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Sechster Abschnitt.
Beiträge zur Lehre von den Gesetzen der Anziehungskraft

Gretchen war augenscheinlich an dem Punkte ihres Lebens angekommen, den alle klugen Leute als eine höchst günstige Gelegenheit für eine junge Dame ansehen. Mit einer stattlichen Persönlichkeit, die noch dazu den Vortheil hatte, den meisten ganz neu zu sein, und mit der bescheidenen Hülfe einer Toilette, wie man sie sich nach der Vorberathung zwischen Lucie und Tante Pullet denken kann – so eingeführt in die vornehme Gesellschaft von St. Ogg, stand Gretchen unzweifelhaft an einem neuen Wendepunkt ihres Lebens. In der ersten Abendgesellschaft bei Lucie ließ der junge Torry keinen Augenblick den Kneifer von der Nase und Gretchen aus den Augen, und verschiedene junge Damen nahmen sich auf dem Heimwege vor, auch kurze Aermel mit schwarzem Besatz zu tragen und das Haar in breiten Flechten um den Kopf zu legen; Luciens Cousine hätte gar zu gut darin ausgesehen. Kurz, das arme Gretchen, mit all ihren trüben Erinnerungen an die traurige Vergangenheit und ihrer bösen Ahnung von künftiger Trübsal, war auf dem besten Wege, ein Gegenstand des Neides zu werden, ein Thema der Unterhaltung in dem neugegründeten Klub und unter Freundinnen, die kein Geheimniß vor einander hatten in Sachen des Besatzes. Die Fräulein Guest's, die mit den andern Familien der Stadt mehr auf dem Fuße der Herablassung standen und in der ganzen Umgegend ein wahrer Modenspiegel waren, machten bei Gretchen eine Ausnahme. Sie hatte eine Art, den Bemerkungen, die in der guten Gesellschaft gang und gebe sind, nicht sofort beizustimmen und zu erklären, sie wisse doch nicht, ob diese Bemerkungen auch ganz wahr seien oder nicht, die ihr etwas linkisches gab und den glatten Fluß der Unterhaltung störte, aber es ist eine Thatsache – und ich empfehle sie milder Deutung –, daß Damen gegen eine neue Bekanntschaft von ihrem eigenen Geschlecht nicht grade ein ungünstiges Vorurtheil hegen, wenn sie ihre Schwächen und Mängel hat. Und Gretchen hatte so durchaus nichts von jener hübschen Koquetterie, welche von Alters her in dem Rufe steht, die Männer zur Verzweiflung zu bringen, daß sie bei einigen Frauen förmlich Mitleid fand, weil sie trotz ihrer Schönheit so gar wenig Eindruck mache. Es war ihr ja nicht leicht geworden in der Welt, dem armen Ding, und zugeben mußte man doch, daß sie höchst anspruchslos sei; ihre ungleichen, etwas abstoßenden Manieren kamen offenbar vom eingezogenen Leben und von den kümmerlichen Verhältnissen. Es war nur zu verwundern, daß so gar nichts gewöhnliches oder gar gemeines an ihr war, wenn man bedachte was sie für Verwandte habe – eine Anspielung, bei der es die Fräulein Guest's immer etwas schauderte. Eine Verschwägerung mit solchen Leuten wie Glegg's und Pullet's war gewiß kein angenehmer Gedanke, aber wenn Stephan sich mal etwas vorgenommen hatte, so half kein Widerspruch, und gegen Lucie selbst ließ sich doch unmöglich etwas einwenden; jeder mußte sie lieb haben. Natürlich sah sie es gern, daß die Fräulein Guest's gegen ihre Cousine, die sie so lieb hatte, freundlich waren, und Stephan, fürchteten sie, würde gewiß Lärm machen, wenn sie's an Höflichkeit fehlen ließen. Unter diesen Umständen fehlte es nicht an Einladungen in die besten Häuser der Stadt, und so sah sich Gretchen zum ersten Mal in das Leben einer jungen Dame eingeführt und erfuhr, was es heißen will, des Morgens aufzustehen, ohne daß man etwas bestimmtes zu thun hat.

Dies neue Gefühl von Muße und unbegränztem Genuß im sanften Hauch und süßen Duft der Frühlingstage, in einer Schwelgerei von Musik und Herumschlendern im Sonnenschein und köstlichem träumerischen Hingleiten auf dem Flusse, mußte nach so jahrelanger Entsagung wahrhaft berauschend auf sie wirken, und gleich in der ersten Woche wichen ihre trüben Erinnerungen und Ahnungen. Das Leben war jetzt wirklich sehr angenehm; sie hatte Freude daran, des Abends Toilette zu machen und zu fühlen, daß sie mit zu den Schönheiten des Frühlings gehöre. Und bewundernde Blicke warteten ihrer jetzt immer; sie war nicht länger unbeachtet, mußte nicht auf Schelte gefaßt sein, nicht mehr fortwährend andern Aufmerksamkeiten erweisen, während niemand sich verpflichtet hielt, gegen sie aufmerksam zu sein. Ebenso war's angenehm, wenn Stephan und Lucie ausgeritten waren, sich allein an's Klavier zu setzen und die Finger ihre alte Bekanntschaft mit den Tasten erneuern zu lassen, die Melodieen vom Abend vorher nachzuspielen und so lange zu wiederholen, bis sie sie in einer Weise spielen konnte, daß sie ihr eine stärkere leidenschaftliche Sprache wurden. Der bloße Zusammenklang der Oktaven war für sie eine Lust, und sie nahm oft Uebungen statt wirklicher Melodien vor, um den einfachen Genuß an den musikalischen Intervallen desto stärker zu empfinden. Nicht als ob ihre Freude an der Musik auf ein besonderes Talent hätte schließen lassen; diese Empfänglichkeit für die höchste Aufregung der Musik war vielmehr nur eine Form der leidenschaftlichen Erregbarkeit ihrer ganzen Natur, die alle ihre Fehler und Tugenden in einander aufgehen ließ, aus ihren Neigungen bisweilen ein heftiges Verlangen machte, aber auch wiederum ihrer Eitelkeit die Form bloßer weiblicher Koquetterie benahm und dafür die Poesie des Ehrgeizes gab. Aber der Leser kennt Gretchen schon lange genug und braucht nicht mehr ihren Charakter, sondern nur ihre Geschichte zu erfahren, und diese läßt sich selbst aus der genauesten Kenntniß ihres Charakters nicht vorher sagen. Denn die Tragödie unseres Lebens entwickelt sich nicht lediglich von innen heraus. »Der Charakter«, sagt Novalis in einem seiner sehr bestreitbaren Aphorismen – »der Charakter ist das Schicksal«. Aber nicht unser ganzes Schicksal. Prinz Hamlet war ein Grübler ohne Thatkraft, und in Folge dessen haben wir eine große Tragödie. Aber wenn sein Vater hübsch zu Jahren gekommen und sein Onkel früh gestorben wäre, so können wir uns wohl denken, er habe Ophelia geheirathet und sein Leben lang für einen leidlich verständigen Menschen gegolten – trotz vieler Monologe und mancher mürrischer Spöttereien gegen die schöne Tochter des Polonius, der rücksichtslosesten Unhöflichkeit gegen seinen Schwiegervater ganz zu geschweigen.

Gretchens Schicksal ist uns also für jetzt noch verborgen, und wir müssen warten, bis es sich uns enthüllt wie der Lauf eines Flusses, der noch nicht auf der Karte verzeichnet steht; wir wissen nur, der Fluß ist voll und reißend und alle Flüsse finden schließlich dieselbe – Ruhestatt. Unter dem zauberischen Einfluß ihrer neuen Freuden hörte Gretchen selbst auf, mit lebhafter Einbildungskraft sich die Zukunft auszumalen, und ihre gespannte Erwartung auf das erste Wiedersehen mit Philipp ließ etwas nach; ohne sich dessen bewußt zu sein, bedauerte sie vielleicht sogar nicht, daß das Wiedersehen sich verzögerte.

Philipp war nämlich den Abend, wo man ihn erwartete, nicht gekommen, und Stephan brachte die Nachricht, er sei an die See gegangen, vermuthlich um zu zeichnen; wann er zurückkomme, sei ungewiß. Es sähe Philipp recht ähnlich, meinte er, so fort zu gehen, ohne einem Menschen etwas zu sagen. Erst am zwölften Tage kehrte er zurück und fand nun die beiden Billets von Lucie auf einmal. Er war abgereist, ehe er von Gretchens Ankunft gehört hatte.

Man müßte wieder neunzehn Jahr alt sein, um die Gefühle ganz zu begreifen, die sich für Gretchen in diese zwölf Tage zusammen drängten, – um zu verstehen, welch eine Ewigkeit sie bei der Neuheit ihrer Lage und den wechselnden Stimmungen ihres Innern für sie wurden. Die ersten Tage einer Bekanntschaft haben fast immer eine solche Bedeutung für uns und nehmen in der Erinnerung einen größern Raum ein, als längere Perioden aus späterer Zeit, wo neue Entdeckungen und Eindrücke sich nicht so drängten. Die Stunden ließen sich in diesen Tagen zählen, wo Stephan nicht an Luciens Seite saß oder am Klavier neben ihr stand oder sie auf einem Ausfluge im Freien begleitete; er wurde immer beständiger in seinen Aufmerksamkeiten, und das hatte ja auch jeder erwartet. Die kleine Lucie war sehr glücklich, um so mehr, als Stephan seit Gretchens Anwesenheit immer interessanter und unterhaltender geworden zu sein schien. Gespräche leichteren und ernsteren Inhalts waren im Gange, in denen beide, Stephan und Gretchen, die Bewunderung der sanften Lucie erregten, und mehr als einmal ging ihr der Gedanke durch den Kopf, welch ein reizendes Quartett es gäbe, wenn Philipp und Gretchen sich heiratheten. Ist es so unerklärlich, daß ein Mädchen sich der Gesellschaft ihres Geliebten in Gegenwart eines Dritten mehr erfreut und nicht die leiseste Eifersucht empfindet, wenn er seine Worte zumeist an die dritte Person richtet? Gewiß nicht unerklärlich, wenn das Mädchen solchen Herzensfrieden hat wie Lucie, so durch und durch den Seelenzustand der beiden andern zu kennen glaubt und nicht von Natur zu den Empfindungen hinneigt, welche auch in Ermangelung eines positiven Gegenbeweises einen solchen Glauben erschüttern. Zudem, es war immer Lucie, neben der Stephan saß, der er den Arm gab, an die er sich wandte, um ihre stets bereite Zustimmung zu allem, was er sagte, zu hören, und einen Tag wie den andern hatte er dieselbe zärtliche Höflichkeit gegen sie, dieselbe Aufmerksamkeit für ihre Wünsche, dieselbe Sorgfalt, sie zu erfüllen. Wirklich ganz dieselbe? Es kam Lucie vor, als habe sie sich noch gesteigert, und es war kein Wunder, daß ihr die wirkliche Bedeutung dieses Wechsels entging. Ja, es war ein Vorgang in Stephans Innerem, den er selbst nicht einmal bemerkte. Seine persönlichen Aufmerksamkeiten gegen Gretchen waren verhältnißmäßig gering, und es war sogar eine gewisse Entfremdung zwischen ihnen eingetreten, welche die Wiederkehr so leichter Galanterien verhinderte, wie er den ersten Tag im Kahne sich erlaubt hatte. Wenn Stephan in's Zimmer kam und Lucie grade nicht da war, oder wenn Lucie sie allein ließ, so sprachen sie nie miteinander; Stephan machte sich mit Büchern oder Noten zu schaffen, und Gretchen ließ die Augen nicht von der Arbeit. Bis in die Fingerspitzen hinein hatte jedes das drückende Bewußtsein von der Nähe des andern. Und doch erwartete jedes und sehnte sich danach, daß es am kommenden Tage wieder so würde. Keiner von beiden dachte über die Sache nach oder fragte sich schweigend: wo will das alles hinaus? Gretchen fühlte nur, das Leben erschließe ihr ganz etwas neues, und sie verlor sich völlig in das unmittelbare Erlebniß selbst, ohne daß ihr die Kraft blieb, sich davon Rechenschaft zu geben oder darüber nachzudenken. Stephan enthielt sich mit Absicht jeder Selbstprüfung und gestand sich nicht, daß er unter einem Einfluß stehe, der von entscheidender Wirkung sein könne oder werde. Und wenn Lucie wieder in's Zimmer kam, war sofort jeder Zwang verschwunden; Gretchen konnte Stephan widersprechen und auslachen, und er konnte ihrer Erwägung das Beispiel der reizenden Sophie Western empfehlen, die so große Achtung vor dem Verstande der Männer gehabt habe. Gretchen konnte Stephan wieder ansehen, was sie – sie wußte selbst nicht warum – immer vermied, sobald sie allein waren, und er konnte sie sogar bitten, ihn auf dem Klavier zu begleiten, da Lucie soviel mit ihrer Näherei für den Bazar zu thun habe, und dann tadelte er sie, weil sie das Tempo übereilte, was allerdings ihre schwache Seite war.

Eines Tages – es war der Tag wo Philipp zurückkam – hatte Lucie plötzlich einen Besuch zu machen bei der Frau des Doktor Kenn, die durch Krankheit verhindert war, auf dem Bazar selbst zu erscheinen. Da Stephan dadurch um seinen Abendbesuch kam, so spottete er unbarmherzig über den Bazar, der alle Bande der Gesellschaft auflöse, aber es blieb dabei, daß es sich stillschweigend verstand, Stephan würde den Nachmittag nicht wiederkommen, und auf Grund dieser stillschweigenden Verabredung verlängerte Stephan seinen Morgenbesuch zum äußersten und empfahl sich erst um vier Uhr.

Kurz nach Tisch saß Gretchen allein im Besuchzimmer, während der Onkel sich zwischen trinken und schlafen und ihre Mutter sich zwischen stricken und schlafen theilte. Gretchen hatte Minni auf dem Schooß und streichelte den kleinen seidenen Schooßhund, um ihn für die Abwesenheit seiner Herrin zu trösten; da hörte sie draußen Schritte, blickte auf und sah Herrn Stephan Guest den Garten heraufkommen, als käme er gradesweges vom Flusse. Es war etwas ungewöhnliches, ihn so bald nach Tisch zu sehen; schon oft hatte er sich beklagt, daß man bei ihm zu Haus so spät esse. Und nun war er doch da, und sein Gesellschaftsanzug bewies, daß er zu Haus gewesen war, und sein ganzes Aussehen zeigte, er sei im Kahn gekommen. Gretchen fühlte, wie ihr das Gesicht glühte und das Herz schlug; es war natürlich, daß sie nervös wurde, denn sie war nicht daran gewöhnt, Besuche allein zu empfangen. Mit raschem Blick hatte Stephan gesehen, sie habe ihn erkannt; die Glasthür stand offen, und er trat sofort ein, ohne sich den Umweg durch's Haus zu machen. Er wurde auch roth im Gesicht und sah unzweifelhaft so albern aus, wie ein junger Mann von einigem Verstande und von einiger Selbstbeherrschung überhaupt aussehen kann; er hielt eine Rolle Noten in der Hand und sagte halb stotternd, wie aus dem Stegreif:

»Sie wundern sich, daß ich schon wieder da bin, Fräulein Tulliver – entschuldigen Sie, daß ich Sie so überrasche, aber ich mußte in die Stadt und ließ mich herrudern; da dachte ich, ich könnte gleich die Noten für Ihre Cousine herbringen. Wollen Sie so gut sein, sie ihr zu geben?«

»Jawohl«, sagte Gretchen, die ganz verwirrt aufgestanden war und nun eben so verwirrt nichts besseres zu thun wußte, als sich wieder zu setzen.

Stephan legte die Noten hin und setzte sich dicht neben sie; das hatte er bisher noch nie gethan, und er sowohl wie Gretchen empfanden sofort die Neuheit ihrer Lage.

»Nun, Du kleiner Verzug!« sagte Stephan und beugte sich vornüber und zerrte das Hündchen an den langen seidenen Ohren, die über Gretchens Arm hingen. Das war grade keine anregende Bemerkung, und da er sie nicht weiter verfolgte, so wurde die Unterhaltung dadurch nicht besonders gefördert. Stephan kam sich vor, als liege er im Traum und müsse immer den Hund streicheln und wundere sich dabei über sich selbst. Aber es war doch hübsch; er wünschte nur, er hätte den Muth, Gretchen anzusehen, und sie sähe ihn wieder an, – ließe ihn einen langen Blick in ihre tiefen, wundersamen Augen thun, dann wollte er zufrieden sein und ganz vernünftig. Das Verlangen nach diesem Blick war fast zum stillen Wahnsinn bei ihm geworden, und unaufhörlich strengte er seinen Scharfsinn an, um ein Mittel zu finden, wodurch er ihn erlangen könne, ohne daß es auffiele und Anlaß zur Verlegenheit gäbe. Gretchen ihrerseits hatte gar keinen klaren Gedanken mehr, nur das Gefühl, als schwebe ein mächtiger Vogel im Dunkeln über ihrem Haupte; sie vermochte nicht aufzublicken und sah nur Minni's schwarzhaariges Fell.

Aber mal mußte das doch aufhören, – hörte vielleicht auch sehr bald auf und schien nur lang, wie der Traum von einer Minute lang scheinen kann, und endlich richtete sich Stephan in seinem Stuhle auf, ließ einen Arm über die Rücklehne hängen und sah Gretchen an. Was sollte er sagen?

»Es wird ein prächtiger Sonnenuntergang; wollen Sie ihn sich nicht draußen ansehen?«

»Vielleicht«, antwortete Gretchen; dann schlug sie muthig die Augen auf und sah zur Glasthür hinaus, – »vielleicht, wenn ich nicht mit Onkel Deane spielen muß.«

Eine Pause; wieder wird Minni gestreichelt, hat aber nicht Verstand genug, dankbar dafür zu sein, sondern knurrt etwas.

»Sitzen Sie gern allein?«

Ein schelmischer Zug flog über Gretchens Gesicht und mit einem raschen Seitenblick auf Stephan erwiderte sie: »wär' es wohl höflich, wenn ich ja sagte?«

»Ich gebe zu, es war eine gefährliche Frage für einen Eindringling wie ich«, sagte Stephan hoch erfreut über den Blick und entschlossen, noch einen zweiten zu erhaschen.

»Aber Sie behalten noch eine gute halbe Stunde für sich, wenn ich fort bin«, fügte er hinzu, indem er nach der Uhr sah; »ich weiß, Ihr Onkel kommt immer erst nach halb acht.«

Wieder eine Pause. Gretchen sah unverrückt zur Glasthür hinaus, bis sie endlich mit großer Anstrengung den Kopf bewegte und auf Minni herabblickte.

»Es thut mir leid«, sagte sie »daß Lucie ausgehen mußte. Wir kommen heute um unsre Musik.«

»Dafür haben wir morgen Abend eine Stimme mehr«, erwiderte Stephan. – »Sagen Sie doch Ihrer Cousine, unser Freund Philipp Wakem sei wieder da. Ich habe ihn vorhin gesehen, als ich nach Haus ging.«

Gretchen fuhr ein wenig zusammen; es durchzuckte sie von Kopf zu Fuß. Aber die neuen Bilder, welche Philipp's Name heraufbeschwor, lösten halb den drückenden Bann, unter dem sie stand. Mit einem plötzlichen Entschluß erhob sie sich, legte das Hündchen auf sein Kissen und nahm Luciens großen Nähkorb zur Hand. Stephan ärgerte sich und fühlte sich enttäuscht; er meinte, Gretchen sei böse, daß er den Namen Wakem so rasch hingeworfen habe, denn jetzt fiel ihm ein, was ihm Lucie über den Streit der beiden Familien erzählt hatte. Nun half kein längeres Verweilen. Gretchen saß am Tisch bei der Arbeit, und er – sah recht aus wie ein Einfaltspinsel. Ein so unmotivirter, völlig überflüssiger Besuch mußte ihn unzweifelhaft unangenehm und lächerlich machen; natürlich war es Gretchen klar, daß er ein hastiges Mahl in seinem Zimmer eingenommen habe, um rasch wieder bei ihr zu sein und sie allein zu treffen. Wie ein Junge kam er sich vor, der fein gebildete Herr von fünfundzwanzig Jahren. In diesem Augenblick fiel Gretchens Knäuel auf die Erde und sie bückte sich danach. Wie ein Pfeil schoß Stephan darauf los, ergriff den Knäuel und sah ihr dabei mit einem so traurigen flehenden Blick in die Augen, daß es sie überraschte und ergriff.

»Adieu«, sagte Stephan in einem Tone, der eben so flehend und unglücklich klang, wie sein Blick gewesen war. Er wagte nicht, ihr die Hand zu geben, sondern steckte beide Hände hinten in die Rocktasche. Gretchen glaubte, sie sei vielleicht unhöflich gegen ihn gewesen.

»Wollen Sie nicht bleiben?« sagte sie schüchtern, ohne wegzublicken, denn das wäre wieder unhöflich gewesen.

»Sie sind sehr freundlich, aber ich muß doch gehen«, erwiderte Stephan und blickte immer in die halb unwilligen, halb durch Zauber gefesselten Augen, wie ein durstiger Mann auf die Spur eines fernen Baches hinsieht. »Das Boot wartet auf mich … Sie werden's Ihrer Cousine doch sagen?«

»Ja.«

»Daß ich die Noten hergebracht habe, mein' ich.«

»Ja.«

»Und daß Philipp wieder da ist?«

»Ja.«

Diesesmal beachtete Gretchen Philipp's Namen nicht.

»Wollen Sie nicht etwas in den Garten kommen?« sagte Stephan mit noch sanfterer Stimme, aber im nächsten Augenblick ärgerte er sich schon, daß sie nicht nein sagte; denn nun mußte er seinen Hut nehmen und ihr in den Garten folgen, aber er dachte schon darauf, sich zu entschädigen.

»Nehmen Sie meinen Arm«, sagte er leise, als wär's ein Geheimniß.

Es liegt etwas seltsam verlockendes für die meisten Frauen in einem festen Arm; sie bedürfen der Hülfe grade nicht in dem Augenblicke, aber das Gefühl der Unterstützung, die Nähe einer Kraft, die nicht die ihre ist und doch ihnen gehört, entspricht einem steten Bedürfniß ihres Innern. Ob dies der Grund war oder ein andrer, Gretchen nahm Stephans Arm. Und sie gingen mit einander um den Rasenplatz und unter den hängenden Zweigen des Goldregens in demselben traumhaften Zustande, in welchem sie die letzte Viertelstunde gewesen waren; mit dem Unterschiede nur, daß Stephan den ersehnten Blick erhascht hatte, ohne darum etwas von wiederkehrender Vernunft in sich zu spüren, und daß Gretchen helle Gedanken durch ihre Träumerei schossen, wie sie dahin gekommen? warum sie hinausgegangen? Sie sprachen kein Wort. Hätten sie's gethan, sie wären nicht so verloren gewesen ineinander.

»Hier ist 'ne Stufe, nehmen Sie sich in Acht«, sagte Stephan endlich.

»Ich muß jetzt hinein«, antwortete Gretchen und athmete auf wie gerettet. »Guten Abend.«

Im Augenblicke hatte sie ihren Arm frei gemacht und lief in's Haus zurück. Daß dieses plötzliche Abbrechen die Erinnerungen an die letzte halbe Stunde nur noch verlegener machen würde, bedachte sie nicht. Dazu hatte sie keine Gedanken. Sie warf sich nur auf einen Stuhl und brach in Thränen aus.

»O Philipp, Philipp, ich wollte wir wären wieder allein – so ruhig allein – im rothen Grunde!«

Stephan sah ihr einen Augenblick nach, dann ging er nach seinem Boot und ließ sich zur Stadt fahren. Er verbrachte den Abend beim Billard, rauchte eine Cigarre nach der andern und verlor eine Partie nach der andern. Aber aufhören mochte er nicht. Er war entschlossen, heute nicht zu denken, keine bestimmtere Erinnerung in sich aufkommen zu lassen, als ihm die stete Nähe Gretchens aufdrängte – denn immer hing sie ihm am Arm und immer sah er sie an.

Aber endlich kam die Nothwendigkeit, sich in der kühlen Sternennacht auf den Heimweg zu machen, und damit die Nothwendigkeit, seine eigene Narrheit zu verwünschen und sich voll Ingrimm zu entschließen, er wolle es nie wieder wagen, mit Gretchen allein zu sein. Es war ja baarer Wahnsinn; er war in Lucie verliebt, ihr treu ergeben und fest an sie gebunden, wie ein Mann von Ehre nur sein kann. Er wünschte, er hätte dies Gretchen Tulliver nie gesehen; wohl möge sie für den einen oder andern eine liebe, wundersame, lästige, angebetete Frau abgeben, aber er hätte sie sich niemals gewählt. Ob sie wohl fühle wie er? Hoffentlich nicht. Er hätte heute nicht hingehen sollen. In Zukunft wolle er sich auch beherrschen, wolle ihr zu mißfallen suchen, mit ihr zanken. Mit ihr zanken? War es möglich, mit jemand zu zanken der solche Augen hatte? – so trotzige und demüthige, eigensinnige und nachgiebige, befehlende und bittende Augen voll der köstlichsten Gegensätze? Solch' ein Wesen von Liebe überwunden zu sehen, welch' ein Glück für den, der – das Glück hätte!

Als Stephan mit seinem Monolog soweit gekommen war, brummte er etwas in die Zähne. Es war kein Segen, den er sprach.


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