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Sechstes Buch.
Die große Versuchung

Erster Abschnitt.
Ein Duett im Paradiese

Das hübsch meublirte Gesellschaftszimmer mit dem offenen großen Flügel und der hübschen Aussicht auf einen sanft geneigten Garten bis zum Fluß hin, gehört Herrn Deane. Das niedliche junge Fräulein in Trauer, der die hellbraunen Locken über die bunte Stickerei fallen, an der sie grade arbeitet, ist natürlich Lucie Deane, und der hübsche junge Mann, der sich auf seinem Stuhl vornüber beugt, um dem Schooßhündchen, welches der jungen Dame zu Füßen liegt, mit der Scheere in sein äußerst verkürztes Gesicht zu schnappen, ist kein andrer als Stephan Guest, dessen Diamantring, feiner Rosenduft und behagliche Faullenzerei um zwölf Uhr Mittags der anmuthige und duftige Ertrag der größten Oelmühle und der bedeutendsten Werft in St. Ogg sind. Was er mit der Scheere treibt, sieht sehr gewöhnlich aus, aber wir klugen Leute merken sofort, daß hinter dieser Beschäftigung etwas steckt, was sie eines ausgewachsenen Menschen mit einem großen Kopfe durchaus würdig macht; Lucie gebraucht nämlich die Scheere, und so ungern sie's thut, endlich muß sie ihre Locken zurückwerfen, die sanften nußbraunen Augen aufschlagen, freundlich dem Gesichte zulächeln, welches sich fast so tief herabgebeugt hat wie ihr Knie, muß die kleine rosige Hand ausstrecken und sagen:

»Bitte, meine Scheere, wenn Sie auf das große Vergnügen verzichten können, die arme kleine Minni zu ärgern.«

Die dumme Scheere ist zu weit über die Knöchel gerutscht, und Herkules hält ihr verzweifelt seine gefangenen Finger hin.

»Die unselige Scheere! sie hat sich ganz verdreht. Bitte, ziehen Sie sie mir herunter.«

»Ziehen Sie sie doch selbst mit Ihrer andern Hand herunter«, sagt Fräulein Lucie schelmisch.

»Mit der linken Hand! ich bin nicht links«. Lucie lacht und zieht mit ihren feinen Fingern die Scheere so zart herunter, daß Herr Stephan natürlich eine Wiederholung wünscht. Er paßt daher genau auf, ob die Scheere nicht wieder frei wird, damit er sie wieder an sich nehmen kann.

»Nein, nein«, sagte Lucie und steckte sie in's Futteral; »meine Scheere bekommen Sie nicht wieder. Sie haben sie so schon verdorben. Nun lassen Sie aber Minni hübsch in Ruhe. Sitzen Sie still und benehmen Sie sich anständig, dann sage ich Ihnen auch was neues.«

»Was mag das sein!« sagte Stephan, warf sich im Stuhl zurück und hielt den rechten Arm über die Lehne. Er saß da, als wenn er sich malen lassen wollte, und das soll ihm denn auch werden: ein stattlicher junger Mann von fünfundzwanzig Jahren mit einer breiten tüchtigen Stirn, kurzem dunkelbraunen Haar, welches gerade in die Höhe stand und sich an den Spitzen etwas kräuselte wie ein dichtes Aehrenfeld, und mit einem halb stechenden, halb spöttischen Blick unter seinen stark markirten geraden Augenbrauen.

»Ist's was wichtiges?« fragte er.

»Ja, sehr wichtig. Rathen Sie mal.«

»Sie werden Minni auf eine andere Diät setzen wollen und ihr alle Tage einen Fingerhut voll Liqueur in ihren Eßlöffel voll Sahne geben.«

»Völlig falsch.«

»Nun, dann hat Doktor Kenn gegen die Reifröcke gepredigt, und die Damen haben ihm eine gemeinsame Beschwerde gegen seine Grausamkeit zugeschickt.«

»Wie schändlich!« sagte Lucie und verzog ernsthaft den Mund, »'s ist nicht gerade scharfsinnig, daß Sie nicht rathen können, wovon ich spreche; erst ganz kürzlich hab' ich's Ihnen gesagt.«

»Aber Sie haben mir kürzlich so vielerlei gesagt. Verlangt Ihre weibliche Tyrannei, daß ich das alles behalten soll und sofort rathen, welches von diesen vielerlei Dingen Sie gerade jetzt meinen?«

»Ja so, ich weiß ja, Sie finden mich albern.«

»Ich finde Sie wahrhaft bezaubernd.«

»Und meine Albernheit gehört vielleicht so mit dazu?«

»Das hab' ich nicht gesagt.«

»Aber ich weiß, für Sie dürfen die Frauen nicht zu gescheut sein. Philipp Wakem hat Sie verrathen; er sagte es mir mal, als Sie nicht hier waren.«

»Ja ja, Philipp ist ganz wild in diesem Stück; er nimmt's förmlich persönlich. Ich glaube beinahe, der arme Junge ist verliebt in irgend eine schöne Unbekannte, so'ne stolze Beatrice, die er auf seinen Reisen getroffen hat.«

»Apropos«, sagte Lucie und blickte von der Arbeit auf, »da fällt mir ein, daß ich noch garnicht weiß, ob Cousine Gretchen auch soviel gegen Philipp hat wie ihr Bruder. Tom geht nie in ein Zimmer, wo er mit Philipp zusammen trifft; vielleicht ist Gretchen auch so, und dann können wir nie zusammen singen.«

»Wie! Ihre Cousine kommt zum Besuch her?« fragte Stephan einigermaßen verdrießlich.

»Jawohl, das ist das Neue, was ich Ihnen sagen wollte. Sie giebt ihre Stelle auf, wo sie die zwei Jahre seit ihres Vaters Tode gewesen ist, das arme Ding, und sie bleibt ein oder zwei Monate bei uns – wenn's nach mir ginge, viele, viele Monate.«

»Und über die Nachricht soll ich mich freuen?«

»O nein, durchaus nicht«, erwiderte Lucie etwas gereizt. »Ich freue mich, aber das ist natürlich für Sie kein Grund, sich auch zu freuen. Gretchen ist meine liebste Freundin auf der ganzen Welt.«

»Und wenn sie erst hier ist, dann werden Sie beide ganz unzertrennlich sein, und ich sehe Sie dann nie mehr unter vier Augen, wenn wir nicht einen Verehrer für Ihre Cousine auftreiben, der sich bisweilen mit ihr zusammen thut. Was hat sie gegen Philipp? der hätte uns sonst helfen können.«

»Die beiden Väter haben Streit mit einander gehabt. Ich glaube, es war eine recht peinliche Geschichte. Ich hab' sie nie recht verstanden und vielleicht nicht mal ganz gehört. Onkel Tulliver hatte viel Unglück und verlor sein ganzes Vermögen, und ich glaube, er gab Philipps Vater die Schuld. Der alte Wakem kaufte die rothe Mühle, das alte Besitzthum meines Onkels. Sie erinnern sich doch an Onkel Tulliver?«

»Nein«, erwiderte Stephan mit souverainer Gleichgültigkeit. »Ich mag ihn wohl gesehen haben und habe auch den Namen wohl gehört, aber mir geht's bei allen Leuten hier in der Gegend so; bei dem einen kenne ich das Gesicht, bei dem andern den Namen, und in den wenigsten Fällen kommen beide zusammen.«

»Er war ein sehr jähzorniger Mann. Ich erinnere mich noch, wenn ich als kleines Mädchen dort zum Besuch war, dann machte er mich immer bange, indem er that als wäre er böse. Papa hat mir erzählt, Onkel habe den Tag vor seinem Tode einen fürchterlichen Streit mit Wakem gehabt, aber die Geschichte wurde beigelegt. Sie waren damals in London. Papa meint, Onkel habe in vielen Stücken Unrecht gehabt; er war so sehr verbittert. Aber für Tom und Gretchen ist's natürlich sehr peinlich, wenn sie an so etwas erinnert werden. 's ist ihnen ja so schlecht gegangen – so sehr schlecht! Vor sechs Jahren war Gretchen mit mir in einer Schule; da mußte sie nach Haus, weil ihr Vater in Noth war, und seitdem hat sie wohl nicht mehr erfahren was Freude ist. Seit Onkels Tode hat sie eine dürftige Stelle als Lehrerin gehabt, weil sie unabhängig bleiben will und nicht bei Tante Pullet wohnen mag, und ich konnte sie damals nicht einladen, weil die liebe Mama so krank war und bei uns alles so traurig aussah. Darum kommt sie jetzt her und soll bei mir lange, lange Ferien haben.«

»Sehr liebenswürdig von Ihnen; die reine Engelsgüte!« sagte Stephan und sah sie mit bewunderndem Lächeln an; »um so bewundernswerther, wenn sie so unterhaltend und gesprächig ist wie ihre Mutter.«

»Die arme Tante! 's ist recht grausam von Ihnen, so über sie zu spotten. Mir ist sie doch viel werth. Sie hält das Haus vortrefflich in Ordnung, viel besser als es eine Fremde könnte, und während Mama's Krankheit war sie mir ein rechter Trost.«

»Das mag sein, aber was ihre geselligen Talente angeht, so wär' es besser, sie ließe sich durch ihre eingemachten Kirschen und Rahmkuchen vertreten. Ich denke schon mit Schaudern dran, daß ihre Tochter keinen solchen Ersatz hat, sondern immer in höchsteigener Person auftreten wird – ein dickes, blondes Mädchen, das uns aus seinen runden, blauen Augen immer schweigend anstarrt.«

Lucie lachte schelmisch, schlug die Hände zusammen und rief: »Ja wirklich, das ist Gretchen, wie sie leibt und lebt. Sie müssen sie schon gesehen haben.«

»Nie im Leben; ich vermuthe nur, Frau Tulliver ihre Tochter muß so aussehen, und wenn sie uns den Philipp auch noch vertreibt, unsern einzigen Ersatz für einen Tenor, dann ist's doppelt langweilig.«

»Aber hoffentlich ist das nicht der Fall. Sie könnten wohl zu Philipp gehen und ihm sagen, daß Gretchen morgen kommt. Er weiß recht gut, wie Tom gegen ihn gesonnen ist, und vermeidet ihn immer. Er wird daher auch begreifen, wenn Sie ihm sagen, ich ließe ihn bitten, nicht zu kommen, bis ich ihn einlade.«

»Wär's nicht besser, Sie schrieben ein niedliches Billet und gäben's mir mit? Philipp ist sehr empfindlich, wissen Sie; die geringste Kleinigkeit könnte ihn ganz verscheuchen, und es hat Mühe genug gekostet, ihn her zu bringen. Ich kann ihn nie bewegen, mit nach unserm Hause zu kommen; ich glaube, er mag meine Schwestern nicht leiden. Nur Ihrer zauberhaften Berührung gelingt es, sein rauhes Gefieder zu glätten.«

Damit ergriff Stephan die kleine Hand, die eben wieder nach der Stickerei greifen wollte, und berührte sie leise mit den Lippen. Die kleine Lucie fühlte sich ganz stolz und glücklich. Sie und Stephan waren in dem Stadium der Verliebtheit, welches der köstlichste Augenblick der Jugend, die frischeste Blüthezeit der Leidenschaft ist, wo jeder der Liebe des anderen sicher ist ohne eine förmliche Erklärung, wo man sich gegenseitig erräth und das unbedeutendste Wort, die leiseste Bewegung das jugendliche Herz mit zartem und köstlichem Wonnebeben erfüllt.

»Es ist aber wirklich komisch, daß Sie Gretchens Erscheinung und Manieren so genau getroffen haben«, fing die listige Lucie wieder an; »sie hätte doch auch ihrem Bruder ähnlich sehen können, und Tom hat keine runden Augen und thut nichts weniger als die Leute anstarren.«

»O, ich glaube, der gleicht seinem Vater: er scheint mir so stolz wie Lucifer. Uebrigens, ein glänzender Gesellschafter ist er doch auch grade nicht.«

»Ich habe Tom gern. Er hat mir Minni geschenkt als ich Lolo verlor, und Papa hält große Stücke auf ihn; er sagt, Tom hätte ganz vorzügliche Grundsätze. Es war sein Verdienst, daß sein Vater vor dem Tode noch alle Schulden bezahlen konnte.«

»Nun ja, davon habe ich gehört. Neulich sprachen Ihr Vater und meiner nach Tisch mal davon, in einem ihrer endlosen Gespräche über das Geschäft. Sie wollen für den jungen Tulliver was thun, glaube ich; er hat sie vor einem beträchtlichen Verlust bewahrt, indem er einen wahren Teufelsritt gemacht hat, um die Nachricht von der Zahlungseinstellung einer Bank her zu bringen, oder so was. Ich war halb eingeschlafen, als sie sich's erzählten.«

Stephan stand auf, schlenderte nach dem Klavier und sang im Falsett die Arie aus der Schöpfung »Holde Gattin, Dir zur Seite.«

»Kommen Sie«, sagte er, »und singen Sie das mit mir.«

»Wie! Holde Gattin? das paßt ja nicht für Ihre Stimme.«

»Das thut nichts, es paßt für meine Stimmung, und das ist ja, nach Philipp, die Hauptsache beim Singen. Leute mit mittelmäßigen Stimmen sind übrigens fast alle der Ansicht.«

»Philipp hatte neulich mal wieder viel auszusetzen an der Schöpfung«, sagte Lucie und setzte sich an's Klavier; »er sagt, sie sei so zuckersüß und so trügerisch einschmeichelnd, als wäre sie für den Geburtstag irgend eines deutschen Großherzogs geschrieben.«

»Ei was! er ist der gefallene Adam, ein rechter Griesgram. Wir sind Adam und Eva vor dem Fall im Paradiese. Und nun, bitte, das Recitativ; es liegt so'ne gute Moral drin; Sie singen die ganze Pflicht einer Frau her: »Und Dir gehorchen bringt mir Freude, Glück und Ruhm.«

»O nein, ich respektire keinen Adam, der das Tempo so verschleppt wie Sie«, sagte Lucie und fing die Begleitung an.

Sicherlich kann das einzige Liebesverhältniß, welches keine Zweifel noch Befürchtungen trüben, nur das sein, wo die Liebenden zusammen singen können. Wenn die tiefen Töne grade im rechten Augenblicke in den Gesang des Silbersoprans einfallen, wenn Terzen- und Quintenläufe vollkommen harmonisch zusammenklingen, wenn in einer Fuge die beiden Stimmen in reizendem Wechsel sich jagen und haschen, so giebt das ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, bei dem man gern auf jede leidenschaftslose Form der Uebereinstimmung verzichtet. Der Contra-Alt mäkelt nicht am Baß, und der Tenor weiß vorher, daß es ihm den Abend an Stoff zur Unterhaltung mit dem lieblichen Sopran nicht fehlen wird. In der Provinz noch dazu, wo es damals so wenig Musik gab, konnten musikalische Leute kaum umhin, sich in einander zu verlieben. Selbst politische Parteiungen müssen damals unter dem Einfluß der Musik gestanden haben; eine reaktionäre Violine war gewiß in Versuchung, mit einem Cello von der Reformpartei in bedenklicher Weise zu fraternisiren. Im vorliegenden Falle glaubten der vogelstimmige Sopran und der volltönende Baß an ihren Text:

Mit Dir erhöht sich jede Freude,
Mit Dir genieß' ich doppelt sie –

um so mehr als sie ihn sangen.

»Und nun Raphaels große Arie!« sagte Lucie, als sie mit dem Duett fertig waren. »Die mächtigen Thiere gelingen Ihnen vortrefflich.«

»Das klingt schmeichelhaft«, sagte Stephan und sah nach der Uhr. »Wahrhaftig, 's ist fast halb zwei. Das kann ich gerade noch singen.«

Mit bewunderungswürdiger Geläufigkeit sang Stephan die tiefen Töne, in denen der Meister den Tritt der großen Thiere darstellt; dann knöpfte er sich den Rock zu und lächelte von seiner Höhe mit einem halb verliebten, halb patronisirenden Blick zu der kleinen Dame auf dem Klavierstuhl herab. »Adieu, holde Gattin! Mein Glück ist nicht ohn' Ende, ich muß jetzt nach Haus galoppiren; ich habe versprochen, zum zweiten Frühstück da zu sein.«

»Dann können Sie also nicht bei Philipp vorsprechen?! Aber schadet nichts; ich habe schon alles in dem Billet gesagt.«

»Morgen haben Sie wohl mit Ihrer Cousine zu thun, nicht wahr?«

»Ja, wir haben eine kleine Familiengesellschaft. Vetter Tom ißt bei uns, und die arme Tante hat zum ersten Male wieder ihre beiden Kinder bei sich. Es wird sehr hübsch, ich freue mich schon recht darauf.«

»Aber übermorgen darf ich doch kommen?«

»Gewiß! kommen Sie, dann will ich Sie meiner Cousine Gretchen vorstellen; Sie kennen sie freilich eigentlich schon, so genau haben Sie sie geschildert.«

»Nun denn, für heute adieu.« Und nun folgten die leisen Händedrücke und das freundliche Begegnen der Augen, die auf dem Gesichte einer jungen Dame oft ein zartes Erröthen und Lächeln zurücklassen, welches sich nicht sogleich verliert, wenn die Thür zugeht; sie muß erst noch im Zimmer ein wenig auf- und abgehen und kann sich nicht gleich wieder ruhig an ihre Stickerei oder sonst eine sinnige Beschäftigung setzen. Wenigstens bei Lucie war's so, und der Leser wird hoffentlich kein Uebermaaß von Eitelkeit darin finden, daß sie rasch einen Blick in den Spiegel warf, als sie gerade daran vorbeikam. Der Wunsch sich zu überzeugen, daß man in Gesellschaft nicht geradezu scheußlich ausgesehen hat, läßt sich ja auch so deuten, daß er innerhalb der Grenzen einer lobenswerthen wohlwollenden Rücksicht für andere liegt. Und in Luciens Natur lag so viel von diesem Wohlwollen, daß ich gern annehme, auch die kleinen Reste von Selbstsucht seien damit gesättigt gewesen, wie es umgekehrt andere Leute giebt – und der Leser kennt vielleicht einen oder den andern, – bei denen die kleinen Reste von Wohlwollen sehr stark und sehr übel nach Selbstsucht schmecken. Selbst jetzt wo sie im Zimmer auf- und abgeht und ihr junges Herz voll stolzer Freude zittert, weil sie sich von dem angesehensten Mann in ihrer kleinen Welt geliebt weiß, glänzt in den nußbraunen Augen der unverlöschliche Sonnenblick der Güte, in welchem das vorübergehende harmlose Aufflackern persönlicher Eitelkeit ganz verschwimmt, und wenn sie in dem Gedanken an ihren Geliebten glücklich ist, so geschieht's, weil dieser Gedanke sich so leicht mit all den sanften Neigungen und den gutherzigen Gefälligkeiten vereinigt, mit denen sie ihr friedliches Leben ausfüllt. Selbst jetzt wandert ihr Geist in dem raschen Wechsel, welcher zwei Gefühlsströmungen des Menschenherzens gleichzeitig erscheinen läßt, unaufhörlich von ihrem lieben Stephan zu ihrem lieben Gretchen hinüber und zu den Vorbereitungen, die sie zum Empfang im Gastzimmer begonnen hat. Sie will ihr Gretchen empfangen, als käme die vornehmste Dame zum Besuch, und noch besser; ihre besten Bilder und Zeichnungen will sie ihr in's Schlafzimmer hängen und die schönsten Blumen auf den Tisch stellen. Wie wird sich Gretchen darüber freuen! sie mag ja hübsche Sachen so gern leiden. Und die arme Tante Tulliver, aus der sich sonst niemand was macht, soll mit einer ganz wunderbar schönen Haube überrascht und ihre Gesundheit bei Tisch getrunken werden; das will Lucie noch heute Abend mit dem Vater besprechen. Es ist offenbar, sie hat garnicht die Zeit, ihren Liebesträumen nachzuhängen. Mit diesem Gedanken geht sie nach der Thür, bleibt aber stehen, wie sie gerade das Thürschloß berührt.

»Nun, was giebt's denn, Minni?« fragte sie als Antwort auf ein leises Gewinsel des kleinen Thierchens, nahm es auf und legte sich den seidenhaarigen Kopf an die zarte Wange. »Glaubst wohl, ich wollte Dich hierlassen? Komm mit, wir wollen zu Sindbad.«

Sindbad war Luciens kastanienbraunes Pferd, welches sie immer mit eigener Hand fütterte, wenn es draußen im Hofe in seiner Umzäunung war. Sie fütterte gern abhängige Geschöpfe und kannte genau den Geschmack aller Thiere im Hause und hatte ihre Freude daran, wenn ihre Canarienvögel mit den Schnäbeln den frischen Saamen knisperten und wenn die kleinen Kätzchen an zarten Hühnerknochen knabberten.

Hatte nicht Stephan Guest Recht mit seiner Ansicht, dieses schlanke achtzehnjährige Ding sei recht eine Frau zum Heirathen? – dieses Mädchen, welches so liebevoll und besorgt für andere Mädchen war, sie nicht mit Judasküssen empfing, während ihre Blicke stillvergnügt ihre Fehler willkommen hießen, die vielmehr für die halbversteckten Leiden und Kränkungen ihrer Freundinnen ein offnes Auge und einen warmen Sinn hatte, ihnen lange vorher kleine Ueberraschungen bereitete und im voraus sich darauf freute? Möglich, daß seine stärkste Bewunderung nicht grade dieser seltensten Eigenschaft seiner Geliebten galt; möglich daß ihm seine Wahl darum am besten gefiel, weil sie nicht gerade eine Seltenheit ihres Geschlechts war. Eine Frau muß hübsch sein – nun, Lucie war hübsch, aber nicht grade zum Tollwerden. Eine Frau muß fein gebildet, sanftmüthig, zärtlich und nicht dumm sein, – nun, alle diese Eigenschaften hatte Lucie. Stephan war daher nicht überrascht, als er fand, er sei in sie verliebt, und freute sich seines eigenen Urtheils, daß er sie einer vornehmeren Partie vorzog – denn Luciens Vater war doch kein ebenbürtiger Compagnon seines Vaters; – außerdem hatte er bis zu einem gewissen Grade den Widerspruch seines Vaters und seiner Schwestern zu überwinden, und dieser Umstand giebt einem jungen Manne immer ein sehr angenehmes Bewußtsein von Unabhängigkeit und Würde. Stephan erkannte mit Freuden, er habe Verstand und Selbständigkeit genug, unbehindert durch jede andere Rücksicht gerade die Frau zu wählen, die ihn glücklich zu machen versprach. Er wollte Lucie nehmen; sie war ein liebes Herzchen und genau eins von den Mädchen, die er immer am meisten bewundert hatte.


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