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Neunter Abschnitt.
Wohlthätigkeit in voller Gala

Der Höhepunkt von Gretchens gesellschaftlicher Laufbahn in St. Ogg war unzweifelhaft der Tag des Bazars, wo ihre einfache edle Schönheit in einem weiten weißen Mousselingewande (welches vermuthlich aus Tante Pullet's Vorräthen stammte) unter den gewöhnlichen geputzten Frauen sich glänzend hervorhob. Wie viel künstliches in unserer Gesellschaft ist, entdecken wir vielleicht nie bis jemand auftritt, der zugleich schön und einfach ist; ohne die Schönheit würden wir die Einfachheit leicht Ungeschicklichkeit nennen. Die Fräulein Guest's waren viel zu wohl erzogen, um durch Affektation oder übertriebene Vornehmheit in's gewöhnliche zu fallen, aber da ihr Laden dicht neben Luciens war, in welchem Gretchen saß, so fiel es heute von neuem auf, daß das älteste Fräulein Guest ihr Kinn zu hoch trug und daß Fräulein Laura in Worten und Geberden immer etwas auf den Effekt spielte.

Das ganze elegante St. Ogg und was sonst aus der Umgegend auf Eleganz Anspruch machte, war versammelt, und wohl hätte es sich der Mühe verlohnt, selbst einen weitern Weg zu machen, um die schöne alte Halle mit ihrem frei liegenden Dache, den geschnitzten eichenen Balken, den großen eichenen Flügelthüren und den hohen Fenstern zu sehen, durch welche das Licht auf die bunte Ausstellung hoch hereinfiel. Der Saal war etwas altmodisch; an den Wänden waren verblaßte Streifen gemalt, und hier und da einige Wappenthiere, wilde Eber mit langen Schnauzen, die ehrwürdigen Embleme eines edlen Geschlechts, welches einst in dem jetzigen Rathhause seinen Sitz gehabt hatte. Am obern Ende überragte ein großer Bogen in der Wand eine eichene Estrade, hinter der man in ein offenes Zimmer sah, wo ausländische Pflanzen aufgestellt und Erfrischungen zu haben waren, – der Lieblingsaufenthalt für Herren, die gern etwas herumlungerten und sich aus dem Gedränge im Saal auf einen bequemen Aussichtspunkt zurückziehen wollten. Kurz, das alte Gebäude paßte so durchaus zu dem modernen Zwecke eines Bazars, wo Nächstenliebe und Eleganz sich vereinigten und wo die Eitelkeit zur Deckung eines Defizits diente, daß es allgemein auffiel und jeder sich mehr als einmal darüber aussprach. Nahe bei dem großen Bogen über der Estrade war das steinerne Erkerfenster mit den gemalten Scheiben, eine von den ehrwürdigen Unregelmäßigkeiten der alten Halle, und dicht dabei hatte Lucie ihren Laden aus Rücksicht auf gewisse größere Artikel, die sie für die Pastorin Kenn zum Verkauf ausstellte. Gretchen hatte gewünscht, den Verkauf grade dieser Sachen zu besorgen, da sie von den feinen Stickereien und dergleichen nichts verstände, und saß daher in dem Laden vorn an. Aber es zeigte sich bald, daß die Herren-Schlafröcke, die bei ihr zu haben waren, die allgemeinste Aufmerksamkeit erregten; jeder wollte das Futter sehen, die Stoffe mit einander vergleichen, bald diesen bald jenen Schlafrock anprobiren, und rasch war Gretchen die allergesuchteste Ladenmamsell. Die Damen, welche selbst etwas zu verkaufen hatten und keine Schlafröcke gebrauchten, erkannten sofort, wie leichtfertig und geschmacklos es von den Herren sei, sich auf solche Sachen zu werfen, die sie bei jedem Schneider haben könnten, und es ist wohl möglich, daß die auffallende Aufmerksamkeit, welche Fräulein Tulliver bei diesem öffentlichen Anlaß erregte, ihr nachher von manchem der Anwesenden stark angerechnet wurde. Nicht als ob Neid und Eifersucht in den Engelsherzen wohlthätiger Damen Platz hätten, sondern nur weil die Fehltritte von Leuten, die einst sehr bewundert wurden, schon durch den Kontrast dunkler gefärbt erscheinen, und auch wohl deshalb, weil die hervorragende Stellung, welche Gretchen heute einnahm, zum ersten Male gewisse Charakterzüge an's Licht brachte, aus denen sich später manches erklärte. Fräulein Tulliver, fanden die Frauen, hatte doch in ihrem großen Blick etwas sehr keckes, und in der Art ihrer Schönheit etwas unsagbar derbes, so daß sie mit ihrer Cousine Deane garnicht zu vergleichen war; allmälich hatten nämlich die Damen von St. Ogg ihre fraglichen Ansprüche auf die Bewunderung des Herrn Stephan Guest sammt und sonders an Lucie abgetreten.

Die liebe kleine Lucie selbst war in Folge ihres Triumphs wegen der rothen Mühle und all ihrer liebevollen Pläne für Gretchen und Philipp in der besten Laune und empfand das reinste Vergnügen an Gretchens sichtlichen Erfolgen. Freilich, sie sah selbst sehr reizend aus, und Stephan bewies ihr bei diesem öffentlichen Anlaß die größte Aufmerksamkeit; eifersüchtig kaufte er alles an, was er sie hatte arbeiten sehen, und half ihr lustig die Herren beschwatzen, daß sie die ausgesuchtesten Narrheiten kauften; ja er ging so weit, seinen Hut abzulegen und sich einen rothen Fez aufzusetzen, den sie gestickt hatte.

Und von Gretchen kaufte Stephan schlechterdings garnichts, bis ihm Lucie etwas ärgerlich zuflüsterte:

»Da, sehen Sie, was Gretchen gestrickt hat, ist schon beinah alles fort und Sie haben noch nichts gekauft. Es sind noch ein Paar köstlich weiche Pulswärmer da – machen Sie rasch und kaufen sie.«

»O nein«, erwiderte Stephan, »die sind gewiß für Leute von großer Einbildungskraft, die sich an diesem warmen Tage dadurch abkühlen können, »daß sie den frost'gen Kaukasus sich denken«. Strenge Vernunft ist meine starke Seite, das wissen Sie ja. Die Pulswärmer muß Philipp kaufen. Beiläufig, warum ist er nicht hier?«

»Er geht nicht gern hin wo viele Leute sind, obschon ich es ihm sehr eingeschärft habe, er solle kommen. Er hat mir versprochen, von meinen Sachen alles zu kaufen was die andern übrig lassen. Aber bitte, jetzt gehn Sie zu Gretchen und kaufen ihr etwas ab.«

»Nein, nein, jetzt nicht, sie hat schon einen Kunden; der alte Wakem ist bei ihr.«

Mit gespannter Erwartung blickte Lucie nach Gretchen hinüber, um zu sehen, wie sie dieses erste Wiedersehen – das erste nach jener schrecklichen Begegnung – mit einem Manne ertrüge, dem sie mit so widerstreitenden Empfindungen gegenüberstehen müsse, aber sie merkte mit Vergnügen, daß Wakem Takt genug hatte, sofort über die ausgestellten Waaren zu sprechen und mit großem Interesse einiges einzukaufen, wobei er bisweilen Gretchen freundlich anlächelte und meist selbst die Unterhaltung führte, als ob er merke, daß sie etwas blaß sei und zittre.

»Ei, sehen Sie mal, Wakem macht sich ja sehr liebenswürdig mit Gretchen«, sagte Stephan zu Lucie; »ist das bloße Großmuth? Sie sprachen ja neulich von einem Familienzwist.«

»O, der wird hoffentlich bald ganz beigelegt«, erwiderte Lucie bedeutungsvoll und wurde vor lauter Freude etwas indiskret. Aber Stephan schien nicht darauf zu achten, und da jetzt einige Damen an Luciens Ladentisch traten, so ging er langsam auf Gretchen zu, musterte hier und da eine Kleinigkeit und hielt sich zurück, bis Wakem, der schon die Börse gezogen hatte, mit seinen Einkäufen fertig wäre.

»Mein Sohn hat mich herbegleitet«, hörte er Wakem sagen, »aber plötzlich ist er mir von der Seite gekommen und läßt mich allein wohlthätig und galant sein. Ich hoffe, Sie lassen ihm das nicht so hingehen.«

Sie erwiderte sein Lächeln und seine Verbeugung, ohne ein Wort zu sprechen, und nach einem flüchtigen Gruße gegen Stephan, den er erst jetzt bemerkte, ging er fort. Gretchen wußte wohl, daß Stephan da sei, aber sie vermied es ihn anzusehen und vertiefte sich ins Geldzählen. Sie war sehr zufrieden, daß er sich heute ausschließlich Lucien gewidmet hatte und ihr selbst nicht nahe gekommen war. Am Morgen hatten sie einen gleichgültigen Gruß gewechselt und sich beide gefreut, daß sie sich fern blieben, grade wie ein Kranker, der nach vergeblichen Versuchen es endlich fertig gebracht hat, mal kein Opium zu nehmen. Und während der letzten paar Tage hatten sie sich schon daran gewöhnt, daß ihre Versuche vergeblich seien, und in den äußern Verhältnissen, die sie doch bald trennen müßten, einen Grund gefunden, der ihnen erlaubte, sich etwas mehr gehen zu lassen.

Langsam, als würde er wider Willen gezogen, bewegte sich Stephan auf Gretchen zu, bis er an der offenen Seite des Ladens vorbei war und von den Vorhängen halb verdeckt wurde. Gretchen zählte noch immer ihr Geld, als sie plötzlich eine tiefe sanfte Stimme sagen hörte: »Sind Sie nicht sehr müde? Ich will Ihnen eine Erfrischung holen, etwas Obst oder Gelee – darf ich?«

Der unerwartete Ton erschütterte sie, als sei plötzlich neben ihr eine Harfe erklungen.

»O nein, ich danke Ihnen«, antwortete sie mit matter Stimme und blickte nur halb zu ihm auf.

»Sie sehen so blaß aus«, bat Stephan mit flehendem Ton; »Sie sind gewiß erschöpft; ich muß Ihnen ungehorsam sein und hole Ihnen etwas.«

»Nein, gewiß nicht, ich könnt's doch nicht nehmen.«

»Sind Sie mir böse? was hab' ich gethan? sehen Sie mich doch an.«

»Bitte, gehen Sie fort«, sagte Gretchen und blickte hülflos zu ihm auf, aber sofort schweifte ihr Auge von ihm nach der entgegengesetzten Ecke der Estrade, die von den Falten des verblaßten grünen Vorhangs halb verdeckt war. Kaum hatte sie ihm diesen flehenden Blick zugeworfen, als sie sich elend fühlte bei dem Gedanken, was er bedeute; aber Stephan wandte sich sofort um, folgte der Richtung ihres Blickes und sah Philipp Wakem in der halb verdeckten Ecke sitzen, von wo er grade nur den kleinen Fleck übersah, wo Gretchen saß. Ein ganz neuer Gedanke stieg in Stephan auf, und indem er sich an Wakems Benehmen von vorhin und an die Antwort erinnerte, welche Lucie auf seine Bemerkung darüber gegeben hatte, fühlte er sich plötzlich überzeugt, zwischen Philipp und Gretchen müsse in früherer Zeit noch ein anderes Verhältniß bestanden haben, als die bloße Jugendfreundschaft, von der er gehört hatte. Aus mehr als einem Grunde verließ er sofort die Halle und ging hinauf in das Restaurationszimmer, wo er zu Philipp herantrat, sich hinter ihn setzte und ihm die Hand auf die Schulter legte.

»Machen Sie Studien zum Portrait, Philipp?« fragte er, »oder zu 'ner Skizze von dem Erkerfenster? Wahrhaftig, aus diesem dunkeln Winkel nimmt es sich vortrefflich aus, der Vorhang schneidet so hübsch ab.«

»Ich habe Physiognomien studirt«, antwortete Philipp kurz ab.

»Ach so, Fräulein Tulliver! Sie sieht heut ein bischen wild aus, scheint mir; hat etwas von einer gestürzten Fürstin, die als Ladenmädchen dient. Eben schickte mich ihre Cousine zu ihr und ich bot ihr höflich eine Erfrischung an, aber ich bin gründlich abgefallen – gründlich wie immer. Wir haben eine natürliche Abneigung gegen einander; ich habe selten die Ehre ihr zu gefallen.«

»Was für ein Heuchler Sie sind!« sagte Philipp und wurde roth vor Aerger.

»Wie? weil ich aus Erfahrung wissen muß, daß ich immer gefalle? Als Regel lasse ich's gelten, aber bei diesem Gestirn giebt's eine Störung.«

»Ich muß gehen«, sagte Philipp und stand rasch auf.

»Ich auch, ich muß in die frische Luft; hier wird's mir drückend. Für heute habe ich Frauendienst genug gethan, denk' ich.«

Die beiden Freunde gingen zusammen die Treppe hinab, ohne ein Wort zu sprechen. Philipp trat durch die Hofthür ins Freie, aber Stephan wandte sich mit der Bemerkung, er habe noch etwas zu besorgen, in einen Korridor, der nach dem andern Ende des Gebäudes führte, wo die Stadtbibliothek war. Er trat in ein Zimmer – er war allein. Und allein muß jemand sein, wenn er seine Mütze auf den Tisch werfen will, sich rittlings auf einen Stuhl setzen und auf eine große Wand mit einem wüthenden Blick hinstarren, der des Python-Tödters würdig gewesen wäre. Das Benehmen, welches aus einem moralischen Konflikt hervorgeht, hat oft eine so genaue Aehnlichkeit mit dem Laster, daß der Unterschied sich jedem oberflächlichen Urtheil entzieht, welches sich lediglich auf einen Vergleich der Aeußerungen stützt. Dem Leser ist es hoffentlich klar, daß Stephan kein Heuchler, keiner absichtlichen Zweideutigkeit aus Selbstsucht fähig war, und doch hätten seine Schwankungen zwischen der Nachgiebigkeit gegen seine Leidenschaft und ihrer systematischen Verheimlichung für jene Aeußerung Philipp's manche scheinbare Bestätigung geboten.

Unterdeß saß Gretchen kalt und zitternd in ihrem Laden und unterdrückte die Thränen so herzhaft, daß ihr die Augen weh thaten. Und sollte ihr Leben immer so bleiben? immer neue Kämpfe in ihrem Innern aufsteigen? Mit wirrem Geräusch schlug das muntre Geschwätz der Gesellschaft an ihr Ohr, und wohl hätte sie gewünscht, ihr Inneres könnte auch in diesen leichten plätschernden Strom sich ergießen. In diesem Augenblicke trat Doktor Kenn herein und als er, die Hände auf dem Rücken, mitten durch den Saal ging und sich umsah, blickte er Gretchen zum ersten Mal an und war ganz betroffen von dem Ausdruck des Schmerzes in ihrem schönen Gesichte. Sie saß ganz still, denn in der späten Nachmittagsstunde hatte sich der Zudrang schon vermindert, die Herren waren fast alle in der Mittagsstunde da gewesen, und Gretchens Laden war einigermaßen leer. Zusammen mit ihrem schmerzhaften Ausdruck erhöhte das den Gegensatz zwischen ihr und den andern jungen Mädchen, die alle munter und lustig waren und eifrig zu thun hatten. Kenn fühlte sich unwiderstehlich gefesselt. Ihr Gesicht hatte natürlich schon in der Kirche seine Aufmerksamkeit erregt, da sie ihm ganz fremd war, und kürzlich bei einem kurzen Besuch in Deane's Hause war er ihr vorgestellt, hatte aber kaum ein paar Worte mit ihr gewechselt. Jetzt ging er auf sie zu, und da Gretchen merkte, daß sich jemand nähere, so nahm sie sich zusammen und blickte auf. Als sie Doktor Kenn erkannte, fühlte sie sich wahrhaft erleichtert; das einfache, nicht mehr ganz junge Gesicht, mit dem Ausdruck ernster und durchdringender Herzensgüte, verkündete einen Menschen, der das feste Land gewonnen hatte, aber mit hülfreichem Mitleid auf die Unglücklichen blickte, die noch mit den tosenden Wellen kämpften, und so tief ging der Eindruck, den Gretchen in diesem Augenblick davon hatte, daß sie sich nachher daran erinnerte wie an ein ausdrückliches Versprechen. Menschen in den mittleren Jahren, die den schlimmsten Drang der Leidenschaft hinter sich haben, aber bei denen in der Erinnerung noch die Leidenschaft nachklingt und nicht schon die Beschaulichkeit überwiegt, die sollten eigentlich eine Art natürlicher Priesterschaft bilden, welche das Leben zu Helfern und Rettern erzogen und geweiht hat für die strauchelnde Jugend und die Opfer der Verzweiflung. Die meisten von uns haben gewiß in ihrem jungen Leben Augenblicke gehabt, wo sie einen Priester dieses natürlichen Ordens mit oder ohne Talar von Herzen willkommen geheißen hätten; aber wir fanden keinen und mußten uns durch alle Schwierigkeiten unseres neunzehnjährigen Daseins ohne jede Hülfe durchschleppen – grade wie Gretchen.

»Ich fürchte, Ihr Posten wird Ihnen etwas sauer, Fräulein Tulliver«, sagte Doktor Kenn.

»Ja, es ist etwas angreifend«, war Gretchen's einfache Antwort, denn sie war nicht gewöhnt, offenkundige Thatsachen mit zimperlicher Liebenswürdigkeit zu läugnen.

»Aber ich kann meiner Frau die angenehme Nachricht bringen, daß Sie ihre Sachen sehr rasch verkauft haben; sie wird Ihnen sehr dankbar sein.«

»O, ich habe dabei gar kein Verdienst; die Herren kamen alle und kauften rasch die Schlafröcke und gestickten Westen, aber ich glaube, jede andere Dame hätte mehr verkauft; ich wußte garnicht mein Wort zu machen.«

Doktor Kenn lächelte. »Ich hoffe, Sie bleiben jetzt dauernd mein Pfarrkind, Fräulein Tulliver – nicht wahr? Sie sind uns bis jetzt so fern gewesen.«

»Ich bin Lehrerin in einer Schule gewesen, und nächstens nehme ich wieder eine solche Stelle an.«

»So? ich hoffte, Sie blieben jetzt bei Ihren Freunden, die ja alle hier in der Nähe wohnen.«

»O, ich muß fort!« sagte Gretchen ernst und sah Doktor Kenn mit einem so vertrauenden Blick an, als hätte sie ihm in diesen drei Worten ihre ganze Geschichte erzählt. Es war einer von den Augenblicken schweigenden Geständnisses, wie sie bisweilen bei der flüchtigsten Begegnung vorfallen, bei dem kürzesten Zusammenreisen vielleicht, oder bei flüchtiger Rast am Wege. Das sind denn Worte oder Blicke von Fremden zu Fremden, welche das Gefühl menschlicher Verbrüderung lebendig halten.

Doktor Kenn merkte auf alle Zeichen, welche dieser kurzen vertraulichen Mittheilung Gretchen's tiefere Bedeutung gaben.

»Ich verstehe«, sagte er. »Sie erkennen es für Recht fortzugehen. Aber wir treffen uns doch hoffentlich wieder, und ich werde Sie noch näher kennen lernen, wenn ich Ihnen irgend nützlich sein kann.«

Er reichte ihr die Hand, drückte die ihrige freundlich und ging weiter.

»Sie trägt Herzeleid«, dachte er. »Das arme Kind! sie sieht aus als wäre sie eine von den Seelen

Die von Natur zu hoch gestimmt,
Vom Leid zu tief gebeugt.

Es liegt etwas wunderbar ehrliches in diesen schönen Augen.«

Es mag überraschend scheinen, daß Gretchen, unter deren vielen Mängeln eine übertriebene Freude an fremder Bewunderung und der Anerkennung ihrer Ueberlegenheit jetzt so wenig fehlte, wie damals, als sie die Zigeuner belehrte und sich damit zu ihrer Königin aufzuschwingen meinte, – daß Gretchen am heutigen Tage nicht aufgeregter war, wo sie die Huldigung so vieler Blicke und Worte empfangen und dazu noch die Genugthuung gehabt hatte, daß Lucie sie vor den großen Spiegel führte und sich an dem vollen Anblick ihrer prachtvollen Gestalt, welche die Nacht ihres üppigen Haares krönte, erfreuen ließ. In dem Augenblicke hatte Gretchen sich selbst angelächelt und im Gefühl ihrer eigenen Schönheit alles andere vergessen. Hätte dieser Seelenzustand dauern können, so wäre ihr einziger Wunsch gewesen, Stephan Guest zu ihren Füßen zu sehen und sich von ihm ein Leben voll Behaglichkeit, voll täglicher Verehrung von nah und fern, mit allen Bildungsmitteln ausgestattet, bereiten zu lassen. Aber es gab stärkere Mächte in ihrem Innern als die Eitelkeit; da lebte Leidenschaft und Zärtlichkeit und lange tiefe Erinnerung an frühe Zucht und Beschränkung, an frühe Ansprüche auf Liebe und Mitleid, und der Strom der Eitelkeit verlor sich bald unmerklich in die breitere Strömung, die unter der doppelten Gewalt der Ereignisse und der innern Aufregung, welche in der letzten Woche über sie gekommen, heute ihren Höhepunkt erreicht hatte. Von der sicheren Einwilligung seines Vaters hatte Philipp ihr selbst nichts gesagt, weil er das nicht mochte, aber er hatte alles Lucien anvertraut, in der Hoffnung, Gretchen würde es von ihr erfahren und ihm dann ein freundliches Zeichen geben, wie glücklich sie diese günstige Wendung des Schicksals mache. Als Lucie mit einem Gesicht, welches die süßeste Freude athmete, als wäre sie einer von Correggio's Engeln, ihr die frohe Botschaft verkündete, war der Andrang der widerstreitenden Empfindungen für Gretchen zu groß, als daß sie viel hätte sagen können, und es überraschte Lucie kaum, daß sie fast nur vor Freude weinte, weil nun ihres Vaters Wunsch in Erfüllung ging und Tom zum Lohne für seine schwere Arbeit die Mühle wiederbekäme. Dann hatten die vielen Vorbereitungen für den Bazar Lucien die nächsten paar Tage in Anspruch genommen, und die beiden Cousinen hatten über tiefer gehende Fragen nicht mit einander gesprochen. Philipp war mehrmals zum Besuch gekommen, aber Gretchen hatte ihn nie allein gesehn und mußte so den Streit in ihrem Innern ganz allein auskämpfen.

Aber als der Bazar nun glücklich zu Ende war und die Cousinen wieder allein zu Haus saßen, sagte Lucie:

»Uebermorgen darfst Du noch nicht zu Tante Moß, Gretchen; schreib ihr ein paar Zeilen, Du schöbest den Besuch auf meinen Wunsch noch etwas auf. Sie nimmt's nicht übel; Du kannst sie ja noch immer besuchen, und ich möchte Dich grade jetzt nicht entbehren.«

»Doch, liebes Kind, ich muß zu ihr, ich kann's nicht länger verschieben; Tante Margret möcht' ich um alles in der Welt nicht vorbeigehen. Und ich hab' nur noch wenig Zeit, denn am fünfundzwanzigsten Juni trete ich meine neue Stelle an.«

»Gretchen!« rief Lucie und wurde blaß vor Erstaunen.

»Ich habe Dir noch nichts davon gesagt«, fuhr Gretchen mit großer Anstrengung fort, »weil Du zu viel zu thun hattest. Aber vor einiger Zeit habe ich an unsere alte Gouvernante geschrieben, ob sie wohl eine passende Stelle für mich wüßte, und kürzlich hat sie mir geantwortet, ich könnte drei Schülerinnen von ihr während der Ferien in ein Seebad begleiten, und dann bei ihr zur Probe als Lehrerin eintreten. Gestern habe ich ihr geschrieben, daß ich das Anerbieten annehme.«

Lucie fühlte sich so gekränkt, daß sie eine Zeit lang völlig unfähig war zu sprechen.

»Gretchen!« sagte sie endlich, »wie unfreundlich ist das von Dir – mir nichts zu sagen – über einen solchen Schritt – – und noch dazu grade jetzt!« Sie hielt ein wenig inne und fuhr dann fort: »Und Philipp? Ich dachte, jetzt mache sich ja alles so glücklich. Gretchen, was hast Du denn für Gründe? Gieb die Stelle wieder auf. Laß mich für Dich schreiben. Nun giebt's ja nichts mehr, was Dich und Philipp trennt.«

»Doch«, sagte Gretchen mit matter Stimme. »Tom's Gefühl läßt es nicht zu. Er sagte mir, wenn ich Philipp heirathete, müsse ich ihn aufgeben. Und ich weiß, er ändert sich nicht – wenigstens so bald nicht – wenn ihn nicht ganz was besonderes umstimmt.«

»Aber ich werde mit ihm sprechen; in den nächsten Tagen kommt er zurück. Und die gute Nachricht wegen der Mühle wird ihn schon anderes Sinnes machen. Und ich will über Philipp mit ihm sprechen. Gegen mich ist Tom immer sehr gefällig; ich glaube nicht, daß er so hartnäckig ist.«

»Aber ich muß fort«, sagte Gretchen traurig. »Ich muß erst einige Zeit vorüber lassen. Dringe nicht weiter in mich, liebe Lucie.«

Lucie schwieg einige Minuten, wandte sich ab und überlegte. Endlich kniete sie neben ihrer Cousine nieder, blickte ernst und besorgt zu ihr auf und sagte:

»Gretchen, liebst Du Philipp vielleicht nicht genug, um ihn zu heirathen? Ist das der Grund? sag' mir's – vertraue mir!«

Schweigend hielt Gretchen Luciens Hände eine Zeit lang fest umschlungen. Ihre eigenen Hände waren ganz kalt. Aber als sie sprach, war ihre Stimme klar und fest.

»Ja, Lucie, ich könnte ihn heirathen. Ihm das Leben glücklich zu machen, wäre für mich das beste und schönste Loos. Er war der erste, der mich lieb hatte. Kein andrer könnte mir das sein, was er mir ist. Aber ich kann mich nicht von meinem Bruder für's Leben trennen. Ich muß fort und warten. Bitte, sprich mir nicht wieder davon.«

Betrübt und erstaunt gehorchte Lucie. Sie sagte nur noch:

»Nun, liebes Gretchen, wenigstens wirst Du doch morgen zu Guest's auf den Ball gehen und Musik hören und Dich amüsiren, ehe Du diese langweiligen pflichtschuldigen Visiten antrittst. Aha, da kommt Tantchen mit dem Thee.«


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