gewesen und habe den Onkel gesprochen, und er sagte, sie hätten Lucien den Brief vorgelesen und sie hätte ordentlich zugehört, nähme auch wieder Notiz von Fräulein Guest und fragte nach manchem, und der Doktor meint, sie wäre auf der Besserung. Was das für 'ne Welt ist! was wir für Noth erleben! Mit dem Prozessiren da fing's an, und grade als das Glück sich zu wenden schien, da wurd's mit einem Male am allerschlimmsten!«

Dem armen Gretchen schnitt das in's Herz; es war die erste Klage, die der Mutter entschlüpfte; der Besuch bei Schwester Glegg hatte die alte Gewohnheit wieder wach gerufen.

»Du gute, arme Mutter!« rief Gretchen und fiel ihr leidenschaftlich um den Hals, »ich bin immer eine rechte Last und Plage für Dich gewesen. Wie glücklich könntest Du jetzt sein, wenn ich nicht wäre!«

»Ei, Kind«, sagte die Mutter und lehnte sich an die warme junge Wange, »seine Kinder muß man nehmen wie sie sind; ihr seid die einzigen, die ich habe, und wenn ihr mir Unglück bringt, liebhaben muß ich euch doch; was sollte ich sonst wohl liebhaben – meine Möbel sind schon lange in die weite Welt. Und früher dachte ich auch, Du würdest recht gut; ich kann's nicht begreifen, wie es so verkehrt gekommen ist.«

Noch zwei oder drei Tage vergingen, und Gretchen hörte noch immer nichts von Philipp; endlich faßte sie in ihrer Herzensangst Muth, sich bei Pastor Kenn zu erkundigen; aber dieser wußte nicht einmal, ob Philipp in der Stadt sei, und konnte ihr nur sagen, der alte Wakem fühle sich in seinem Stolze schwer gekränkt, da er unvorsichtig genug gewesen, in der Stadt von den Heirathsaussichten seines Sohnes zu sprechen, und werde jetzt bei jeder Nachfrage förmlich wild. Krank sei Philipp schwerlich; davon würde man durch den Arzt gehört haben; wahrscheinlich sei er verreist. Gretchen litt tief unter dieser Ungewißheit, und ihre Einbildungskraft war unaufhörlich geschäftig, sich auszumalen, was er wohl litte. Und was mochte er von ihr denken?!

Endlich brachte ihr Bob einen Brief ohne jedes Postzeichen, die Adresse in einer wohlbekannten Handschrift – vor langer Zeit hatte dieselbe Hand ihren eigenen Namen in eine Taschenausgabe von Shakespeare geschrieben, die sie noch besaß. In heftiger Aufregung eilte Gretchen auf ihr Zimmer und las mit klopfendem Herzen:

 

»Gretchen, ich glaube an Dich – ich weiß, Du hast mich nicht täuschen wollen – ich weiß, Du hast treu sein wollen, mir – uns allen. Ich habe das geglaubt, ehe ich einen andern Beweis hatte als Deine eigene Natur.

Die Nacht, nachdem ich Dich zuletzt gesehen, habe ich furchtbare Qualen erlitten. Aus eigener Anschauung hatte ich mich überzeugt, Du seist nicht frei – die Nähe eines andern hatte eine Gewalt über Dich, welche die meinige nie besaß, aber durch alle Raserei der Eifersucht, die fast zu Mordgedanken sich verstieg, bahnte mein Geist sich den Weg zu dem Glauben an Deine Treue. Ich fühlte, Du wolltest mir treu bleiben, wie Du mir gesagt hattest – ich war gewiß, Du hattest ihn abgewiesen, Du hattest gerungen, um Luciens und um meinetwillen ihm zu entsagen. Aber ich sah keinen Ausweg, der für Dich nicht schlimm wäre, und diese Besorgniß verwehrte jeden Gedanken an Entsagung. Ich sah vorher, er würde nicht von Dir lassen, und ich glaubte damals, wie ich's jetzt glaube, daß die starke Anziehung, die euch zu einander führte, nur von einer Seite eures Wesens ausging und sich aus der getheilten Thätigkeit unserer Natur erklärt, welche an der Tragödie des Menschenlebens die halbe Schuld trägt. Ich habe Saiten in Deinem Wesen anklingen hören, die ich bei ihm immer vermißte. Aber vielleicht irre ich mich; vielleicht fühle ich bei Dir, was der Künstler bei einer Scene fühlt, über die seine Seele mit ganzer Liebe nachgedacht hat: er würde zittern, sie andern Händen anvertraut zu sehen, würde nie glauben, daß sie für einen andern die Bedeutung, die Schönheit haben könne, wie für ihn selbst.

Ich wagte nicht – ich getraute mir's nicht, Dich den Morgen zu sehen, so erfüllt war ich von selbstischer Leidenschaft, so zerschlagen von der bewußten Raserei jener Nacht. Wie ich Dir schon früher sagte, habe ich mich nicht einmal in die Mittelmäßigkeit meiner Fähigkeiten ergeben; wie hätte ich mich in den Verlust des Einzigen ergeben können, was mir je auf Erden so hohe Freude versprach, daß sie dem früheren Leid einen neuen und köstlichen Sinn gab – mir ein zweites Selbst versprach, welches mein krankes Empfinden zu der himmlischen Entzückung eines ewig quellenden, ewig gestillten Sehnens erheben sollte?!

Aber die Qualen jener Nacht hatten mich auf das vorbereitet, was der nächste Tag brachte. Mich überraschte es nicht. Ich war gewiß, er habe Dich überredet, ihm alles zu opfern, und mit gleicher Gewißheit wartete ich auf die Nachricht, ihr wäret verheirathet. Ich maß Deine Liebe und seine nach meiner eigenen. Aber ich hatte Unrecht, Gretchen. Es giebt in Deinem Innern eine stärkere Macht, als die Liebe zu ihm.

»Was ich in der Zwischenzeit durchgemacht habe, davon laß mich schweigen. Aber selbst im tiefsten Jammer – selbst in den schrecklichen Todesqualen, welche die Liebe bestehen muß, ehe sie alles selbstischen Verlangens sich entäußern kann – war meine Liebe zu Dir mächtig genug, mich vom Selbstmord zurück zu halten. Mitten in meiner Selbstsucht konnte ich doch den Gedanken nicht ertragen, daß mein düstrer Schatten Deine Freude störe – konnte ich es nicht über mich gewinnen, aus der Welt zu gehen, in der Du noch lebtest und mich vielleicht nöthig hättest; auszuhalten, auszuharren – das gehörte für mich zu der Treue, die ich Dir gelobt. Gretchen! das sei Dir ein Beweis dessen, was ich Dir nun versichre – daß mir kein Schmerz, den ich um Dich habe tragen müssen, ein zu hoher Preis für das neue Leben gewesen ist, welches mir die Liebe zu Dir erschlossen hat. Allen Kummer, den Du um meinen Kummer gehabt hast, den laß fahren. In dem Gefühl der Entbehrung bin ich aufgewachsen, habe nie auf Glück gerechnet, und in der Bekanntschaft mit Dir, in der Liebe zu Dir habe ich gefunden und habe ich noch, was mich mit dem Leben versöhnt. Du bist mir gewesen, was Licht und Farbe dem Auge, Musik dem Ohr ist; was trüb und unstet in mir war, hast Du zu lebensvoller Klarheit erhoben. Das neue Leben, welches ich in der Sorge um Deine Freude und Dein Leid gefunden, hat den Geist widerspänstigen Murrens in die völlige Ergebung verwandelt, aus der das ächte Mitgefühl hervorgeht. Ich glaube, nur so vollkommene und tiefe Liebe hat mich in das erweiterte Leben einführen können, welches wächst und wächst, indem es fremdes Leben in sich aufnimmt; denn vorher hielt mich immer das heimliche Selbstbewußtsein danieder, welches mich nie verließ. Ja, bisweilen glaube ich sogar, daß dieser Gewinn an fremdem Leben, den mir die Liebe zu Dir gebracht hat, eine neue Kraft für mich werden kann.

Und so – Gretchen, einzig Geliebte, – bist Du mir trotz alledem zum Segen geworden. Um mich darf kein Vorwurf Dich drücken. Vielmehr müßte ich mir Vorwürfe machen, daß ich Dir meine Gefühle aufgedrängt und Dich zu einem übereilten Versprechen verleitet habe, welches Dir eine Fessel geworden ist. Du wolltest diesem Versprechen treu bleiben – bist ihm treu geblieben. Dein Opfer kann ich nach der Erfahrung einer einzigen halben Stunde ermessen, wo ich träumte, Du liebtest mich mehr als die ganze Welt. Aber, Gretchen, ich habe an Dich keinen Anspruch als den auf freundliches Gedenken.

Eine Zeit lang habe ich Dir nicht schreiben mögen, weil ich selbst den Schein nicht auf mich nehmen mochte, ich wolle mich Dir aufdrängen und fiele wieder in meinen früheren Irrthum. Aber Du wirst mich nicht mißverstehen. Ich weiß, wir müssen lange einander fern bleiben; wenn nichts anderes, würden uns böse Zungen fern halten. Aber fort gehe ich nicht. Wohin ich auch wanderte, mein Geist ist nur da wo Du weilst. Und vergiß nicht: ich bin unveränderlich Dein – Dein, nicht mit selbstischen Wünschen, sondern mit einer Hingebung, die solche Wünsche ausschließt.

Gott tröste Dich – mein liebevolles, mein hochherziges Gretchen. Wenn alle Welt Dich falsch beurtheilt, erinnere Dich, daß der nie an Dir gezweifelt hat, dessen Herz Dich vor zehn Jahren erkannte.

Glaub' niemandem, ich sei krank, weil man mich nicht außer dem Hause sieht. Ich habe nur an Kopfschmerzen gelitten, und nicht schlimmer als sonst. Aber bei der drückenden Hitze halte ich mich bei Tage gern ganz ruhig. Ich bin kräftig genug, um jedem Winke zu folgen, daß ich Dir in Wort oder That dienen kann.

Dein bis ans Ende
Philipp Wakem

 

Lautschluchzend, den Brief krampfhaft gefaßt, kniete Gretchen an ihrem Bett, und ihre Empfindungen machten sich immer wieder und wieder in dem einen leisen Aufschrei Luft:

»Gott, Gott! hat die Liebe ein Glück, bei dem ich ihren Jammer vergessen konnte?«


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