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In der Aufregung, welche die ersten Schläge des Schicksals begleitet, liegt etwas kräftigendes, grade wie ein stechender Schmerz uns oft aufstachelt und eine Erregung hervorbringt, welche vorübergehende Stärke ist. Erst in dem langsamen, veränderten Leben, welches dann kommt, erst wenn das Leid wie abgestanden ist und nicht mehr durch Tiefe und Stärke den Schmerz aufwiegt, erst wenn ein Tag auf den andern in der »langweiligen Dasselbigkeit des Daseins« folgt, in der man nichts mehr hofft und das Dulden zu einer traurigen Gewohnheit geworden ist, – erst dann droht Verzweiflung, erst dann macht sich gebietrisch der Hunger der Seele fühlbar, und Auge und Ohr sehnen sich nach einem unbekannten Geheimniß unsrer Existenz, wodurch unsere Geduld im Leiden in Zufriedenheit verwandelt werde.
Diese Zeit der höchsten Bedürftigkeit war für Gretchen in der kurzen Spanne ihres dreizehnjährigen Lebens nun schon gekommen. Mit der gewöhnlichen Frühreife eines Mädchens vereinigte sie jene frühe Bekanntschaft mit geistigen Kämpfen, mit dem Gegensätze des inneren Triebes und der Außenwelt, welche das Loos phantasiereicher und leidenschaftlicher Naturen ist, und die Zeit, seit sie auf der Bodenkammer die Nägel in ihren hölzernen Fetisch eingeschlagen hatte, war von einem so bewegten Leben in der dreifachen Welt der Wirklichkeit, der Bücher und der wachen Träume erfüllt gewesen, daß Gretchen für ihre Jahre in jeder Beziehung merkwürdig alt war, nur nicht in dem vollständigen Mangel an der Weltklugheit und Selbstbeherrschung, welche Tom zu einem Manne machten, obschon er geistig noch so ganz Knabe war. Und jetzt fing ihr Schicksal an, eine ruhige traurige Einförmigkeit anzunehmen, in der sie mehr als je auf ihr inneres Selbst angewiesen war. Ihr Vater war wieder im Stande, sich um sein Geschäft zu bekümmern, seine Angelegenheiten waren geordnet, und er wirthschaftete in seiner alten Heimath als Wakem's Geschäftsführer. Tom ging jeden Morgen nach der Stadt und kam gegen Abend heim; in den kurzen Zwischenstunden, die er zu Hause war, wurde er immer schweigsamer; was gab's auch zu reden? Ein Tag war wie der andere, und da ihm jedes andere Interesse in der Welt abgeschnitten war, so warf sich sein ganzes Dichten und Trachten auf einen ehrgeizigen Widerstand gegen das Unglück. Die Eigenthümlichkeiten seines Vaters und seiner Mutter waren ihm jetzt sehr zuwider, da sie nicht mehr in dem milden Lichte einer behaglichen glücklichen Häuslichkeit erschienen. Denn Tom hatte sehr klare prosaische Augen, die nicht leicht durch einen Nebel von Gefühl oder Phantasie getrübt wurden. Die arme Frau Tulliver konnte, wie es schien, garnicht wieder zu sich selbst, d. h. zu ihrer ruhigen Thätigkeit im Hause kommen. Wie wäre das auch möglich gewesen? Alles war ja fort, wozwischen ihre Seele sich friedlich bewegt hatte; alle die kleinen Hoffnungen und Pläne und Entwürfe, alle die angenehmen kleinen Sorgen um ihre Schätze, durch die seit einem Vierteljahrhundert, wo sie ihren ersten Ankauf – bestehend in der Zuckerzange – gemacht hatte, ihr diese Welt allein verständlich geworden war, – das war ihr nun alles plötzlich entrissen, und sie stand ganz verwirrt in diesem leeren Leben. Warum grade ihr das zugestoßen sei, was andern Frauen nicht zustieß, das blieb eine unlösbare Frage, durch die sie ihre beständige nachdenkliche Vergleichung der Vergangenheit mit der Gegenwart ausdrückte. Es war ein kläglicher Anblick, wie die früher so behaglich wohlbeleibte Frau aus körperlicher sowohl als geistiger Ruhelosigkeit sich immer mehr abzehrte, – eine Ruhelosigkeit, die sie oft nach gethaner Arbeit in dem leeren Hause umhertrieb, bis Gretchen sich besorgt nach ihr umsah und sie in's Wohnzimmer nöthigte, indem sie ihr vorhielt, wie sich Tom darüber gräme, daß sie durch die ewige Unruhe ihrer Gesundheit schade. Aber bei dieser Hülflosigkeit und Unfähigkeit zeigte sich ein rührender Zug von demüthiger mütterlicher Aufopferung, der Gretchen mit wahrhafter Zärtlichkeit gegen ihre Mutter erfüllte und den kleinen ermüdenden Aerger übersehen ließ, den ihre Geistesschwäche verursachte. Sie wollte Gretchen keine grobe Arbeit thun lassen, von der die Hände verdarben, und wurde ganz verdrießlich, wenn Gretchen Miene machte, sie beim Putzen oder Scheuern abzulösen. »Laß das bleiben«, sagte sie dann; »Deine Hände werden sonst so hart und rauh; solche Arbeit ist meine Sache. Nähen kann ich nicht mehr, dazu sind meine Augen zu schwach.« Auch bürstete und flocht sie ihrer Tochter noch immer das Haar, welches sich zwar auch jetzt noch nicht kräuseln wollte, aber doch so lang und stark war, daß sie sich damit ausgesöhnt hatte. Gretchen war nicht grade ihr Liebling und wäre – so meinte die Mutter – im allgemeinen viel besser gewesen, wenn sie ganz anders gewesen wäre, aber doch fand ihr weibliches Gemüth, dem das Schicksal seine kleinen persönlichen Freuden so bös gestört hatte, in dem Leben dieses jungen Dinges eine Zukunft und einen Ruhepunkt, und sie gefiel sich darin, ihre eigenen Hände anzustrengen und die jungen Hände zu schonen, in denen so viel mehr Leben war.
Aber die fortdauernde Nähe der Betrübniß und Kopflosigkeit ihrer Mutter war für Gretchen weniger schmerzlich, als die finstre Verschlossenheit und Niedergeschlagenheit des Vaters. So lange die Nachwirkungen des Schlaganfalls dauerten und es noch ungewiß war, ob er nicht immer in dem Zustande kindischer Hülflosigkeit bleiben würde, so lange er erst zum halben Bewußtsein seines Jammers erwacht war, hatte sich Gretchen von der mächtigen Strömung ihrer erbarmenden Liebe forttragen lassen, wie von einer höheren Eingebung, wie von einer neuen Kraft, die ihr das schwerste Loos leicht machen würde um seinetwillen, aber jetzt war statt kindischer Hülflosigkeit eine schweigsame Verbissenheit über ihn gekommen, die mit seiner alten fast zu lebhaften Redseligkeit und frischem Lebensmuth seltsam kontrastirte, und dies währte nun von Tag zu Tag und von Woche zu Woche, und das trübe Auge leuchtete niemals auf, von keiner Freude und keinem eifrigen Verlangen. Es hat etwas grausam Unbegreifliches für junge Naturen, dieser ewig gleichförmig düstre Ernst älterer Leute, deren Leben in Enttäuschung und Unzufriedenheit geendet hat, und auf deren Antlitz nun das Lächeln ein so seltener Gast ist, daß die traurigen Linien um Mund und Auge es kaum zu bemerken scheinen und es wieder davon eilt, weil es keinen Willkomm findet. »Warum leben sie nicht mal auf und sind ein bischen lustig?« fragte die Elastizität der Jugend; »es wäre doch so leicht, sie brauchten blos zu wollen«. Und diese bleiernen Wolken, die sich nie verziehen, machen leicht selbst die kindliche Liebe ungeduldig, die bei wirklich greifbarem Unglück in lauter Zärtlichkeit und Mitleid sich ergießt.
Tulliver war möglichst wenig außer dem Hause; vom Markte eilte er sogleich wieder zurück und schlug alle Einladungen aus, bei seinen Geschäftsfreunden etwas zu verweilen und zu plaudern wie früher. Er konnte sich in sein Schicksal nicht finden; es gab keine Lage, wo sein Stolz sich nicht verletzt fühlte, und wie sich die Leute auch gegen ihn benehmen mochten, herzlich oder kühl, er fand jedesmal eine Anspielung auf den Wechsel in seinen Verhältnissen. Selbst die Tage, wo Wakem nach der Mühle kam und über das Geschäft mit ihm sprach, waren ihm nicht so widerwärtig wie die Markttage, wo er bisweilen einige Gläubiger traf, mit denen er akkordirt hatte. Zur Befriedigung dieser Gläubiger Geld zu sparen, war jetzt das Ziel, auf welches alle seine Gedanken und Anstrengungen sich richteten, und unter dem Einflusse dieses gebieterischen Verlangens seiner Natur wurde der etwas verschwenderische Mann, der es sonst nicht hatte ausstehen können, wenn es im Hause nicht durchaus reichlich herging, allmälich zu dem geizigsten Knauser. Am Essen und an der Feuerung konnte ihm seine Frau nie genug sparen, und er selbst wollte nie etwas genießen als die allergewöhnlichste Kost.
Von dem mürrischen Wesen des Vaters und dem traurigen Leben im Hause fühlte sich Tom freilich sehr zurückgestoßen, aber über die Abzahlung der Gläubiger dachte er durchaus wie der Vater, und seinen Gehalt für das erste Vierteljahr brachte der arme Junge mit dem köstlichen Bewußtsein einer großen That mit nach Hause, und gab das Geld seinem Vater, damit er es in die Blechbüchse stecke, worin die Ersparnisse aufbewahrt wurden. Der kleine Vorrath von Goldstücken in dieser Blechbüchse schien der einzige Anblick, der einen Freudenschimmer auf des Vaters Gesicht rief, aber der Schimmer war nur matt und ging rasch vorüber, denn der Gedanke vertrieb ihn, es werde noch eine lange Zeit – vielleicht länger als sein Leben – vergehen, ehe die kleinen Ersparnisse den schlimmen Schuldposten deckten. Eine Schuld von über fünfhundert Pfund, noch dazu mit den wachsenden Zinsen, das war ein zu tiefes Loch, um es mit den Ersparnissen von dreißig Schilling die Woche zu füllen, selbst wenn Tom's voraussichtliche Ersparnisse noch hinzukamen. In dieser einen Frage herrschte vollkommene Uebereinstimmung zwischen den vier so ganz verschiedenen Wesen, welche um das kleine Feuer von Reisholz saßen, womit sie sich kurz vor Schlafengehen eine billige Heizung verschafften. Frau Tulliver lag die stolze Rechtschaffenheit der Dodsons im Blut; sie war in dem Glauben erzogen, Leute um ihr Geld zu bringen sei eine Art von moralischem Schandpfahl; in ihren Augen wäre es daher gradezu schlecht gewesen, wenn sie sich dem Wunsche ihres Mannes widersetzt hätte. Dabei hegte sie die unbestimmte Hoffnung, wenn die Gläubiger alle bezahlt wären, so müsse sie ihr Silberzeug und Leinen wieder bekommen, aber sie hatte zugleich die angeborne Ueberzeugung, so lange jemand Geld schuldig sei, das er nicht bezahlen könne, habe er kein Recht, irgend etwas sein eigen zu nennen. Sie murrte ein wenig darüber, daß ihr Mann sich schlechterdings weigerte, von seiner Schwester und seinem Schwager irgend Geld zu nehmen, aber allen seinen Forderungen in Bezug auf Sparsamkeit im Hause fügte sie sich so vollständig, daß sie sich selbst die billigsten Leckereien versagte, und ihre Widersetzlichkeit beschränkte sich darauf, daß sie dann und wann etwas in die Küche schmuggelte, um für Tom ein besseres Abendessen zu machen.
Bei dieser engherzigen Auffassung der altfränkischen Tullivers über das Schuldenbezahlen lächelt vielleicht mancher Leser in dieser Zeit der großartigen kaufmännischen Begriffe und der großartigen Weltanschauung, wonach alles in der Welt von selbst zurecht kommt, ohne daß wir uns zu quälen brauchen, und wonach die Thatsache, daß mein Schneider an mir Geld verliert, vom Standpunkte der angenehmen Gewißheit angesehen werden muß, daß der Schneider von jemand anders an jemand anders Geld gewinnt, und wonach es endlich, da es mal schlechte Schulden in der Welt geben muß, reiner Egoismus von uns wäre, wenn grade wir sie nicht gern machten, sondern lieber von unsern Mitbürgern machen ließen.
Bei all seiner trüben Schwermuth und engherzigen Verbissenheit hegte Tulliver gegen sein kleines Mädel noch immer das alte Gefühl, und ihre Nähe war ihm Bedürfniß, obschon sie nicht hinreichte, ihn aufzuheitern. Noch immer war sie das Verlangen seiner Augen, aber der süße Born väterlicher Liebe war ihm verbittert wie alles auf der Welt. Wenn Gretchen des Abends mit der Arbeit aufhörte, pflegte sie sich auf einen kleinen Schemel neben ihren Vater zu setzen und den Kopf auf seine Knie zu legen. Wie hätte sie gewünscht, er möchte ihr das Haar streicheln oder sonst ein Zeichen geben, daß es ihn freue, eine liebevolle Tochter zu haben! Aber ihre kleinen Liebkosungen wurden ihr nicht erwiedert, weder vom Vater noch vom Bruder, den beiden Idolen ihres Lebens. In den wenigen Stunden, die er im Hause zubrachte, war Tom müde und zerstreut, und für den Vater war es ein bittrer Gedanke, daß das Mädchen heranwuchs und bald zur vollen Jungfrau erblühen würde, und mit was für Aussichten?! An's Heirathen war kaum zu denken, dazu waren sie zu weit herunter gekommen, und gradezu verhaßt war ihm der Gedanke, daß sie sich so arm verheirathe, wie seine Schwester Margret; wenn sein kleines Mädel durch Kinder und Arbeit so herunterkäme, wie ihre Tante Moß – darüber hätte er sich im Grabe umdrehen können. Wenn ungebildete auf einen kleinen Kreis persönlicher Erlebnisse beschränkte Leute unter dem Druck beständigen Unglücks stehen, so wird ihr inneres Leben leicht zu einem sich immerfort wiederholenden Kreislauf trüber und bittrer Gedanken; dieselben Worte, dieselben Scenen werden immer und immer wieder durchgemacht, ihre Stimmung bleibt ewig dieselbe, und das Ende des Jahres findet sie ziemlich so wieder wie sie der Anfang traf, grade als wären sie Maschinen, die auf eine ganz bestimmte Reihe von Bewegungen eingerichtet sind.
Nur wenige Besuche unterbrachen die Einförmigkeit dieses Lebens. Die Onkel und Tanten sprachen immer nur auf kurze Zeit vor; zu den Mahlzeiten blieben sie natürlich nie, und das grimmige Stillschweigen Tulliver's, welches den hohlen Wiederhall des leeren Zimmers bei dem Geschwätz der Tanten erst recht fühlbar machte, legte dem Verhältniß einen weitern Zwang an und erhöhte die Unannehmlichkeit dieser Familienbesuche für alle Betheiligten so sehr, daß sie allmälich immer seltener wurden. Und andre Bekanntschaften – nun, heruntergekommene Leute umgiebt eine kalte Atmosphäre, und man ist froh, wenn man von ihnen geht, als käme man aus einem kalten Zimmer; menschliche Wesen, bloße Männer und Frauen, ohne alle Möbel, die einem nicht das geringste vorsetzen können, die garnicht mehr mitzählen, bieten einen wahren Reichthum von Gründen, weshalb man sie nicht mehr zu sehen wünscht, und von Gegenständen, über die man nicht mit ihnen sprechen darf.